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aus: Vernissage, Begleitheft zur Ausstellung SITZEN im Deutschen Hygiene

Museum Dresden, Heidelberg 1997


Eine Kulturgeschichte

Das Sitzen auf Stühlen




Der Mensch - das verstuhlte Wesen Dass wir mit Leidenschaft sitzen und fast alle Aufgaben in der Sitzhaltung erledigen können, ist das Resultat eines gesellschaftlichen Sitzzwangs und einer sorgfältig betriebenen Einübung ins Sitzen, das meist schon beim Kleinkind anfängt. Was sind die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Anreize, die uns zu Dauersitzern machen. Unsere Gesellschaft ist eine Institution des Stuhls, die den Menschen systematisch zu einem Stuhlwesen formt. Sie ist das politische Organ, das den Sitzzwang in Schulen und Ämtern einrichtet und überwacht. Der Stuhl ist ein zentrales Element ihrer politischen Ordnung. Um in einer Gesellschaft, die zentral das Sitzen auf Stühlen regelt, ein gesellschaftsfähiges Wesen zu werden, ist die Beherrschung des Stuhlsitzens eine Voraussetzung. Aber Sitzen ist nicht nur Pflicht, es ist auch ein Recht. Die sitzende Gesellschaft hat die Aufgabe, den Menschen zu einem Stuhlwesen zu formen und ihm den Rahmen bereitzustellen, der ihm die Befriedigung des Bedürfnisses garantiert, immer dann, wenn er anhält, einen Stuhl zur Verfügung zu haben und jederzeit und überall sitzen zu können. Wir finden Stühle deshalb nicht nur in Schulen und Ämtern, sondern ebenso in Fußballstadien, Sprechzimmern und Büros, in Bussen, Kinos oder Wartesälen. Wir werden angehalten, Dauersitzende zu werden, Sitzende, die sich nirgends sicherer fühlen als im Stuhl, nirgends sicherer fühlen, als an Orten, an denen Stühle stehen, auf die sie sich setzen könnten. Jedem von uns stehen heute etwa vier Dutzend Sitze zur Verfügung, während das gesellschaftliche Leben so auf das Sitzen abgestimmt wird, dass wir alles tun können, ohne den Stuhl verlassen zu müssen. Die Sitzgesellschaft tritt sichtbar in Erscheinung in ihrer unermesslichen Menge von Sitzkörpern und Stühlen. Die Sitzgesellschaft hebt das Kind früh vom Fußboden auf den Gesäßboden. Sie verordnet dem bewegungsbedürftigen und für Bewegung begabten Kind das unbewegte Verharren auf dem Stuhl. Dabei greift der Stuhl zerstörerisch in den Reifeprozess des Kindes ein, das in wenigen Jahren die Evolution der Wirbeltiere wiederholt, und schiebt sich irgendwo ein zwischen Liegen, Krabbeln und seine ersten Versuche des Aufrichtens. Die sitzende Gesellschaft vermeidet, dass Kinder ihrer Reife gemäß das Gehen und Stehen erlernen, man nimmt sie früh vom Boden auf und lässt sie in die Körperhaltung hineinwachsen, die der Stuhl und sein rechtwinkliges Sitzen vorgeben. Je früher das Kind vom Boden genommen und gesetzt wird, desto rascher entwickeln Kinder ein Bedürfnis nach Stühlen. Doch früh gesetzten Kindern wird der Fußboden zu einem unsicheren Grund. Und dieses wankende Fundament dient ihnen dann als sinnliche Basis dafür, wie sie die Welt wahrnehmen, deuten und sich in ihr fühlen werden. Unsicherheiten im Umgang mit dem eigenen Körper müssen das Kind jedoch nicht irritieren. Im Gegenteil, sie sind Bestandteil eines Verhaltens, das die Sitzgesellschaft als Norm empfiehlt. Denn wer sich auf seine Sinne nicht verlassen kann, wird eher bereit sein, an der Utopie einer Gesellschaft mitzuarbeiten, deren Ideal die Überwindung des Leibes ist. Ein vielseitig bewegter Mensch wie der Zappel-Philipp, dem Bild für die Schwierigkeiten des Sitzens, dient ihr als negatives Vorbild. Statt beunruhigt zu sein und das Kind zur Bewegung zu ermutigen, wenn es über eine lange Zeit auf einem Stuhl verharren kann, ist es in einer Sitzgesellschaft gerade umgekehrt. Denn wer nicht ruhig sitzen kann und auf dem Stuhl unruhig hin und her rutscht, hat das erforderliche Maß innerer Beruhigung noch nicht erreicht. Ist noch zu wild, zu ungebrochen, zu eigensinnig und mit dem disziplinierenden Programm der Gesellschaft noch nicht ausgesöhnt. Wir betreten Räume mit