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Hajo Eickhoff, Die Vertiefung in den Schmerz. Thomas Bernhard als      Philosoph des Leids. In: Heinze/ Kupke/ Kurth, (Hrsg.), Das Maß des   Leidens.  Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins,   Würzburg 2003

 

 

 Die Vertiefung in den Schmerz


 Thomas Bernhard als Philosoph des Leids

 




Man brauche die Menschenköpfe nicht aufzumachen,

um zu wissen, dass an Ihnen nichts anderes als eine

menschliche Katastrophe ist. Thomas Bernhard


Der Mensch erleidet die Welt. Leben ist Berührung mit der Welt. Berührung mit der Welt ist Leiden, Leiden die Unterwerfung der Geschöpfe unter die Zeit, ist Werden, Wachsen, Ereignis, Sterben. Wer das Leid in der Welt ertragen will, muss sich von der Zeit befreien, die Berührung mit der Welt vermeiden, den Atem begrenzen und das passive Eingebundensein in die Welt in ein bewusstes und aktives Einrichten eines eigenen Kosmos, einer geistigen Welt umgestalten.

Die Welt des Menschen ist Natur und Kultur. Der Mensch setzt das Leben in der Natur mit anderen Mitteln in seinen kulturellen Einrichtungen und Institutionen fort, indem er das kreatürliche Leiden zu einem kulturellen macht. Jede Kultur erzwingt vom einzelnen Menschen Handlungen, Kenntnisse und Verhaltensweisen, die über die Kontrolle des Atems gewonnen werden: Kultur ist die kontrollierte Einwirkung auf den Atem, dessen Beherrschung ein Mittel der Disziplinierung. Über die Atmung wird das Leiden in eine neue Form gebracht, in Disziplin, Kontrolle und geistig-abstrakte Vermögen.

Ihrer Entstehung nach gehören Leiden und Leid nicht zusammen. Leiden kommt von lidan (ahd.) und heißt gehen, fahren und reisen, Leid von laipa (germ.) und heißt widrig, unangenehm, übel. Im Christentum haben beide Worte dieselbe Bedeutung, in der das menschliche Dasein als Reise (Leiden) mit dem Jammertal (Leid) gleichgesetzt ist. Leiden wir zu Leid, Reisen zu einer widrigen Fahrt, die das Leben ist. Für das Abendland ist die Identität von Leiden und Leid verbindlich geworden. Die Arten der Berührung mit der Welt bilden eine Stufenfolge des Leidens. Als Fahren und Reisen ist Leiden ein Erfahren, ein Hinnehmen der Welt, ihr Dulden und Tolerieren. Mit einer bestimmten Intensität des Berührtwerdens kann Leiden in Leid umschlagen, in Beschwerlichkeit, Schmerz und Qual. Nicht jedes Leiden ist Leid, da Leid nur eine Unterart von Leiden ist.

Leid ist ein subjektives Befinden mit unterschiedlichen Ausdrucksformen wie Melancholie, Schmerz und Depression, Isolation, Trauer und Angst, mit Krankheit, Furcht und Langeweile. Als Befindlichkeit ist Leid eine physische, psychische, soziale und geistige Verfassung des Menschen mit einer charakteristischen körperlichen Gestalt und Haltung.

Zur Beherrschung des Leids hat der Mensch Mittel erfunden, die das Berührtwerden durch die Welt in einen anderen Modus überführen. In den Modus der Mittelbarkeit. Die Mittel sind methodische Zurichtungen von Seele und Leib. Der Umschlagpunkt von Leiden in Leid kann durch die Arbeit disziplinierender Kräfte weit hinaufgehoben werden. Das Berührtwerden von Disziplinarkräften ist ein allgemeiner Hintergrund jeder Kultur, der in der Regel verdrängt und nicht unmittelbar als Leid empfunden wird.

Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) ist ein Homöopath des Leids. Ein Streiter, der gegen alles opponiert, der sich mit jedem entzweit und der alles zersetzt. Auch sich selbst. Er ist ein Literat der Zersetzung. Vernichtung, Furcht, Hass, Ungeheuerlichkeit, Ekel oder Entsetzen bilden ein Wortgerüst seiner Werke. Aber obwohl die Begriffe die Welt in Leid und Weltschmerz zerlegen, steckt in Thomas Bernards scheinbar destruktiven Werken und öffentlichen Äußerungen auch ein konstruktives Konzept. Er stellt dem Leid an der Welt – dem Weltschmerz – ein geschütztes Leben im Geist entgegen. Das Leben im Geist ist eine Disziplinierung, die den Menschen vergeistigt. Eine andere Art des Leids: eine Weise der Erkenntnis. Über das zweite Leid, das eine höhere Form des Schmerzes ist, kann das erste ertragen werden. Im Heilen des einen durch das andere Leid erweist sich Thomas Bernhard als Homöopath.

Unerbittlich stellt er dem Schmerz in all seinen Arten nach. Er spürt ihn auf, weist auf ihn hin und macht ihn in seiner Literatur sichtbar. Er knüpft an religiöse Ideen, an Schriftsteller und Philosophen und an seine eigene Biographie an. In der Familie, in der Schule und durch die Erfahrungen des Krieges empfindet er Schmerz schon früh als ein zentrales Element des Daseins. Als Siebzehnjähriger erkrankt er an Tuberkulose und leidet zeitlebens unter einem schwachen, raschen Atem. Dem Atem der Angst, das Schmerzes und der Disziplin.

Thomas Bernhard steht in einer langen Tradition kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen menschliche Existenz und den konkreten Lebensweisen des Menschen. Religiöse, philosophische und wissenschaftliche Vorstellungen erweisen sich oft als ideelle Programme, den Menschen das Leid zu nehmen, indem sie ihm die Berührung mit der Welt ersparen wollen. Die Philosophie sucht Distanz in der Melancholie, die Religion in der Entsagung, die Wissenschaft in der Abstraktion. Thomas Bernhard geht einen Schritt weiter. Er lässt den Geist des Menschen im Denkbezirk eine radikale Geistesexistenz realisieren, die ein Ideal der modernen Gesellschaft ist, dass sie bisher aber nicht erreicht hat. Er geht auch weiter als seine Vorbilder: Er wendet literarische Ideen von Novalis, philosophische Gedanken von Schopenhauer, religiöse Anschauungen des Christentums, Motive des Buddhismus sowie wissenschaftliche Erkenntnisse auf seine literarische Hauptfigur, den Geistesmenschen, an und zeigt dessen Aktivismus, sie vom Leid freizumachen, erzählt aber von der Vergeblichkeit ihrer Mühen, da Leid bleibend ans Leben gebunden ist. Das Kreuz auf sich nehmen, ins Nirwana eingehen, Einswerden mit dem Göttlichen, sich ins Quietiv Schopenhauers begeben oder sich der Technik ausliefern sind Bernhard keine erfolgreichen Wege aus dem Leid, bestenfalls Strategien des Überlebens. Am Geistesmenschen vollstreckt Bernhard literarisch das Urteil, Leid als Selbstdisziplin, Atemkontrolle und Vergeistigung auf sich zu nehmen.

