Man brauche die Menschenköpfe nicht aufzumachen,
um zu wissen, dass in ihnen nichts anderes als eine
menschliche Katastrophe ist. Thomas Bernhard
Die Erde hat nach Milliarden von Jahren ihrer Existenz ein faszinierendes, kurioses und zwiespältiges Wesen zur Welt gebracht: den Menschen. Eine aufrecht auf zwei Beinen stehende, unsichere und mit schwachen Körperwerkzeugen ausgestattete und damit ein für Leid anfällige Gestalt, die über sensible Fußsohlen, vielseitig taugliche Hände und einen hohen technischen Verstand verfügt. Faszinierend, da der Mensch vielerlei Fertigkeiten auszubilden vermag, und ihm vielfältige Lebensformen und Aufenthaltsorte zur Verfügung stehen. Kurios, da geistige Kräfte ihn befähigen, als Kulturwesen eigene Formen des Daseins zu entwickeln und die Welt als ein sinnvolles Ganzes zu entwerfen. Zwiespältig, da er als Naturwesen und Kulturwesen ein Stück über die Natur hinausgehen und Kultur und Technik hervorbringen kann. Infolge der Doppelrolle hat das Leid des Menschen eine zweifache Wurzel: eine kulturelle und eine naturhafte.
Etymologisch gehören Leid und Leiden nicht zusammen. Leiden kommt von lidan und heißt gehen, fahren und reisen. Leid kommt von laiba und heißt widerwärtig und unangenehm. Das Christentum hat beide Worte zu einer einzigen Bedeutung verknüpft, indem es das menschliche Dasein als Reise (Leiden) mit dem Jammertal (Leid) gleichgesetzt hat. Leiden wird zu Leid, Reisen zu einer widrigen Fahrt, die das Leben ist.
Die naturhafte Seite menschlichen Leids
Leid ist ein der Natur innewohnendes Prinzip. Hunger, Gefahren, Verwundungen, Tod. In seiner Vergleichenden Anatomie hat der Philosoph Arthur Schopenhauer diese Seite des Daseins analysiert. Die Gestalt der Tiere ist Ausdrucks ihres Willens. Der Spezies, nicht des Individuums. Ihm zufolge ist jede Tiergestalt eine von den Umständen hervorgerufene Sehnsucht des Willens zum Leben. Die bis ins Einzelne reichende Angemessenheit jedes Tieres zu seiner Lebensart, den äußeren Mitteln seiner Erhaltung sowie durch die Zweckmäßigkeit in allen Teilen sei Ausdruck eines tätigen Willens, des Prinzipiums der Welt. So ausgestattet und aufeinander abgestimmt treffen die Lebewesen aufeinander. Angreifer mit weitem Blick, starken Muskeln und furchtbarem Gebiß, Flüchtige mit leichten, flinken Beinen und guten Ohren. Zwischen den Tieren besteht eine leidvolle, abhängige Verbindung, denn der „Aufenthaltsort der Beute bestimmt die Gestalt des Verfolgers.“ Die Tierwelt ist auf das Jagen, Beißen, Fassen und Verzehren hin ausgerichtet: „Denn wo ein Lebendes atmet, ist gleich ein anderes gekommen, es zu verschlingen, und ein jedes ist durchweg auf die Vernichtung eines anderen wie abgesehen und berechnet.“ Auch der Mensch stand lange als Kampfglied in dieser Reihe, in der Löwe, Bär, Säbelzahntiger, Krokodil oder Schlange ihm nach dem Leben trachteten, hat aber die Gefahren durch vielerlei Techniken bannen können.
