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aus: Mies - Sitzen und Liegen, Mies van der Rohe Haus, Berlin 20018 



Setze zwischen Für und Wider nicht deinen Stuhl

Philosophische Überlegungen


 

I.     Die Philosophie

II.    Kritische Selbstbetrachtung – Motive

III.   Mythische Setzung

IV.   Religiöse Setzung

V.     Profane Setzung

VI.   Gegensetzungen

VII.  Unheilige Setzung

VIII. Grundsetzung und Endsetzung

 

 

I. Die Philosophie


Wir werden die Kräfte unter dem Stuhlsitz und ihre Wirkungen betrachten. Wir sollten dabei im Sinn haben, dass es sich nicht um irgendein Objekt handelt, sondern um ein archaisches Ding mit weitreichenden sozialen, politischen, religiösen oder theoretischen Bedeutungen, das zu einer Ikone der modernen Welt geworden ist.

 

Rückblickend erkenne ich in meinem Studium in der Philosophie drei große Stränge: Die Geschichte der Philosophen, die Geschichte der Philosophien und das Philosophieren selbst, das eigene Nachdenken und Meditieren.

 

Philosophieren ist für mich eine kritische Selbstbetrachtung und der Versuch, etwas zu durchschauen: sich selbst, ein Objekt oder ein Ereignis, bis man auf etwas Grundlegendes stößt.

 

 

II. Kritische Selbstbetrachtung – Motive

 

Ich habe zwei unterschiedliche Ausbildungen absolviert. Nach neun Jahren Hauptschule habe ich eine Handwerkerlehre begonnen. Da in der praktischen Ausbildung das Sitzen überhaupt nicht vorkam, sehr extensiv aber in den nachfolgenden Bildungseinrichtungen der Realschule, der Ingenieurschule, dem anschließenden Gymnasium und den Universitäten, habe ich begriffen, dass Bildung und Sitzen eng zusammengehören.

 

Aus einem Fach auf der Ingenieurschule – dem Projektionszeichnen – habe ich eine Methode entwickelt. Durchdringen sich zwei Objekte wie Kugel und Kegel, sind die innen liegenden räumliche Berührungsflächen unsichtbar, lassen sich aber zeichnerisch auf einer Fläche darstellen. Das gelingt nur, wenn man so durch das Objekt hindurchschauen kann, dass man von den Berührungsflächen eine räumliche Vorstellung hat.

 

Lange bevor ich das Sitzen als Thema entdeckte, habe ich in Aachen, in der Straße, in der das Geburtshaus von Mies van der Rohe steht, einige Jahre mit einem Stuhl experimentiert, der für alle Körpergrößen und für alle Körperhaltungen geeignet sein sollte. Doch so unmotiviert, wie dieses Projekt begann, so endete es.

 

Die Wirbelsäule ist bei der Geburt ein gerader, unstrukturierter Stab, der erst allmählich Bandscheiben, Wirbelkörper und das Kreuzbein ausbildet. Das Kreuzbein besteht am Ende seiner Entwicklung aus fünf verknöcherten, unbeweglichen Wirbeln. Bei einem Prozent der Menschen ist der obere Kreuzbeinwirbel, der direkt an die Wirbelsäule angrenzt, beweglich und funktioniert wie die beweglichen Abschnitte der Wirbelsäule. Das ist auch mir der Fall. Da die Eigenschaften und Maßverhältnisse von Becken, Kreuzbein und Wirbelsäule für das Sitzen eine zentrale Rolle spielen, mag das mein viertes Motiv für meine Beschäftigung mit dem Sitzen sein.

 

 

III. Mythische Setzung

 

Sehen wir einmal durch einen Stuhl hindurch. Rückenlehne, Armlehnen, Stuhlbeine und eine Ebene, die Unten und Oben scheidet. Zum Durchschauen geeignet ist das Volumen unter dem Sitz. Zu sehen ist nichts. Ein leerer, vielleicht symbolischer Raum, der, so meine Konstruktion, auf den Ursprung des Sitzens verweist.

 

Eine Göttin aus einem Getreidesilo in Catal Hüyük aus der Zeit um 5800 v. Chr. bietet sich als Bild an. Als Symbol der Fruchtbarkeit sollte sie Einfluss auf künftige Ernten nehmen. Ihre waagerechten Oberschenkel suggerieren, sie würde sitzen. Tatsächlich ruht sie mit dem voluminösen Unterleib auf dem Boden, begleitet von zwei Löwinnen. Dargestellt ist eine Geburtsszene, eine Szene des Schöpfens. Auf ägyptischen Pharaonenthronen sitzen in der Regel Männer: Da sie mit dem Schoß nichts Lebendes hervorbringen, bedürfen sie eines horizontalen Brettes. Auch eine griechische Amphore von 680 v. Chr. zeigt eine Geburtsszene. Zeus sitzt auf dem Thron und gebiert Athene aus seinem Haupt. Dem Mythos nach sind Zeus und Metis zusammen. Als Metis schwanger und Zeus auf Grund eines Gerüchts eifersüchtig wird, verschlingt er sie. Dem Mythos nach müsste sich Metis im Bauch des Zeus befindet. Also oberhalb des Sitzes, doch folgerichtig sehen wir die gebärende Metis unterhalb des Sitzes, dem symbolischen Ort des Gebärens. Das Bild soll zeigen, dass auch Zeus über schöpferische Kräfte verfügt – wenn auch mit dem Kopf.