 

Kulturelles und naturhaftes Leid

 

Leid ist ein der Natur innewohnendes Prinzip. Hunger, Gefahr, Verwundung, Tod. In seiner vergleichenden Anatomie hat Arthur Schopenhauer die leidvolle Seite des Daseins analysiert. Die Gestalt der Lebewesen sei Ausdruck ihres Willens. Des Willens der Spezies, nicht des Individuums. Ihm zufolge ist jede Gestalt des Lebens eine von den Lebensumständen hervorgerufene Sehnsucht des Willens zum Leben. Die bis ins Einzelne reichende Angemessenheit jedes Lebewesens zu seiner Lebensart, zu den äußeren Mitteln seiner Erhaltung sowie durch die Zweckmäßigkeit in allen Teilen sei Ausdruck eines tätigen Willens, des Prinzips der Welt. So ausgestattet und aufeinander abgestimmt treffen die Lebewesen aufeinander. Angreifer mit weitem Blick, starken Muskeln, lautlosen Flügelschlägen oder furchtbarem Gebiss, Flüchtige mit feiner Nase, Tarnfähigkeit, scharfem Gehör oder flinken Beinen. Zwischen den Tieren besteht eine leidvolle, abhängige Verbindung: „Der Aufenthaltsort der Beute bestimmt die Gestalt des Verfolgers.“ Die Tierwelt ist auf das Jagen, Umstellen, Fassen und Verzehren hin ausgerichtet: „Denn wo ein Lebendes athmet, ist gleich ein anderes gekommen, es zu verschlingen, und ein jedes ist durchweg auf die Vernichtung eines anderen wie abgesehen und berechnet.“ Schmerz, Verwundung, Krankheit und Vernichtung sind die Elemente der naturhaften Seite des Leids, das im Tod für ein Lebewesen seine Grenze und im Ernähren seines Verfolgers seine Erfüllung findet. Auch der Mensch stand als Kampfglied in dieser Reihe, in der Bär, Krokodil, Haifisch oder Tiger ihm nach dem Leben trachteten. Er hat die Gefahr durch ein Instrumentarium von Waffen und von Jagd- und Verteidigungstechniken gebannt. An die Stelle der Gefahr durch das Tier sind kulturelle Gefahren und die Technik getreten.

 Leid ist auch ein der Kultur innewohnendes Prinzip. es entsteht dadurch, dass die Heranwachsenden durch den Erwerb von Fertigkeiten und durch Verbote auf das jeweilige Kulturniveau angehoben werden. Je differenzierter eine Kultur ausgebildet ist, desto grösser die Disziplinierung, die jungen Menschen abverlangt wird. In der Arbeit am Wissen und im Befolgen einer Moral, die zur Aufrechterhaltung der Kultur notwendig ist, liegt das systematische Leid an der Kultur. Wahrnehmbar ist diese Art des Leids immer dann, wenn ein großer Schub an Disziplinarkräften erforderlich ist, wie beim Umbruch einer Kultur. Die Taten der Stifter solcher Disziplinarkräfte wie Buddha, Abraham, Christus und Mohammed werden in einen Mythos eingeschrieben und weitererzählt. Wenn der Mensch nach Bedeutung und Zweck seines Lebens sucht, kann die Welt stören. Die Zwiesprache mit Bedeutung stiftenden Medien findet nur bedingt im Rückgriff auf die Welt statt. Lebensbedeutung entwickelt sich im Transzendieren der Sinne. Im Gewinn von Distanz und dem Einnehmen eines beobachtenden, theoretischen Standpunktes, von dem aus Welt- und Selbstreflexion stattfinden. Da der Mensch das Leid nicht überwinden kann, kann er nur lernen, es zu beherrschen, es durch eine strenge Zucht von Körper und Geist als Erkenntnis handhabbar zu machen.

 

Askese und Atem

 

Religiöse und philosophische Konzepte sehen im Rückzug  in der Abgeschiedenheit und in der Flucht aus der profanen Welt eine Bedingung zur Erlösung von Leid. Der Weg führt durch und über den menschlichen Leib, der in strengen und Schmerz verursachenden Übungen geordnet wird. Askese, Fasten und Gebet wirken auf den Atem, der Herzschlag, Kreislauf und Muskulatur beeinflusst und den Menschen in eine charakteristische Körperhaltung und eine innere Verfassung, die Gefasstheit, bringt.

 Der Atem wird auf zwei Wegen manipuliert: von außen über die Haltung und die Gestalt des Körpers und von innen über die geistige Einstellung, die Meditation. Über ihn analysieren sie die Sinne, ziehen sie von den Objekten ab, lenken sie nach innen und kontrollieren die Geisteskräfte. Der Atem des Menschen ist eine vermittelnde Instanz zwischen Übersinnlichkeit und Leib. Indem er sich mit dem göttlichen Hauch verbindet, die Einzelseele mit der Weltseele, kann er sich von der sinnlichen Welt ein Stück unabhängig machen, sich auf innere Vorgänge konzentrieren und vergeistigen.

Alle Weltreligionen stellen das Bemühen um die Erlösung von Leid in den Mittelpunkt ihrer religiösen Aktivität. Ihre Anhänger unterscheiden sich nach der Art, wie sie den Atem einsetzen und sich von den Sinneswahrnehmungen freimachen: im ekstatischen Tanz der Derwische, im rhythmischen Wechsel der Körperhaltung der christlichen Mönche im Chorstuhl, im Aussprechen eines Mantras des Hindu oder in der Versenkung des Buddhisten im Lotussitzen. Die Atemtechnik erzeugt zwei Zustände, in denen der Mensch außerhalb seiner Mitte, seines Ich, geraten und darin Leid ertragen kann. Er kann seine Sinne nach innen lenken und in sich eintreten (Askese) oder sie mit dem Gefühl der Liebe ausfüllen und aus sich heraustreten (Ekstase). Im Jenseits des Ich lebt der Mensch außerhalb von Zeit und Raum und verliert die Welt ihre Ereignishaftigkeit.

Der indische Prinz Siddhartha Gautama führt ein behütetes Leben, bis er von der menschlichen Not und der Vergänglichkeit des Lebens erfährt. Seine Erschütterung darüber ist ein Beispiel für geistigen Schmerz. Er gibt seine Geborgenheit auf und lebt fortan als Asket. Meditation und innere Versenkung im Lotussitz führen ihn zur Einsicht in das Wesen der Welt. In Armut lebend zieht er mit seinen Schülern umher und nimmt äußerlich gerade das an, was ihn erschütterte: das konkrete Leid an der Welt. Nach seiner Lehre sind Selbstsucht, Hunger auf das Leben und die Metamorphose von Geburt, Tod und Wiedergeburt Ursachen menschlichen Leids. In der Erleuchtung, dem Nirwana, findet der Mensch Einsicht und Stille. Nirwana ist Leere und leidlose Ruhe, gewonnen in der leidvollen Strenge von Armut und Askese.

Auch bei den hinduistischen Yogis entspricht die innere Einstellung zum Leben der äußeren Haltung des Lotussitzens. Körperhaltung und Atemtechnik heben das Ich und die Bindung an den Körper auf. Yogis transzendieren ihre Körpergrenze und werden mit dem Brahman, der Weltseele, eins. Auch Mystiker verlieren das Gefühl für die Grenze ihres Körpers, wenn sich ihre Seele von der Materie ablöst und die Stufen der Spiritualisierung durchläuft und bis zur Vereinigung mit dem Göttlichen aufsteigt. Unvermittelt gelangen Mystiker, Yogis und Buddhisten ohne Bilder und Schrift, ohne Gedanken und ohne begriffliche Erkenntnis ins Göttliche, denn ihr Geist ist leer: eine Weise des Daseins und der Erkenntnis, die die Sinne und das begriffliche Wissen übersteigt.

Das Christentum hat dem Leid zwei entgegengesetzte Werte zugeordnet. Da Leid ein Übel ist, ist es zugleich ein Gut, denn als Übel ist es geeignet, das Beste aus den Menschen herauszuholen und seine Persönlichkeit zu erweitern und zu festigen. Leid erzeugt die Tugend der Leidensfähigkeit, nach der Elend, Missgeschick und Unglück ertragen werden kann können, ohne moralisch zu zerbrechen. Jesus Christus nimmt das Leid auf sich und bringt eine Religion hervor, die den Menschen für eine höhere Form des Leids leidensfähig macht. Am eigenen Leib demonstriert er, welcher Art die Disziplinierung ist, die in die Welt getragen werden soll, um das Leid zu überwinden. In seiner Passion konzentriert sich das menschliche Leid, das mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnt und mit der Apokalypse, dem harschen Ende der Welt und ihrem Neuanfang, abbricht. Der Schmerz trifft den Menschen als Strafe Gottes, der die Menschen zur Zivilisierung antreibt. Da die Passion Jesu eine Basis der Disziplinierung ist, ist es der Körper, der den bösen Mächten ausgeliefert bleibt. Konsequent entwickelt sich die Idee Christi im Klosterleben der Mönche. Das Kloster übt systematisch ins Leid ein, um Leid zu überwinden. Vorbild ist ein keusches Leben in Armut, das sich um Arbeiten und Beten konzentriert. In der Abgeschiedenheit und im Schweigen, im Singen und im Haltungswechsel des Körpers im Chor wird der Atem strukturiert und werden die Klosterinsassen in eine demütige Fassung gebracht, die Geist und Leib spiritualisiert.