Die kulturelle Seite menschlichen Leids
Leid ist ein der Kultur innewohnendes Prinzip. Es entsteht dadurch, daß die Heranwachsenden durch Verbote und den Erwerb von Fertigkeiten auf das jeweilige Kulturniveau angehoben werden müssen. Je differenzierter eine Kultur, desto größer die Formung, die ihnen abverlangt wird und desto massiver die Forderung nach Einhaltung gesellschaftlicher Regeln. In der Arbeit am Wissen und an der Moral des Menschen, die zur Aufrechterhaltung der Kultur notwendig sind, liegt das systematische Leid durch die Kultur. Wahrnehmbar ist diese Form des Leids immer dann, wenn ein großer Schub an Disziplinarkräften erforderlich ist, wie bei der Einrichtung einer Kultur, einer Religion oder Gemeinschaft. Die Taten des Urhebers solcher Disziplinarkräfte werden dann in einem Mythos festgehalten und weitererzählt. Abraham, Buddha, Christus und Mohammed waren solche Gestalten.
So ausdrücklich wie das Christentum – die praktische, moralische und gedankliche Grundlage des Abendlandes – hat keine Religion Disziplin und Leid zu ihrem systematischen Bezugspunkt gemacht. Der Religionsstifter Christus stiftet der Religion einen Mythos, in dem er am eigenen Leib demonstriert, in welcher Form die Disziplinierung einzuüben ist, die in die Welt getragen werden soll. In seiner Passion konzentriert sich das menschliche Leid, das mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnt und mit der Apokalypse abbricht, dem harschen Ende der Welt, und ihrem statischen Neuanfang. Dazwischen liegen die Sintflut (die Bedrohung der Gattung), das persönliche Leid Hiobs oder die Zerstreuung der Menschheit über die Erde. Das Leid trifft den Menschen durch Gott als Strafe, durch die er die Menschen zur Zivilisierung antreibt. Jesus hat das Leid infolge der Strafe bewußt erduldet, um die Sühne für menschliches Versagen und Vergehen auf sich zu nehmen und die menschliche Seele zu reinigen. Der Körper bleibt den angreifenden Mächten ausgeliefert, da sein Schmerz die Basis aller Disziplinierung und der Weg der Läuterung ist. Wie in den christlichen Klöstern, in denen systematisch ins Leid eingeübt wurde. Der Heilige Bernhard sagte den Novizen beim Eintritt ins Kloster: „Wenn ihr es mit der Frömmigkeit eilig habt, laßt eure Körper draußen.“ Auch in anderen Religionen und Stammeskulturen spielt die Überwindung des Leids durch ein kulturell verordnetes Leid eine zentrale Rolle. Als der indische Prinz Siddharta Gautama von der menschlichen Not und der Vergänglichkeit des Lebens erfährt, ist er so erschüttert, daß er fortan als Asket lebt. In Meditationen erkennt er, daß Schmerz und Leid durch die Metamorphosen von Geburt, Tod und Wiedergeburt – also das Leben selbst – und den Durst auf Leben hervorgerufen werden. Nur in der Erleuchtung, im Nirwana, findet der Mensch Einsicht und selige Ruhe. Erleuchtung ist die Bedingung für die Aufhebung von Leid, sie erfordert aber die Zucht des Körpers in der Versenkung.
Das Leid wird nicht nur durch ein anderes Leid, die Qualen des Körpers, ersetzt, sondern in all den Fällen ist das Prinzip zur Aufhebung des Leids das selbst auferlegte, selbst gewollte, also kontrollierte Leid. Der Transfer von Leid in Leid liegt in der Umwandlung des Leids in Disziplin und Selbstdisziplin. Das zweite Leid ist eine höhere Form des Leids. Eine Form der Erkenntnis.
Sinn des Leids
Leid ist eine den Menschen umgreifende Verfassung. Sie hat hauptsächlich vier Ebenen: die Physis, die Psyche, den Geist und die Sozialität. Alle Ebenen können Urheber für Leid sein. Schmerz – ein Zentralzustand der neuronalen Organisation – ist abhängig von der Befindlichkeit, der Wahrnehmung und der subjektiven Erfahrungen in der Vergangenheit. Deshalb sind Schmerz und Leid komplexe Erlebnisgestalten, keine objektiv feststellbaren Phänomene. Die Formen menschlichen Leids sind vielfältig: Melancholie, Depression und Isolation, Trauer, Angst und Panik, Verstörung, Furcht und Langeweile. Wie der körperliche Schmerz schaffen sich diese Formen ihren eigenen körperlichen Ausdruck. Im großen Leid und in seiner Chronifizierung konzentriert sich der Leidende auf seine Existenznot und wird mit der Frage nach dem Sinn seines Leids konfrontiert und nach dem Wesen seiner Existenz jenseits von Gewohnheit und Altäglichkeit.