immer gleichen Ritualen. Wenn dem Gruß die Aufforderung folgt, Platz zu nehmen, wissen wir: dieser Platz kann nur ein Stuhl sein. Der Aufforderung, sich in einer problematischen Lebenssituation erst einmal zu setzen, schafft eine beruhigende Atmosphäre. Sie entsteht, indem die Gewohnheit des Sitzens durchbrochen und das Setzen zu einer bewussten Handlung wird, zu einem Ritual. Auch in den Kämpfen um Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln kommt eine verdeckte Aufforderung zum Vorschein. Die Eroberung der Sitzplätze beginnt auf dem Bahnsteig, auf dem man sich eine gute Ausgangsposition verschafft, um den Endkampf mit wenig Körpereinsatz zu überstehen. Ließ man Älteren und Behinderten einst den Vorrang, ist es in einer Sitzgesellschaft nicht selbstverständlich, ihnen kampflos einen Sitzplatz zu überlassen. Die sitzende Gemeinschaft zwingt die Menschen früh dazu, die in einer Sitzkultur übliche Haltung einzunehmen: Wer keinen Sitzplatz hat, muss stehen und gehört nicht dazu. Oder er scheidet aus, wie in dem Spiel „Die Reise nach Jerusalem“. In ihm lernt der Mensch spielend, worum es hier geht, um die Eingliederung in die Sitzgesellschaft. Stühle sind die Bausteine unserer sozialen Architektur. Den Verkehr mit ihrer Umwelt wickeln Sitzende von ihren Stuhlräumen aus ab. Stühle fassen sie in imaginäre Rahmen, die zwischen Mensch und Mensch geschoben werden, halten sie gegenseitig auf Distanz und bestimmen die Intimität des Lebens in der Sitzgesellschaft. Sich versammelnde Menschen sind immer bestuhlt. Sitzende tragen Stühle wie Kleider, versammeln sich in der immer gleichen Haltung und haben gegenüber anderen Sitzenden eine etwa konstante Minimaldistanz. Die Wahrnehmung des anderen aus unmittelbarer Nähe gibt es nur in Ausnahmefällen. Da die Menschen, durch den Stuhlrahmen separiert, weit auseinander sitzen, ist der Blick das Mittel, um sich von anderen Menschen eine Vorstellung zu machen. Doch die Vorstellung bleibt durch das Ausgrenzen der anderen Sinne auf den Blick reduziert. Der Blick ist ein distanzierender und kontrollierender Blick von einem festen Ort aus. Der Sitzende lebt in der Ferne zu den Dingen und in Distanz zu anderen Menschen. Er lebt vereinzelt. Doch die Gewohnheit des Sitzens, die Uniformität der Sitzversammlungen und die Sitzanordnung im Alltag schließen ihn sozial mit den anderen Sitzenden zusammen. Aber obwohl in der Sitzgesellschaft fast alle auf Stühlen sitzen und daher fast alle gleich sind, gliedern Stühle und Sitzkörper die Sitzgesellschaft in ein geordnetes und wohlabgestuftes Gefüge sozialer Unterschiede. Die soziale Ordnung leitet sich aus der imaginären Zeitdauer ab, mit der jemand auf Stühlen zugebracht hat, und aus der Annahme, dass eine überdurchschnittlich lange Sitz-Zeit in der Jugend ein hohes Bildungsniveau und reiche Kenntnisse und Wissen bedeuten. Langzeit-Sitzer haben später im Beruf ein Anrecht auf einen Stuhl besonderer Qualität und Art. So muss die Sitzgesellschaft jedem Tun und jedem Status geeignete Stühle bereitstellen. Umgekehrt fordern Stühle ein entsprechendes und abgestuftes Distanzverhalten. Das Verhalten hängt ab von der Aura des Objekts oder des Ortes, an dem es platziert ist. So gibt es Unterschiede in der Art, wie man sitzt, des Ortes, wo man sitzt und der Qualität, auf der man sitzt. Von Werkstatthockern, Arbeitsbänken und Bürostühlen über Autositze und Logenplätze im Theater hinauf zu den Pilotensitzen, den Sesseln für Vorsitzende und den aufwendigen Bürostühlen mit Armlehne und überhöhter Rückenlehne für den Chef. Mit den im ideellen Sinn höchstdotierten Sitzen wartet die Sitzgesellschaft für diejenigen auf, die am längsten gesessen haben: Das sind die Stühle, die mit ihrem Namen zugleich ein Amt oder eine Institution bezeichnen. Auf die in dieser Weise Stuhl gewordenen Langzeit-Sitzer warten Bischofsstühle, Lehrstühle, Throne, der Heilige Stuhl oder Richterstühle.



© Hajo Eickhoff 1997





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