Die Orte, an denen Menschen sich läutern, sind geläuterte Orte: isolierte Kulturräume, entweltlichte Winkel, Anti-Welten, ideelle Aufenthalte, Utopien. Ihre topologische und geistige Lehre ist Potenzialität, ist Raum für die Aufhebung von Selbstsucht und Individualität. Im Leid wird der Mensch durch körperliche Übungen rein und frei von gesellschaftlicher Konvention.

Die Antike hat im Leid ein Übel gesehen. Das Ideal des Stoizismus ist die unerschütterliche Ruhe der Seele in allen Lebenslagen: die Steigerung der Innerlichkeit gegen alles Äußerer zur höchsten Kraft. Die Vorstellung des mittelalterlichen Menschen vom Leben entspricht den Idealen des Christentums: Erlösung vom Leid an der Welt und Zugang zum ewigen Leben. Die Neuzeit hat rationale Konzepte und die Technik zur Überwindung des Leids entwickelt.

Am Beginn der Neuzeit stehen die Gesellschaftsutopien von Thomas Morus (1478-1535), Francis Bacon (1561-1626) und Tommaso Campanella (1568-1639), in denen sie ihre Vorstellungen von einem leidlosen Dasein schildern, frei von Armut, langer Krankheit und Ungerechtigkeit. Ein paradiesischer und zukunftsgerichteter Gesellschaftszustand, in dem Naturverbundenheit und Zivilisation miteinander verschmolzen sind. Die Lebensweise in der modernen Gesellschaft, im Bemühen entstanden die Menschen vom Leid an Kultur und Natur zu befreien, trägt durch die technisch vermittelte Existenz in sich ein hohes Maß an Leid: Die Menschen leben in Distanz zueinander, erwerben abstrakte Formen des Wissens, des Handelns und Verhaltens, die trennen und einen schmerzhaften Verlust an Unmittelbarkeit bedeuten.

Novalis (1772-1801) sind Krankheit und Schmerz Erkenntnismittel. Der Kranke ist der Wahrheit näher als der Gesunde, näher am Wesen des Lebens. Schopenhauer (1788-1854) verbindet die Philosophie Kants mit dem Buddhismus und sieht die Erlösung des Menschen im Quietiv, im Überwinden des Willens zum Leben. Karl Marx (1818-1883) sucht im Kommunismus die Aufhebung allen Leids, Sigmund Freud (1856-1939) in der Psychoanalyse, in der besondere Formen des Leids in ein normales Unglück umgewandelt werden sollen. Cioran (1911-1995), der Gesundheit den Zustand des Nichtempfindens nennt, sind Krankheit und ihre Nähe zum Tod die Basis von Erkenntnis und Wahrheit. Für Thomas Bernhard sind Kranke und Leidtragende Hellsichtige.

Im Leid und in seiner Chronifizierung bleibt der Leidende auf seine Existenznot konzentriert. Mit der Frage nach der Bedeutung von Schmerz und Leid wird er auf die Bedeutung seiner Existenz jenseits von Gewohnheit und Alltäglichkeit gestoßen. Da alle Menschen durch ihre kulturelle Prägung in ihrer Kultur gefangen sind, bleibt die besondere Art des Leids einer Epoche so lange verdeckt, bis jemand die verdeckenden Masken und Fassaden auf der Suche nach Wahrheit herunterreißt.

 

Denkbezirk und Leid

 

Für Thomas Bernhard ist Schmerz der Stachel, der alle Elemente des Universums miteinander verbindet. Kein Gegenstand ist stumm. Alles drückt fortwährend seinen Schmerz aus. Indem Bernhard die Welt radikal und einseitig vor allem unter dem Blickwinkel des Schmerzes fast, trifft er in der Einseitigkeit etwas Wesentliches unserer Existenz: Jenseits der das Leben bewältigenden Gewohnheit ist das Dasein ohne Bedeutung, schmerzvoll, absurd und ohne Trost. Schmerz ist eine Substanz des Seins.

Ebenso wie die Lebewesen bei Schopenhauer sind Wetter und geologische Formationen darauf hin geordnet, sich in einer festgelegten Richtung zu zerstören. Das Wesen der Natur ist Grausamkeit, was Sie hervorbringt, Schmerz. Jagen und Gejagtwerden, ein unablässiger Lebenskampf. In seinen ersten Roman Frost von 1963 ist von Landstrichen die Rede, durch die „auf die Dauer Menschen verrückt werden“, und von Landschaften, die einem fortwährend ins Gesicht schlagen. Auch die schlagende Landschaft wird geschlagen. Sie unterliegt der Gewalt des Klimas, das „ganzen Gebirgsmassiven ins Gesicht schlägt, dass sie zittern“. Das Grausame der Natur setzt sich fort in der menschlichen Gesellschaft und wird in ihren Institutionen befestigt. Die sozialen Verhältnisse sind Gewaltverhältnisse. Der menschliche Körper wird in menschlichen Beziehungen, in der Schule und im Straßenverkehr angegriffen.

Ein gutes Körpergefühl ist phänomenologisch die Abwesenheit von Schmerz. In einem solchen Gefühl scheint der Körper abwesend. Erst in der Störung – im Kranksein oder im Leid – entwickelt er sich zu einer anwesenden Gestalt, zu einem Raumkörper. Der Weltbezug wird zum Selbstbezug. Im Roman Verstörung heißt es: „Die Qual ist in meinem Körper wie ein zweiter Körper.“

Körper sind also Schmerzgebäude. Bernhard umkreist sie, um sie über den Schmerz zu öffnen und begehbar zu machen. Er schafft im Körper Denkraum. Vom Schlagen eines Gedankengangs an die Schädelinnenwand ist die Rede und davon, dass jemand „in seinen Verzweiflungen hin und her“ geht. Bernhard selbst hat sich den eigenen Körper durch seine Lebensweise bewusst gemacht und ist den verschiedenen Arten und Intensitäten des Schmerzes nahegekommen. Er tastet den Innenraum des Menschen ab, durchschreitet und erkundet die Bereiche der Existenz des vom Schmerz getroffenen und im Leid gefangenen Menschen. Er hat das Leid verkörpert, auf sich genommen und daraus Literatur und eine Betrachtungsweise der Welt gemacht: Seine Protagonisten weichen dem Schmerz nicht aus, sondern bewältigen das Leid, indem sie geistig in das Leid hineingehen, den Schmerz vertiefen. In der Vertiefung wird der Schmerz erkannt, angenommen und nutzbar gemacht.