Die Lebensform moderner Gesellschaften trägt durch die technisch vermittelte Existenz in sich ein hohes Maß an Leid. Die Menschen leben in großer Distanz zueinander, erwerben ein abstraktes Wissen, das ein trennendes Wissen ist, mit der Folge des schmerzhaften Verlustes der Unmittelbarkeit: Der Preis für das Verdrängte der leidvollen Angst. Da alle Menschen in Beschränkung und Selbstkontrolle eingeübt werden, bleibt das Leid solange verdeckt, bis jemand die verdeckenden Masken und Fassaden auf der Suche nach Wahrheit herunterreißt. Bei Novalis, Schopenhauer und Kierkegaard, bei Beckett, Cioran und Bernhard werden Krankheit, Unruhe und Askese theoretisch reflektiert. Die Krankheit und ihre Nähe zum Tod ist ihnen die Basis von Erkenntnis und Wahrheit. Für Novalis ist der Kranke der Wahrheit näher als der Gesunde, Cioran nennt Gesundheit den Zustand des Nichtempfindens, Thomas Bernhard ist der Kranke der Hellsichtigere.
Thomas Bernhard
Thomas Bernhard ist der Homöopath des Leids. Der Philosoph des Schmerzes, der dem Leid in all seinen Formen unerbittlich nachstellt, es aufspürt und sichtbar macht und dem alltäglichen Leid ein bewußtes Leben im Geist, das auch eine Form des Leids, entgegenstellt.
Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard ist 1931 in Heerlen als uneheliches Kind geboren und 1989 in Österreich gestorben. Er ist ein Streiter, der gegen alles opponiert, sich mit allem und jedem anlegt. Auch mit sich selbst. Die Begriffe, die er verwendet, bilden ein konstantes Gerüst seiner Werke: wie fürchten, hassen, stören, vernichten, entsetzen, ungeheuer, lächlich, Angst. Aber auch Luft, Atem, Beobachten und Ruhe. Er erscheint als Literat der Zersetzung. Man muß deshalb seine Romane, autobiographischen Texte und Theaterstücke genau lesen, um bei soviel destruktiver Kraft ein konstruktives Konzept zu entdecken. Es gibt Leute, die sein Werk als Anstiftung zum Selbstmord lesen.
Kultivierung ist die Einwirkung auf die Atmung. Aus ihr fließt ein Teil des Leids der Menschen. Die Atmung kann, Bernhard zufolge, der 17-jährig an Tuberkulose erkrankte und zeit seines Lebens unter einem schwachen, raschen Atem litt, Leid auch lindern.
Schmerz ist Bernhard zufolge eine zentrale Form des Daseins und eine Form der Erkenntnis. Die Welt ist ihm ungeheuer. Enge, Krieg, Sinnlosigkeit, stumpfsinniges Vegetieren. Alles ist Schmerz, Angst, Verzweiflung. Lebewesen ebenso wie Klima und geographische Formationen sind daraufhin geordnet, sich in einer festgelegten Richtung zu zerstören. Das Wesen der Natur ist Grausamkeit, was sie hervorbringt, Schmerz. Jagen und Gejagtwerden als unablässiger Lebenskampf. Darin folgt er Schopenhauer. In seinem ersten Roman Frost von 1963 spricht er von einer Gegend, die einem fortwährend ins Gesicht schlägt, und von Landstrichen, durch die „auf die Dauer Menschen verrückt werden.“ Auch die bedrängende Landschaft wird bedrängt, unterliegt der Gewalt des Klimas, das „ganzen Gebirgsmassiven ins Gesicht schlägt, daß sie zittern.“ Das Grausame der Natur setzt sich fort in der menschlichen Gesellschaft, indem es in ihren Institutionen befestigt wird. Die sozialen Verhältnisse werden zu Gewaltverhältnissen. Angriffe auf den Körper ereignen sich im Straßenverkehr, in Schulen, in menschlichen Beziehungen.