 

 

IV. Religiöse Setzung

 

Auch das Sitzen im Rahmen des Christentums handelt von Geburt und Schöpfung. Die Geschichte um die Kreuzigung Christi erinnert daran, wie mit Königen vor der Throneinsetzung verfahren wurde. Sie durften beleidigt, angespuckt und geschlagen werden, und nicht selten bestiegen sie verkrüppelt den Thron. Christus widerfährt in seiner Throneinsetzung, der Himmelfahrt, dem Weg auf den himmlischen Thron, dieselbe schmerzhafte Initiation: Dornenkrönung, Auspeitschung und Verspottung.

 

Der Kontext um die Throneinsetzung macht das Kreuz zu einem abstrakten, geistigen Sitz. Und Christus, der König genannt wird, ist ebenso ein abstrakter, geistiger König: ein König nicht von dieser Welt.

 

Das Heilige in christlichen Bildern rankt sich vor allem um die beiden Elemente Kreuz und Thron. Die konzentrierteste Idee ist die Heilige Dreifaltigkeit, die Trinität, die in bildlicher Form Gnadenstuhl heißt. Gott Vater sitzt auf seinem Thron und hält auf dem Schoß das Kreuz, an dem der Sohn, Jesus Christus hängt, und von Mund zu Mund schwebt die Taube, der Heilige Geist. Es ist das Bild der Geburt einer neuen Menschheit. Jesus hat Sünde, Leiden und Tod überwunden, um den Menschen die Aussicht zu geben, frei von Sünden zu leben.

 

 

V. Profane Setzung

 

Mythen und religiöse Gestalten verlieren in der Renaissance ihren Einfluss und Bildung, Wissenschaft, Handwerk und Technik werden die neuen schöpferischen Potenziale. Das Bürgertum etabliert sich als neue Klasse.

 

Die Zeit von 1790 bis 1800 ist eine historische Zäsur. Das Bürgertum zerstört in der Französischen Revolution institutionell den wichtigsten Thron Europas und wird zur herrschenden Gesellschaftsschicht. Indem nun jeder sitzen darf, verliert der symbolische Raum unter dem Sitz seine Kraft. Daher müssen wir die Perspektive wechseln, vom Raum unter zum Raum über dem Sitz, denn nun geht es um das reale Sitzen auf einem Stuhl – dem Ort der Praxis.

 

Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte fasst das Sitzen in einem knappen und ungeheuerlichen Satz zusammen: „Das Ich setzt sich.“ Er formuliert den Satz genau in dem historischen Moment, indem jedem Bürger das Sitzen gestattet wird. Das Ich in dem Satz ist das bürgerliche Ich. Fichtes Wissenschaftslehre mit dem knappen Satz erscheint drei Jahre nach der Revolution. Er bringt das Sitzen auf den zeitgemäßen Punkt und macht den Homo sedens zum metaphysischen Bild der neuen, herrschenden Gesellschaftsschicht. Nun können die Bürger theoretisch begründet Platz nehmen auf dem Objekt, auf dem bis dahin nur Könige, Kaiser, Päpste und andere Herausgehobene der Gesellschaft sitzen durften. Der Thron wird profaner Stuhl.

 

 

VI. Gegensetzungen

 

Vor der Etablierung des Sitzens wird noch einmal der Versuch unternommen, das Sitzen aufzuhalten. Es finden Gegensetzungen statt. Der Philosoph Arthur Schopenhauer sitzt gerade in der Vorlesung von Fichte, als der diesen Satz sagt und zeichnet in sein Quartheft neben diesen Satz einen Stuhl. Der Philosoph Friedrich Nietzsche formuliert im Zarathustra den Titelsatz: „Setze Zwischen Für und Wider nicht deinen Stuhl.“ Das meint, halte die Spannung aus. Verweichliche nicht, indem du dich setzt. Er sagt im selben Werk: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – indem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden. Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.“ Für manche Berufe wie Buchhalter und Beamte mag Sitzfleisch von Vorteil sein, zeigt aber auch, dass Menschen mit einem feinen Gespür für den Körper darauf reagieren, wie der portugiesische Dichter Fernando Pessoa: „Ich gehe über die Straße wie ein Sitzender.“ Er sagt es ausgerechnet in seinem Werk Das Buch der Unruhe.