In seine zentrale literarische Figur kann man den Geist des Menschen, hat Bernhard eine Theorie der Relativierung des Leids eingeschrieben. Geistesmenschen sind Denker, Maler, Wissenschaftler oder Musiker, die sich aus Abscheu von der Gesellschaft abkehren. Alte und kranke Männer, melancholisch feindselig und verzweifelt, deren Grübeln um das Leid der Existenz kreist. Leidenschaftlich und kompromisslos suchen sie nach Zweck und Bedeutung des Lebens, finden sie aber nicht in dem, was von Natur aus und von der Kultur her gegeben ist. Sie sind genaue Beobachter und machen treffende Analysen über die Gesellschaft, die Welt und über sich selbst. Im Geistesmenschen zeigt Bernhard, wie Natur und Kultur am Menschen arbeiten. Wie die Natur ihn grausam und verbrecherisch macht und wie einerseits die Kultur die Kräfte der Natur unterstützt und andererseits der Geistesmensch mit den Kräften der Kultur den Katastrophen des Daseins entgegenarbeitet. Doch der Geistesmensch ist eine ambivalente Gestalt, denn seiner Geistesgegenwart steht die Unfähigkeit gegenüber, das Wissen für seine Integration in die Gesellschaft zu nutzen, da er die Ideale, die sie vorgibt und die sich vor allem am sinnlich Gegebenen orientieren, nicht annehmen kann. Denn er schöpft Zweck und Bedeutung für sein Leben gerade daraus, dass er die Welt mit dem Geist aufnimmt und verarbeitet, nicht mit den Sinnesorganen, denn die sinnlich gegebene Welt erscheint ihm nichtig. Er sucht eine reine Welt, gereinigt von Konvention und Sinneseindrücken. Er sucht nach Lebensbedeutung, nicht nach Lebenssinn. So entwirft er seinen Gegenkosmos und eine Gegengesellschaft, die er nach den Gesetzen von Disziplin und Vergeistigung konstruiert, den Gesetzen des kultivierten Schmerzes. In der Beurteilung gesellschaftlicher Konvention gleicht der Geistesmensch dem Mönch, dem Yogi, demjenigen, der seinen Willen zum Leben absterben lässt, und den Buddhisten

Der Gegenkosmos ist ein geistiger Bezirk, in dem der Geistesmensch grübelt und sich ausruht, die Gegengesellschaft ist eine Minimalgesellschaft. Linderung findet der Geistesmensch im Rückzug. Den Massenmenschen verabscheut er ebenso wie das stillgestellte und aggressive Individuum. Er radikalisiert das Ideal der rationalen Lebensführung der modernen Gesellschaft, indem er bewusst sein Dasein als absolute Geistesexistenz entwirft.

Krankheit und Leid des Geistesmenschen bilden im Werk Bernhards ein festes Skelett: Verletzungen, Krankheit, Todesfurcht und Panik. Die geringe körperliche Bewegung, die Schwäche der Muskulatur, die Angst infolge von Krankheit und die Nähe zum Tod wirken hemmend auf die Atmung. Bernhards Geistesmenschen leiden oft unter der Furcht, ersticken zu müssen. Ihre Todesangst sensibilisiert sie und beflügelt ihren Prozess der Vergeistigung. im Roman Verstörung sagt der Fürst Saurau: „Die Krankheiten führen den Menschen am kürzesten zu sich selbst.“ Der Kranke ist derjenige der die Transzendenz der Krankheit besitzt und „tiefer in das Wesen des Lebens einzudringen vermag“ und „über den Tod zu einem höheren Leben“ gelangt. Der Geistesmensch nutzt das Wissen um den Zusammenhang von körperlicher Versehrtheit und höchster Denkkraft zur Überwindung des Leids.

Versuche, sich vom Leid zu befreien, ereignen sich im Denkbezirk. Denkbezirke sind ungewöhnliche Räume und Gebäudekomplexe symbolische Orte und selbstgeweihte Krisenräume: Krankenhäuser, Strafanstalten oder abgeschiedene Räume. Mönchische Orte der Einsamkeit und der Konzentration. Letztlich aber kann jeder beliebige Ort zum Denkraum werden, zum Kosmos des Geistesmenschen. In ihm ordnet er sein Leben, versucht, es zur Ruhe zu bringen oder ihm eine Wende zu geben. In Verstörung hält ein industrieller Kontakt mit der Außenwelt nur noch durch die Post. Er schreibt an einer wissenschaftlichen Arbeit, bleibt aber in Berührung mit seinen zahlreichen florierenden Unternehmungen. Die Fenster seines Hauses sind verdunkelt, im Arbeitszimmer duldet er nur Tisch, Stuhl und leeres Papier. Zu keiner Zeit lässt er sich von der Arbeit ablenken. Er sagt: „Da alle Zimmer in diesem Haus vollkommen leer sind, kann ich in der Finsternis, die in ihm herrscht, an keinen Gegenstand anstoßen. Als Material für das, was er schreibt, genügt ihm die Erfahrung der Vergangenheit, das, was er in vierzig Jahren in der Welt erlebt hat. Er lebt aus dem Geist – aus seinen Erinnerungen und seinem Denken, ohne Verunreinigung durch aktuelle Sinneseindrücke. Auf die Frage eines Landarztes, ob er ihm den Sohn vorstellen dürfe, antwortet er entschieden: „Nein, ich will ihren Sohn nicht sehen. Ein neuer Mensch, ein neues Gesicht, ruiniert mir alles.“ Sinneseindrücke – die Berührung mit der Welt – stören. Zimmerluft, Dunkelheit, kurze Wege, sitzendes Schreiben, Abschließung von der Natur und den Menschen sind charakteristische Elemente der Existenz im Denkbezirk. Den zersetzenden Begriffen, den Charakteristika der Welt, stehen die Begriffe, die den Denk Bezirk charakterisieren, gegenüber: Schreiben, reflektierendes Beobachten, Sitzen, Wissenschaft, Ruhe.

Im Denkbezirk leistet der Geistesmensch Geistesarbeit. Die Geistesarbeit ist eine Analyse der Begriffe, die eine Krankheit oder ein anderes Leid bezeichnen. Re-Signation ist die Aufhebung eines Zeichens, welches das Leid festgeschrieben hat. Das Zeichen verliert seine Kraft und macht den Geist des Menschen gegen das Leid indifferent, gleichgültig, macht ihm das Leid ertragbar. Zur Charakterisierung der positiven Kräfte des Geistes wie der Gefahren, den er ausgesetzt ist, hat Bernhard hunderte mit „Geist“ zusammengesetzte Begriffe erfunden: Geistesexistenzminimum, Geistesgewalttäter, Geistesbedürfnis, Geistesvernichtungsanstalt, Geistesaktivität, Geistesscharlatan, Geistesunbestechlichkeit, Geistesenthemmung, Geistesurheberschaft, Geistesunrat, Geistesparadies, Geistesproduktionsstätte, Geisteszwangslage, Geistesverbrechen, Geisteseskapaden und Geistesniedertracht.

Das Unbehagen in der Kultur ist in der Regel ein gesellschaftliches Tabu und wird durch Verdrängung bewältigt. Der Geistesmensch nimmt die Kultur als Leid an. Zugleich zieht er aus dem Kampf gegen das Leid durch die Kultur, den er selbst als Leid erlebt, seinen Lebenszweck. Seine Erlösung liegt darin, dass er das zivilisatorische Programm realisiert und das Leid erhöht, denn das zusätzliche Leid ist ein selbst verordnetes, selbst gewolltes und selbst entwickeltes Leid. Er verdrängt das Leid nicht, sondern gibt ihm eine eigene Form und nimmt es an.

 In der Paradoxie der Überwindung des Leids durch Leid ist das extreme Geistesleben des Geistesmenschen auch ein Leben im Scheitern, denn Isolation, Konzentration und Geistesschärfe korrespondieren mit dem Mangel an Sinnesaktivität und zunehmender Vereinsamung, in welcher die Geistesmenschen ihr „Denken so lange denken und intensivieren und alles außerhalb ihres Denkens so lange ignorieren, bis sie von dieser Leidenschaft erdrückt und erstickt und vernichtet werden“, heißt es in Die Billigesser.