Schmerz ist das Element, das alle Teile des Universums miteinander verbindet. Kein Gegenstand ist stumm. Alles drückt fortwährend seinen Schmerz aus. Indem Bernhard die Welt radikal und einseitig unter dem Aspekt des Schmerzes faßt, trifft er etwas Wesentliches unserer Existenz: Jenseits der lebensbewältigenden Gewohnheit ist das Dasein ohne Sinn, schmerzvoll, trostlos und absurd. Schmerz ist eine Substanz des Seins.
Die Abwesenheit von Schmerz ist phänomenologisch ein gutes Körpergefühl. In ihm ist auch der Körper abwesend. Erst in der Störung – im Kranksein oder im Schmerz – entwickelt er sich zu einem anwesenden, zu einem Raumkörper. Der Weltbezug wird zum Selbstbezug. Im Roman Verstörung heißt es: „Die Qual ist in meinem Körper wie ein zweiter Körper“.
Geist und Körper sind Schmerzgebäude. Bernhard umkreist beide Entitäten, um sie über den Schmerz zu öffnen und begehbar zu machen. Er schafft Denkraum. Vom Schlagen eines Gedankengangs an die Schädelinnenwand ist die Rede, vom „Untergehörgebälk“ oder davon, daß jemand „in seinen Verzweiflungen hin und her“ geht. Bernhard selbst hat sich den eigenen Körper durch seine Lebensweise bewußt gemacht und ist den verschiedenen Arten und Intensitäten des Schmerzes nahegekommen: dem psychischen und physischen, dem sozialen und geistigen Schmerz. Er tastet den Innenraum des Menschen ab, durchschreitet und erkundet radikal die Bereiche der Existenz des vom Schmerz getroffenen und im Schmerz gefangenen Menschen. Er hat den Schmerz verkörpert und ihn dadurch anschaulich und aufschreibbar gemacht. Seine Protagonisten weichen dem Schmerz nicht aus, sondern bewältigen das Leid, indem sie geistig in das Leiden hineingehen, den Schmerz vertiefen. In der Vertiefung wird der Schmerz erkannt, angenommen und nutzbar.
Die zentrale literarische Figur Bernhards ist der Geistesmensch. In ihm, dem Sucher und Erlöser, hat Bernhard eine Theorie der Relativierung des Leids aufgezeichnet. Geistesmenschen sind Maler, Musiker oder Wissenschaftler, Denker, die sich aus Abscheu von der Gesellschaft abkehren. Alte und kranke Männer, melancholisch, feindselig und verzweifelt, deren Grübeln um die Linderung vom Leid der Existenz kreist. Sie sind genaue Beobachter und machen brillante Analysen über die Gesellschaft und von der Welt. Dem steht ihre Unfähigkeit gegenüber, aus dem Wissen Lebenssinn, der an den Gebrauch der Sinne gebunden ist, zu ziehen, und das Wissen zu vermitteln, da ihnen soziale Beziehungen nichts mehr bedeuten. In ihnen zeigt Bernhard, wie Natur und Kultur am Menschen arbeiten. Wie die Natur ihn grausam und verbrecherisch macht und wie einerseits die Kultur die Natur verstärkt und andererseits der Geistesmensch mit den Kräften der Kultur dem Verhängnis des Daseins entgegenarbeitet. Leidenschaftlich und kompromißlos sucht der Geistesmensch nach Lebenssinn. Er findet ihn nicht und konstruiert ihn deshalb. Er entwirft einen Gegenkosmos, den er nach den Gesetzen des Schmerzes errichtet. Linderung findet er im Alleinsein. Er verabscheut den Massenmenschen ebenso wie das aggressive, stillgestellte moderne Individuum, geht aber selbst noch einen Schritt weiter, indem er bewußt die Prägung durch die Kultur an sich selbst fortsetzt und sein Dasein als radikale Geistesexistenz realisiert.