 

 

VII. Unheilige Setzung

 

Die Jahrhundertwende 1800 ist auch für den Kunsthistoriker Wolfgang Schöne ein kultureller Einschnitt. Er hat behauptet, das Heilige sei seit 1800 nicht mehr überzeugend darstellbar.      Diese Aussage lässt sich durch Überlegungen zum Sitzen stützen. Da das Heilige in christlichen Bildern fast ausschließlich als Thron und Kreuz dargestellt wird, und ich das Kreuz als besondere Form des Throns definiere, kann das Heilige in dem Moment, in dem sich jeder setzen darf, logischerweise nicht mehr dargestellt werden. Wenn der Thron zum Stuhl entweiht ist, ist auch das Heilige entweiht. Wenn alle sitzen dürfen, gehen das Besondere und Heilige verloren und alle Versuche, es darzustellen, müssen scheitern. Sitzen verliert seine Auszeichnung. Der Satz von Fichte und die Behauptung von Schöne besagen dasselbe: Das Ich, das sich setzt, ist weder ein adliges noch ein göttliches, sondern ein bürgerliches Ich.

 

Darin liegt die Stärke des Sitzens gegenüber dem Thronen, denn nun wird das Besondere jedem zuteil, wenn auch um den Preis, dass es nur als Massenphänomen zu haben ist.

 

 

VIII. Grundsetzung und Endsetzung

 

Der Thron und die geeignete Körperhaltung sind mit der Sesshaftwerdung entstanden, dem Ausgangspunkt unserer Kultur. Der Begriff sedere, der sitzen, besänftigen und niederlassen bedeutet, ist als innehalten, besinnen und sammeln, im Sinne von Kontrolle der Emotionen und im Sinne eines unermüdlichen Schaffens immer neuer Kulturformen zu verstehen – bis hin zu Literatur, Architektur, Philosophie, Digitalisierung oder Gentechnik.

 

Mit der Sesshaftwerdung hat sich der Mensch etwas Überschaubares geschaffen. Er hat sich aus der Komplexität des Alls einen Ausschnitt herausgeschnitten – das Haus –, um sich ein humanes, überschaubares All zu schaffen und um im Chaos einen Ort der Ruhe zu bereiten. Zur weiteren Entspannung hat er dem Haus ein Medium zur Seite gestellt – den Thron.

 

Das Medium, nur für einen erfunden, wird am Ende ein Objekt für alle. Es wandelt sich von einem geweihten zu einem profanen Objekt, das ganz praktisch den Sitzenden formt. Sitzen ist ambivalent: es schafft leibliche Probleme, weitet aber das Denken, fördert die Kulturentwicklung und bringt die Menschen zusammen. Insofern wird der Raum unter dem Sitz mit seinen mythologischen, überweltlichen Bedeutungen überlagert von den weltlichen Konzepten auf dem Sitz.

 

Auch heute sind wir wieder auf der Suche nach einem Ausschnitt aus dem Ganzen, um der Komplexität als Folge der fortgeschrittenen Globalisierung zu entgehen. Denn ihrem Ungestüm kommen Ruhe und Nachdenken entgegen, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir die fortgeschrittene Globalisierung mit all ihren Härten meistern. Vor allem Wissen und Moral müssen und werden helfen, dass sich die Menschen tolerant, gewaltfrei und respektvoll zu einer Weltgemeinschaft zusammenschließen.

 

Eine sehr weite Perspektive ergibt sich, wem man das Sitzen in der evolutiven Linie betrachtet. Lange bevor es überhaupt Menschen gibt. Es zeigt zugleich die enorme Wirkung dieser Körperhaltung auf den Körper. Während der Rumpf im Vorgang der Aufrichtung vom liegenden Fisch zum stehenden Menschen eine Rotation um 90 Grad erfährt, rotieren Kreuzbein und Becken nur um etwa 40 bis 50 Grad. Das Besondere des Sitzens liegt nun darin, dass im Vorgang des Setzens die Skelettmuskulatur anspannt und Kreuzbein und Becken noch einmal um diesen Betrag rotieren lässt, so dass beide in der Vertikalen zur Ruhe kommen. Das zeigt deutlich den inneren Mechanismus des Sitzens: die Beckenrotation um einen halben Rechten Winkel. Daraus ergibt sich ein verwegener Schluss: Das Sitzen erweist sich gegenüber dem Stehen als Fortsetzung der Aufrichtung. Es handelt sich dabei um eine innere Aufrichtung.

 

 

 


© Hajo Eickhoff 2018

   


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