Das ordnende Mittel zur Überwindung des Leids im Denkbezirk ist das Objektiv. Das Objektiv, von dem Bernhard in Die Kälte. Eine Isolation spricht, kann als eine kleine Theorie der Natur und der Gesellschaft angesehen werden. Der Kalkül der Theorie besteht aus vier Hauptsätzen und zwei Regeln. Die Hauptsätze heißen: „Die Welt ist eine Kloake“, Die Natur ist grausam“, „Der Mensch ist verzweifelt“, „Der Mensch ist gemein“. Die zwei Regeln lauten: „Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist“ und „Die Absurdität ist der einzig mögliche Weg“. Jeder Untersuchung über das Leid durch die Natur und die Gesellschaft liegen die Sätze des Objektivs zugrunde. Es handelt sich um einen Wahrnehmungs- und Denkfilter, der die subjektiven Daten zu einem Weltbild objektiviert. Durch ihn hindurch blickt der Geistesmensch auf die Welt, um Daten aufzunehmen, zu ordnen und sichere Aussagen über Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Die Leitsätze des Objektivs bilden einen festen Anker im Strom der Phänomene. So angeschaut ist die Welt immer gleich, unbeweglich und einseitig, dafür aber klar und präzise. Schmerz und Leid sind kalkulierbar. In der Einseitigkeit und Einfachheit ist das Objektiv ein Mittel der Erkenntnis. „Sich zu beherrschen sei das Vergnügen, sich vom Gehirn aus zu einem Mechanismus zu machen, dem man befehlen kann und der gehorcht. Allein in dieser Beherrschung könne der Mensch glücklich sein und erkenne er seine Natur“, heißt es in Verstörung. Als im Jahre 1981 von Bernhard die autobiografische Arbeit die Kälte. Eine Isolation erschien – die etwa so viel Fiktion enthält wie seine Romane Autobiographisches –, schrieb die Münchner Abendzeitung: „Ein Buch, das mit gleißender Genauigkeit Entsetzlichkeiten schildert.“ Schon in den sechziger Jahren bemerkt Ingeborg Bachmann über das Neue in der deutschsprachigen Literatur und die wiedergewonnene Wahrheit bei Bernhard: „In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue. Es ist nicht brauchbar, noch nicht brauchbar, integrierbar auch nicht“, mit Bernhard werde in der „deutschen Sprache wieder die allergrößte Schönheit, Genauigkeit, Art, Geist, Tiefe und Wahrheit geschrieben“. Die Genauigkeit, mit der Bernhard seine Geistesmenschen das Entsetzliche erfassen und analysieren lässt, ist Teil einer Strategie der Lebens- und Leidbewältigung.

Der Geistesmensch kennt auch ein Atmen, das frei von Disziplin ist: das Lachen. Seiner Disziplin, seinem Ernst und seiner Genauigkeit der Arbeit steht die Freude am Lächerlichmachen aller Kulturwerte entgegen. In Alte Meister wendet der Protagonist Reger das Lächerlichmachen als Methode an, um die Selbsttäuschung des Menschen in Bezug auf die Werte der Kultur aufzudecken. Das Vollkommene droht uns ununterbrochen mit Vernichtung und vernichtet uns tatsächlich. Das Reife und Schöne, das Vollkommene und Erhabene müssen zerstört werden, um die Sachverhalte einerseits erkennen, andererseits ertragen zu können. Kulturwerte sind relative Werte, die den Menschen korrumpieren. Nur was der Mensch lächerlich gemacht, in seiner Größe vernichtet hat, kann er ertragen. Das Lächerlichmachen zerstört die Werte der Kultur. Das Große erweist sich Bernhard zufolge immer nur als ein sogenanntes Großes. „Das sogenannte Große ist am Ende an dem Punkt angelangt, an welchem wir nur noch Rührung empfinden über seine Lächerlichkeit, Erbarmungswürdigkeit“. Im Gelächter über das Dasein wird das Streben nach Vollkommenheit vernichtet wie im Buddhismus und im Schopenhauerschen Quietiv. Das Gelächter löst das kulturell strukturierte Atmen und ist eine Grundlage für jedes Gelassensein und Loslassen. Sein Beitrag zur Lebensbewältigung liegt im Übertönen des Weltschmerzes durch das Lachen über die Welt und die menschliche Existenz. In der geistigen Vernichtung aller Werte entsteht die innere Haltung der Entspannung, des Gelassenseins, des Humors. Der Atem erfüllt hier seine Leid lösende Funktion.

Das Prinzip, dass die Elemente Geistesmensch, Denkbezirk, Krankheit, Objektiv und Gelächter miteinander verbindet, ist der Atem. Bernhard hat ihn als eine Disziplinierende Macht auch thematisiert. In der Erzählung Am Ortler wird eine „Atmungsschule“ vorgestellt. Die einzige Schule, die der Erzähler, ein Wissenschaftler, und sein Bruder, ein Akrobat akzeptieren. Ihr Lernziel heißt: „Kopf, Denken, Körper durch die Atmung beherrschen“, denn wenn „man die Atmung beherrscht, beherrscht man alles“. Jeder Tätigkeit, jedem Gefühl und jedem Denken entspricht eine eigene Art des Atmens. Wir beherrschen eine Handlung oder ein Denken erst dann, wenn wir die dazugehörige Atmung ausgebildet haben, was einen langen Prozess des Übens erfordert. So ist die „Atmungsschule“ eine paradoxe Institution: Sie steigert das Leid, um es zu überwinden

Generell zielt die Institution Schule über die Beherrschung des Atems auf die Beherrschung des Leids. Die Atembeherrschung diszipliniert Geist und Körper und führt den Schüler im Zurückhalten von Affekten und Emotionen an die Normen der Kultur heran. Sie macht körperliche Vorgänge kontrollierbar und schafft Innenräume für die Konzentration auf geistige Vorgänge, damit der Schüler lernt, sich auf das Verfolgen eines Gedankens ohne Ablenkung durch andere Sinnesreize konzentrieren zu können. Bis er die Ordnung eines abstrakten Stoffes erfassen und in ihm logische Operationen durchführen kann. Einübung in die Kultur ist eine einübung ins Leid. Das Leid zu beherrschen setzt der Geistesmensch die bewusste Ausbildung der Atmung ein – ihre Kultivierung und Übersteigerung, um das Leben zu beherrschen und zu kontrollieren. Der Atem reicht hinab in alle vier Ebenen des Leids, in die Psyche, die Physis, den Geist und die Sozialität. Das Kulturatmen, dass wir unbewusst praktizieren, aber auch das bewusste Atmen des Geistesmenschen, sein Gegenatmen. Das Gegenatmen ist Thomas Bernhards subversive Formen des Politischen und Philosophischen. Wie das gemeinsame Atmen in der Konspiration, nur eben allein, als ambivalente Variante: als Konspiration für sich allein, gegen die Welt und ihr Leidverursachen, zurückgezogen im Denkbezirk.

 


ajo Eickhoff, Die Vertiefung in den Schmerz. Thomas Bernhard als Philosoph des Leids. In: Heinze/ Kupke/ Kurth, (Hrsg.), Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seeliscHeinzehen Krankseins, Würzburg 2003

 

 

Die Vertiefung in den Schmerz

Thomas Bernhard als Philosoph des Leids

 

Man brauche die Menschenköpfe nicht aufzumachen,

um zu wissen, dass an Ihnen nichts anderes als eine

menschliche Katastrophe ist. Thomas Bernhard

 

Der Mensch erleidet die Welt. Leben ist Berührung mit der Welt. Berührung mit der Welt ist Leiden, Leiden die Unterwerfung der Geschöpfe unter die Zeit, ist Werden, Wachsen, Ereignis, Sterben. Wer das Leid in der Welt ertragen will, muss sich von der Zeit befreien, die Berührung mit der Welt vermeiden, den Atem begrenzen und das passive Eingebundensein in die Welt in ein bewusstes und aktives Einrichten eines eigenen Kosmos, einer geistigen Welt umgestalten.

Die Welt des Menschen ist Natur und Kultur. Der Mensch setzt das Leben in der Natur mit anderen Mitteln in seinen kulturellen Einrichtungen und Institutionen fort, indem er das kreatürliche Leiden zu einem kulturellen macht. Jede Kultur erzwingt vom einzelnen Menschen Handlungen, Kenntnisse und Verhaltensweisen, die über die Kontrolle des Atems gewonnen werden: Kultur ist die kontrollierte Einwirkung auf den Atem, dessen Beherrschung ein Mittel der Disziplinierung. Über die Atmung wird das Leiden in eine neue Form gebracht, in Disziplin, Kontrolle und geistig-abstrakte Vermögen.