Krankheit und Leid des Geistesmenschen bilden in den Romanen Bernhards ein festes Gerüst. Wie Verletzungen, kranke Lungen und eine schwache Atmung. Die Nähe zum Tod, die Schwäche der Muskulatur und die Angst infolge von Krankheit wirken zusätzlich hemmend auf die Atmung. Geistesmenschen leiden oft unter der Furcht, ersticken zu müssen. Ihre Krankheit sensibilisiert sie und beflügelt ihren Prozeß der Vergeistigung. Im Roman Verstörung sagt der Fürst Saurau: „Die Krankheiten führen den Menschen am kürzesten zu sich selbst“. Der Kranke ist derjenige, der die Transzendenz der Krankheit besitzt und „tiefer in das Wesen des Lebens einzudringen vermag“, und „über den Tod zu einem höheren Leben“ gelangt. Der Geistesmensch nutzt das Wissen um den Zusammenhang von körperlicher Versehrtheit und höchster Denkkraft zur Überwindung des Leids.
Die Befreiung vom Leid vollzieht sich im Denkbezirk. Denkbezirke sind ungewöhnliche Räume und Gebäudekomplexe. Symbolische Orte und selbstgeweihte Krisenräume: Krankenhäuser etwa, Strafanstalten oder geschützte, der Gesellschaft schwer zugängliche Wohnräume. Räume der Einsamkeit und der Konzentration, letztlich aber jeder beliebige Ort. Der Denkbezirk ist der Kosmos des Geistesmenschen. Hier ordnet er sein Leben, versucht, es zur Ruhe zu bringen, oder ihm eine Wende zu geben. Ein Industrieller im Roman Verstörung hält Kontakt mit der Außenwelt nur noch durch die Post. Er schreibt an einer wissenschaftlichen Arbeit, hält aber die Verbindung zu seinen Unternehmungen. Die Fenster seines Hauses sind verdunkelt, im Arbeitszimmer duldet er nur Tisch, Stuhl und leeres Papier. Zu keiner Zeit will er von der Arbeit abgelenkt sein. Er sagt, „da alle Zimmer in diesem Haus vollkommen leer sind, kann ich in der Finsternis, die in ihm herrscht, an keinen Gegenstand anstoßen“. Auf die Frage eines Landarztes, ob er ihm den Sohn vorstellen dürfe, antwortet er entschieden: „Nein, ich will ihren Sohn nicht sehen. Ein neuer Mensch, ein neues Gesicht, ruiniert mir alles.“ Sitzendes Schreiben, kurze Wege im Haus, die Reduktion der Sinneseindrücke, Zimmerluft, Dunkelheit und die Abschließung von der Natur sind charakteristische Elemente der Existenz im Denkbezirk. Das extreme Geistesleben des Geistesmenschen ist auch ein Leben im Scheitern, denn ihre Geistesschärfe korrespondiert mit dem Mangel an Sinnesaktivität und zunehmender Isolation, „in welcher sie ihr Denken solange denken und intensivieren und alles außerhalb ihres Denkens solange ignorieren, bis sie von dieser Leidenschaft erdrückt und erstickt und vernichtet werden.“
Das Leben im Denkbezirk wird mit dem Objektiv geordnet. Das Objektiv kann als eine einfache Kultur-, Natur- und Gesellschaftstheorie angesehen werden. Der Kalkül der Theorie besteht aus vier Hauptsätzen und zwei Regeln. Die Welt ist eine Kloake. Die Natur ist grausam. Der Mensch ist verzweifelt. Der Mensch ist gemein. Zwei Regeln des Kalküls: „Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist“ und „Die Absurdität ist der einzig mögliche Weg.