Ihrer Entstehung nach gehören Leiden und Leid nicht zusammen. Leiden kommt von lidan (ahd.) und heißt gehen, fahren und reisen, Leid von laipa (germ.) und heißt widrig, unangenehm, übel. Im Christentum haben beide Worte dieselbe Bedeutung, in der das menschliche Dasein als Reise (Leiden) mit dem Jammertal (Leid) gleichgesetzt ist. Leiden wir zu Leid, Reisen zu einer widrigen Fahrt, die das Leben ist. Für das Abendland ist die Identität von Leiden und Leid verbindlich geworden. Die Arten der Berührung mit der Welt bilden eine Stufenfolge des Leidens. Als Fahren und Reisen ist Leiden ein Erfahren, ein Hinnehmen der Welt, ihr Dulden und Tolerieren. Mit einer bestimmten Intensität des Berührtwerdens kann Leiden in Leid umschlagen, in Beschwerlichkeit, Schmerz und Qual. Nicht jedes Leiden ist Leid, da Leid nur eine Unterart von Leiden ist.

Leid ist ein subjektives Befinden mit unterschiedlichen Ausdrucksformen wie Melancholie, Schmerz und Depression, Isolation, Trauer und Angst, mit Krankheit, Furcht und Langeweile. Als Befindlichkeit ist Leid eine physische, psychische, soziale und geistige Verfassung des Menschen mit einer charakteristischen körperlichen Gestalt und Haltung.

Zur Beherrschung des Leids hat der Mensch Mittel erfunden, die das Berührtwerden durch die Welt in einen anderen Modus überführen. In den Modus der Mittelbarkeit. Die Mittel sind methodische Zurichtungen von Seele und Leib. Der Umschlagpunkt von Leiden in Leid kann durch die Arbeit disziplinierender Kräfte weit hinaufgehoben werden. Das Berührtwerden von Disziplinarkräften ist ein allgemeiner Hintergrund jeder Kultur, der in der Regel verdrängt und nicht unmittelbar als Leid empfunden wird.

Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) ist ein Homöopath des Leids. Ein Streiter, der gegen alles opponiert, der sich mit jedem entzweit und der alles zersetzt. Auch sich selbst. Er ist ein Literat der Zersetzung. Vernichtung, Furcht, Hass, Ungeheuerlichkeit, Ekel oder Entsetzen bilden ein Wortgerüst seiner Werke. Aber obwohl die Begriffe die Welt in Leid und Weltschmerz zerlegen, steckt in Thomas Bernards scheinbar destruktiven Werken und öffentlichen Äußerungen auch ein konstruktives Konzept. Er stellt dem Leid an der Welt – dem Weltschmerz – ein geschütztes Leben im Geist entgegen. Das Leben im Geist ist eine Disziplinierung, die den Menschen vergeistigt. Eine andere Art des Leids: eine Weise der Erkenntnis. Über das zweite Leid, das eine höhere Form des Schmerzes ist, kann das erste ertragen werden. Im Heilen des einen durch das andere Leid erweist sich Thomas Bernhard als Homöopath.

Unerbittlich stellt er dem Schmerz in all seinen Arten nach. Er spürt ihn auf, weist auf ihn hin und macht ihn in seiner Literatur sichtbar. Er knüpft an religiöse Ideen, an Schriftsteller und Philosophen und an seine eigene Biographie an. In der Familie, in der Schule und durch die Erfahrungen des Krieges empfindet er Schmerz schon früh als ein zentrales Element des Daseins. Als Siebzehnjähriger erkrankt er an Tuberkulose und leidet zeitlebens unter einem schwachen, raschen Atem. Dem Atem der Angst, das Schmerzes und der Disziplin.

Thomas Bernhard steht in einer langen Tradition kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen menschliche Existenz und den konkreten Lebensweisen des Menschen. Religiöse, philosophische und wissenschaftliche Vorstellungen erweisen sich oft als ideelle Programme, den Menschen das Leid zu nehmen, indem sie ihm die Berührung mit der Welt ersparen wollen. Die Philosophie sucht Distanz in der Melancholie, die Religion in der Entsagung, die Wissenschaft in der Abstraktion. Thomas Bernhard geht einen Schritt weiter. Er lässt den Geist des Menschen im Denkbezirk eine radikale Geistesexistenz realisieren, die ein Ideal der modernen Gesellschaft ist, dass sie bisher aber nicht erreicht hat. Er geht auch weiter als seine Vorbilder: Er wendet literarische Ideen von Novalis, philosophische Gedanken von Schopenhauer, religiöse Anschauungen des Christentums, Motive des Buddhismus sowie wissenschaftliche Erkenntnisse auf seine literarische Hauptfigur, den Geistesmenschen, an und zeigt dessen Aktivismus, sie vom Leid freizumachen, erzählt aber von der Vergeblichkeit ihrer Mühen, da Leid bleibend ans Leben gebunden ist. Das Kreuz auf sich nehmen, ins Nirwana eingehen, Einswerden mit dem Göttlichen, sich ins Quietiv Schopenhauers begeben oder sich der Technik ausliefern sind Bernhard keine erfolgreichen Wege aus dem Leid, bestenfalls Strategien des Überlebens. Am Geistesmenschen vollstreckt Bernhard literarisch das Urteil, Leid als Selbstdisziplin, Atemkontrolle und Vergeistigung auf sich zu nehmen.

 

Kulturelles und naturhaftes Leid

 

Leid ist ein der Natur innewohnendes Prinzip. Hunger, Gefahr, Verwundung, Tod. In seiner vergleichenden Anatomie hat Arthur Schopenhauer die leidvolle Seite des Daseins analysiert. Die Gestalt der Lebewesen sei Ausdruck ihres Willens. Des Willens der Spezies, nicht des Individuums. Ihm zufolge ist jede Gestalt des Lebens eine von den Lebensumständen hervorgerufene Sehnsucht des Willens zum Leben. Die bis ins Einzelne reichende Angemessenheit jedes Lebewesens zu seiner Lebensart, zu den äußeren Mitteln seiner Erhaltung sowie durch die Zweckmäßigkeit in allen Teilen sei Ausdruck eines tätigen Willens, des Prinzips der Welt. So ausgestattet und aufeinander abgestimmt treffen die Lebewesen aufeinander. Angreifer mit weitem Blick, starken Muskeln, lautlosen Flügelschlägen oder furchtbarem Gebiss, Flüchtige mit feiner Nase, Tarnfähigkeit, scharfem Gehör oder flinken Beinen. Zwischen den Tieren besteht eine leidvolle, abhängige Verbindung: „Der Aufenthaltsort der Beute bestimmt die Gestalt des Verfolgers.“ Die Tierwelt ist auf das Jagen, Umstellen, Fassen und Verzehren hin ausgerichtet: „Denn wo ein Lebendes athmet, ist gleich ein anderes gekommen, es zu verschlingen, und ein jedes ist durchweg auf die Vernichtung eines anderen wie abgesehen und berechnet.“ Schmerz, Verwundung, Krankheit und Vernichtung sind die Elemente der naturhaften Seite des Leids, das im Tod für ein Lebewesen seine Grenze und im Ernähren seines Verfolgers seine Erfüllung findet. Auch der Mensch stand als Kampfglied in dieser Reihe, in der Bär, Krokodil, Haifisch oder Tiger ihm nach dem Leben trachteten. Er hat die Gefahr durch ein Instrumentarium von Waffen und von Jagd- und Verteidigungstechniken gebannt. An die Stelle der Gefahr durch das Tier sind kulturelle Gefahren und die Technik getreten.

 Leid ist auch ein der Kultur innewohnendes Prinzip. es entsteht dadurch, dass die Heranwachsenden durch den Erwerb von Fertigkeiten und durch Verbote auf das jeweilige Kulturniveau angehoben werden. Je differenzierter eine Kultur ausgebildet ist, desto grösser die Disziplinierung, die jungen Menschen abverlangt wird. In der Arbeit am Wissen und im Befolgen einer Moral, die zur Aufrechterhaltung der Kultur notwendig ist, liegt das systematische Leid an der Kultur. Wahrnehmbar ist diese Art des Leids immer dann, wenn ein großer Schub an Disziplinarkräften erforderlich ist, wie beim Umbruch einer Kultur. Die Taten der Stifter solcher Disziplinarkräfte wie Buddha, Abraham, Christus und Mohammed werden in einen Mythos eingeschrieben und weitererzählt. Wenn der Mensch nach Bedeutung und Zweck seines Lebens sucht, kann die Welt stören. Die Zwiesprache mit Bedeutung stiftenden Medien findet nur bedingt im Rückgriff auf die Welt statt. Lebensbedeutung entwickelt sich im Transzendieren der Sinne. Im Gewinn von Distanz und dem Einnehmen eines beobachtenden, theoretischen Standpunktes, von dem aus Welt- und Selbstreflexion stattfinden. Da der Mensch das Leid nicht überwinden kann, kann er nur lernen, es zu beherrschen, es durch eine strenge Zucht von Körper und Geist als Erkenntnis handhabbar zu machen.

 

Askese und Atem

 

Religiöse und philosophische Konzepte sehen im Rückzug  in der Abgeschiedenheit und in der Flucht aus der profanen Welt eine Bedingung zur Erlösung von Leid. Der Weg führt durch und über den menschlichen Leib, der in strengen und Schmerz verursachenden Übungen geordnet wird. Askese, Fasten und Gebet wirken auf den Atem, der Herzschlag, Kreislauf und Muskulatur beeinflusst und den Menschen in eine charakteristische Körperhaltung und eine innere Verfassung, die Gefasstheit, bringt.

 Der Atem wird auf zwei Wegen manipuliert: von außen über die Haltung und die Gestalt des Körpers und von innen über die geistige Einstellung, die Meditation. Über ihn analysieren sie die Sinne, ziehen sie von den Objekten ab, lenken sie nach innen und kontrollieren die Geisteskräfte. Der Atem des Menschen ist eine vermittelnde Instanz zwischen Übersinnlichkeit und Leib. Indem er sich mit dem göttlichen Hauch verbindet, die Einzelseele mit der Weltseele, kann er sich von der sinnlichen Welt ein Stück unabhängig machen, sich auf innere Vorgänge konzentrieren und vergeistigen.

Alle Weltreligionen stellen das Bemühen um die Erlösung von Leid in den Mittelpunkt ihrer religiösen Aktivität. Ihre Anhänger unterscheiden sich nach der Art, wie sie den Atem einsetzen und sich von den Sinneswahrnehmungen freimachen: im ekstatischen Tanz der Derwische, im rhythmischen Wechsel der Körperhaltung der christlichen Mönche im Chorstuhl, im Aussprechen eines Mantras des Hindu oder in der Versenkung des Buddhisten im Lotussitzen. Die Atemtechnik erzeugt zwei Zustände, in denen der Mensch außerhalb seiner Mitte, seines Ich, geraten und darin Leid ertragen kann. Er kann seine Sinne nach innen lenken und in sich eintreten (Askese) oder sie mit dem Gefühl der Liebe ausfüllen und aus sich heraustreten (Ekstase). Im Jenseits des Ich lebt der Mensch außerhalb von Zeit und Raum und verliert die Welt ihre Ereignishaftigkeit.

Der indische Prinz Siddhartha Gautama führt ein behütetes Leben, bis er von der menschlichen Not und der Vergänglichkeit des Lebens erfährt. Seine Erschütterung darüber ist ein Beispiel für geistigen Schmerz. Er gibt seine Geborgenheit auf und lebt fortan als Asket. Meditation und innere Versenkung im Lotussitz führen ihn zur Einsicht in das Wesen der Welt. In Armut lebend zieht er mit seinen Schülern umher und nimmt äußerlich gerade das an, was ihn erschütterte: das konkrete Leid an der Welt. Nach seiner Lehre sind Selbstsucht, Hunger auf das Leben und die Metamorphose von Geburt, Tod und Wiedergeburt Ursachen menschlichen Leids. In der Erleuchtung, dem Nirwana, findet der Mensch Einsicht und Stille. Nirwana ist Leere und leidlose Ruhe, gewonnen in der leidvollen Strenge von Armut und Askese.

Auch bei den hinduistischen Yogis entspricht die innere Einstellung zum Leben der äußeren Haltung des Lotussitzens. Körperhaltung und Atemtechnik heben das Ich und die Bindung an den Körper auf. Yogis transzendieren ihre Körpergrenze und werden mit dem Brahman, der Weltseele, eins. Auch Mystiker verlieren das Gefühl für die Grenze ihres Körpers, wenn sich ihre Seele von der Materie ablöst und die Stufen der Spiritualisierung durchläuft und bis zur Vereinigung mit dem Göttlichen aufsteigt. Unvermittelt gelangen Mystiker, Yogis und Buddhisten ohne Bilder und Schrift, ohne Gedanken und ohne begriffliche Erkenntnis ins Göttliche, denn ihr Geist ist leer: eine Weise des Daseins und der Erkenntnis, die die Sinne und das begriffliche Wissen übersteigt.

Das Christentum hat dem Leid zwei entgegengesetzte Werte zugeordnet. Da Leid ein Übel ist, ist es zugleich ein Gut, denn als Übel ist es geeignet, das Beste aus den Menschen herauszuholen und seine Persönlichkeit zu erweitern und zu festigen. Leid erzeugt die Tugend der Leidensfähigkeit, nach der Elend, Missgeschick und Unglück ertragen werden kann können, ohne moralisch zu zerbrechen. Jesus Christus nimmt das Leid auf sich und bringt eine Religion hervor, die den Menschen für eine höhere Form des Leids leidensfähig macht. Am eigenen Leib demonstriert er, welcher Art die Disziplinierung ist, die in die Welt getragen werden soll, um das Leid zu überwinden. In seiner Passion konzentriert sich das menschliche Leid, das mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnt und mit der Apokalypse, dem harschen Ende der Welt und ihrem Neuanfang, abbricht. Der Schmerz trifft den Menschen als Strafe Gottes, der die Menschen zur Zivilisierung antreibt. Da die Passion Jesu eine Basis der Disziplinierung ist, ist es der Körper, der den bösen Mächten ausgeliefert bleibt. Konsequent entwickelt sich die Idee Christi im Klosterleben der Mönche. Das Kloster übt systematisch ins Leid ein, um Leid zu überwinden. Vorbild ist ein keusches Leben in Armut, das sich um Arbeiten und Beten konzentriert. In der Abgeschiedenheit und im Schweigen, im Singen und im Haltungswechsel des Körpers im Chor wird der Atem strukturiert und werden die Klosterinsassen in eine demütige Fassung gebracht, die Geist und Leib spiritualisiert.

Die Orte, an denen Menschen sich läutern, sind geläuterte Orte: isolierte Kulturräume, entweltlichte Winkel, Anti-Welten, ideelle Aufenthalte, Utopien. Ihre topologische und geistige Lehre ist Potenzialität, ist Raum für die Aufhebung von Selbstsucht und Individualität. Im Leid wird der Mensch durch körperliche Übungen rein und frei von gesellschaftlicher Konvention.

Die Antike hat im Leid ein Übel gesehen. Das Ideal des Stoizismus ist die unerschütterliche Ruhe der Seele in allen Lebenslagen: die Steigerung der Innerlichkeit gegen alles Äußerer zur höchsten Kraft. Die Vorstellung des mittelalterlichen Menschen vom Leben entspricht den Idealen des Christentums: Erlösung vom Leid an der Welt und Zugang zum ewigen Leben. Die Neuzeit hat rationale Konzepte und die Technik zur Überwindung des Leids entwickelt.

Am Beginn der Neuzeit stehen die Gesellschaftsutopien von Thomas Morus (1478-1535), Francis Bacon (1561-1626) und Tommaso Campanella (1568-1639), in denen sie ihre Vorstellungen von einem leidlosen Dasein schildern, frei von Armut, langer Krankheit und Ungerechtigkeit. Ein paradiesischer und zukunftsgerichteter Gesellschaftszustand, in dem Naturverbundenheit und Zivilisation miteinander verschmolzen sind. Die Lebensweise in der modernen Gesellschaft, im Bemühen entstanden die Menschen vom Leid an Kultur und Natur zu befreien, trägt durch die technisch vermittelte Existenz in sich ein hohes Maß an Leid: Die Menschen leben in Distanz zueinander, erwerben abstrakte Formen des Wissens, des Handelns und Verhaltens, die trennen und einen schmerzhaften Verlust an Unmittelbarkeit bedeuten.