“ Das Objektiv wird als Mittel zur Überwindung des Leids eingesetzt. Jeder Untersuchung über die Natur und über gesellschaftliche Ereignisse liegen die Sätze des Objektivs zugrunde. Es handelt sich um einen Wahrnehmungsfilter, der die subjektiven Daten zu einem Weltbild objektiviert. Durch ihn hindurch blickt der Geistesmensch auf die Welt, um Daten aufzunehmen, zu ordnen und sichere Aussagen über Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Die Leitsätze des Objektivs bilden einen festen Anker im Strom der Phänomene. So angeschaut ist die Welt immer gleich, einseitig und unbeweglich, aber klar und präzise. Schmerz und Leid sind kalkulierbar. Trotz und wegen dieser Einseitigkeit und Einfachheit ist das Objektiv der Weg in die Erkenntnis. Als die autobiographische Arbeit Die Kälte. Eine Isolation – die etwa so viel Fiktion enthält wie seine Romane Autobiographisches – erschien, schrieb die Münchner Abendzeitung: „Ein Buch, das mit gleißender Genauigkeit Entsetzlichkeiten schildert.“ Schon in den siebziger Jahren bemerkte Ingeborg Bachmann über das Neue in der deutschsprachigen Literatur und die wiedergewonnene Wahrheit bei Bernhard: „In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue. Es ist nicht brauchbar, noch nicht brauchbar, integrierbar auch nicht“, mit Bernhard werde in der „deutschen Sprache wieder die allergrößte Schönheit, Genauigkeit, Art, Geist, Tiefe und Wahrheit geschrieben.“1
Das Prinzip, das die Elemente Geistesmensch, Denkbezirk, Krankheit und Objektiv miteinander verbindet, heißt Atmung. Bernhard hat den Atem als das Prinzip der Disziplinarmächte thematisiert. Die Schule ist es, die auf ihre Beherrschung zielt. Die Beherrschung der Atmung soll Geist und Körper disziplinieren und den Schüler im Zurückhalten von Affekten und Emotionen an die Normen der Kultur heranführen. Sie macht körperliche Vorgänge kontrollierbar und schafft Innenraum für die Konzentration auf geistige Vorgänge, damit der Schüler lernt, sich auf das Verfolgen eines Gedankens, ohne Ablenkung durch andere Sinnesreize, konzentrieren zu können. Bis er die Ordnung eines abstrakten Stoffes erfassen und in ihm logische Operationen durchführen kann. In der Erzählung Am Ortler wird eine extreme Schule vorgestellt: die Atmungsschule. Die einzige, die der Erzähler, ein Wissenschaftler, und sein Bruder, ein Akrobat, akzeptieren. Ihr Lernziel heißt: „Kopf, Denken, Körper durch die Atmung beherrschen“, denn wenn „man die Atmung beherrscht, beherrscht man alles.“ Jeder Tätigkeit, jedem Gefühl und jedem Denken entspricht eine eigene Art des Atmens. Wir beherrschen eine Handlung oder ein Denken erst dann, wenn wir die dazugehörige Atmung ausgebildet haben, was einen langen Prozeß des Übens erfordert. So ist die Atmungsschule zugleich eine Leid steigernde Disziplinarmacht wie eine Institution zur Überwindung des Leids. Der Atem ist grundlegend für das Leben. Wer ihn beherrscht, kontrolliert das Leben. So ist die Arbeit am Atem Manipulation am Leben, die Aufgabe aller Kulturen. Einübung ins Leid und der kleine Tod zu Lebzeiten. Dieses Leid zu überwinden setzt der Geistesmensch die bewußte Ausbildung der Atmung ein, ihre Kultivierung und Übersteigerung. Der Atem reicht hinab in alle vier Ebenen des Leids, in die Psyche, die Physis, den Geist und die Sozialität. Das Kulturatmen, das wir unbewußt praktizieren, aber auch das bewußte Atmen des Geistesmenschen, das Gegenatmen. Das ist Thomas Bernhards subversive, politische Form. Wie das gemeinsame Atmen in der Konspiration, nur eben allein, als ambivalente Variante: als Konspiration für sich allein, zurückgezogen im Denkbezirk.
1 Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, ein Versuch (Entwurf), S. 44, in: Sepp Dreissinger (Hrsg.), Thomas Bernhard, Portraits, Bilder und Texte, Weitra, 1992.
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