Novalis (1772-1801) sind Krankheit und Schmerz Erkenntnismittel. Der Kranke ist der Wahrheit näher als der Gesunde, näher am Wesen des Lebens. Schopenhauer (1788-1854) verbindet die Philosophie Kants mit dem Buddhismus und sieht die Erlösung des Menschen im Quietiv, im Überwinden des Willens zum Leben. Karl Marx (1818-1883) sucht im Kommunismus die Aufhebung allen Leids, Sigmund Freud (1856-1939) in der Psychoanalyse, in der besondere Formen des Leids in ein normales Unglück umgewandelt werden sollen. Cioran (1911-1995), der Gesundheit den Zustand des Nichtempfindens nennt, sind Krankheit und ihre Nähe zum Tod die Basis von Erkenntnis und Wahrheit. Für Thomas Bernhard sind Kranke und Leidtragende Hellsichtige.

Im Leid und in seiner Chronifizierung bleibt der Leidende auf seine Existenznot konzentriert. Mit der Frage nach der Bedeutung von Schmerz und Leid wird er auf die Bedeutung seiner Existenz jenseits von Gewohnheit und Alltäglichkeit gestoßen. Da alle Menschen durch ihre kulturelle Prägung in ihrer Kultur gefangen sind, bleibt die besondere Art des Leids einer Epoche so lange verdeckt, bis jemand die verdeckenden Masken und Fassaden auf der Suche nach Wahrheit herunterreißt.

 

Denkbezirk und Leid

 

Für Thomas Bernhard ist Schmerz der Stachel, der alle Elemente des Universums miteinander verbindet. Kein Gegenstand ist stumm. Alles drückt fortwährend seinen Schmerz aus. Indem Bernhard die Welt radikal und einseitig vor allem unter dem Blickwinkel des Schmerzes fast, trifft er in der Einseitigkeit etwas Wesentliches unserer Existenz: Jenseits der das Leben bewältigenden Gewohnheit ist das Dasein ohne Bedeutung, schmerzvoll, absurd und ohne Trost. Schmerz ist eine Substanz des Seins.

Ebenso wie die Lebewesen bei Schopenhauer sind Wetter und geologische Formationen darauf hin geordnet, sich in einer festgelegten Richtung zu zerstören. Das Wesen der Natur ist Grausamkeit, was Sie hervorbringt, Schmerz. Jagen und Gejagtwerden, ein unablässiger Lebenskampf. In seinen ersten Roman Frost von 1963 ist von Landstrichen die Rede, durch die „auf die Dauer Menschen verrückt werden“, und von Landschaften, die einem fortwährend ins Gesicht schlagen. Auch die schlagende Landschaft wird geschlagen. Sie unterliegt der Gewalt des Klimas, das „ganzen Gebirgsmassiven ins Gesicht schlägt, dass sie zittern“. Das Grausame der Natur setzt sich fort in der menschlichen Gesellschaft und wird in ihren Institutionen befestigt. Die sozialen Verhältnisse sind Gewaltverhältnisse. Der menschliche Körper wird in menschlichen Beziehungen, in der Schule und im Straßenverkehr angegriffen.

Ein gutes Körpergefühl ist phänomenologisch die Abwesenheit von Schmerz. In einem solchen Gefühl scheint der Körper abwesend. Erst in der Störung – im Kranksein oder im Leid – entwickelt er sich zu einer anwesenden Gestalt, zu einem Raumkörper. Der Weltbezug wird zum Selbstbezug. Im Roman Verstörung heißt es: „Die Qual ist in meinem Körper wie ein zweiter Körper.“

Körper sind also Schmerzgebäude. Bernhard umkreist sie, um sie über den Schmerz zu öffnen und begehbar zu machen. Er schafft im Körper Denkraum. Vom Schlagen eines Gedankengangs an die Schädelinnenwand ist die Rede und davon, dass jemand „in seinen Verzweiflungen hin und her“ geht. Bernhard selbst hat sich den eigenen Körper durch seine Lebensweise bewusst gemacht und ist den verschiedenen Arten und Intensitäten des Schmerzes nahegekommen. Er tastet den Innenraum des Menschen ab, durchschreitet und erkundet die Bereiche der Existenz des vom Schmerz getroffenen und im Leid gefangenen Menschen. Er hat das Leid verkörpert, auf sich genommen und daraus Literatur und eine Betrachtungsweise der Welt gemacht: Seine Protagonisten weichen dem Schmerz nicht aus, sondern bewältigen das Leid, indem sie geistig in das Leid hineingehen, den Schmerz vertiefen. In der Vertiefung wird der Schmerz erkannt, angenommen und nutzbar gemacht.

In seine zentrale literarische Figur kann man den Geist des Menschen, hat Bernhard eine Theorie der Relativierung des Leids eingeschrieben. Geistesmenschen sind Denker, Maler, Wissenschaftler oder Musiker, die sich aus Abscheu von der Gesellschaft abkehren. Alte und kranke Männer, melancholisch feindselig und verzweifelt, deren Grübeln um das Leid der Existenz kreist. Leidenschaftlich und kompromisslos suchen sie nach Zweck und Bedeutung des Lebens, finden sie aber nicht in dem, was von Natur aus und von der Kultur her gegeben ist. Sie sind genaue Beobachter und machen treffende Analysen über die Gesellschaft, die Welt und über sich selbst. Im Geistesmenschen zeigt Bernhard, wie Natur und Kultur am Menschen arbeiten. Wie die Natur ihn grausam und verbrecherisch macht und wie einerseits die Kultur die Kräfte der Natur unterstützt und andererseits der Geistesmensch mit den Kräften der Kultur den Katastrophen des Daseins entgegenarbeitet. Doch der Geistesmensch ist eine ambivalente Gestalt, denn seiner Geistesgegenwart steht die Unfähigkeit gegenüber, das Wissen für seine Integration in die Gesellschaft zu nutzen, da er die Ideale, die sie vorgibt und die sich vor allem am sinnlich Gegebenen orientieren, nicht annehmen kann. Denn er schöpft Zweck und Bedeutung für sein Leben gerade daraus, dass er die Welt mit dem Geist aufnimmt und verarbeitet, nicht mit den Sinnesorganen, denn die sinnlich gegebene Welt erscheint ihm nichtig. Er sucht eine reine Welt, gereinigt von Konvention und Sinneseindrücken. Er sucht nach Lebensbedeutung, nicht nach Lebenssinn. So entwirft er seinen Gegenkosmos und eine Gegengesellschaft, die er nach den Gesetzen von Disziplin und Vergeistigung konstruiert, den Gesetzen des kultivierten Schmerzes. In der Beurteilung gesellschaftlicher Konvention gleicht der Geistesmensch dem Mönch, dem Yogi, demjenigen, der seinen Willen zum Leben absterben lässt, und den Buddhisten

Der Gegenkosmos ist ein geistiger Bezirk, in dem der Geistesmensch grübelt und sich ausruht, die Gegengesellschaft ist eine Minimalgesellschaft. Linderung findet der Geistesmensch im Rückzug. Den Massenmenschen verabscheut er ebenso wie das stillgestellte und aggressive Individuum. Er radikalisiert das Ideal der rationalen Lebensführung der modernen Gesellschaft, indem er bewusst sein Dasein als absolute Geistesexistenz entwirft.

Krankheit und Leid des Geistesmenschen bilden im Werk Bernhards ein festes Skelett: Verletzungen, Krankheit, Todesfurcht und Panik. Die geringe körperliche Bewegung, die Schwäche der Muskulatur, die Angst infolge von Krankheit und die Nähe zum Tod wirken hemmend auf die Atmung. Bernhards Geistesmenschen leiden oft unter der Furcht, ersticken zu müssen. Ihre Todesangst sensibilisiert sie und beflügelt ihren Prozess der Vergeistigung. im Roman Verstörung sagt der Fürst Saurau: „Die Krankheiten führen den Menschen am kürzesten zu sich selbst.“ Der Kranke ist derjenige der die Transzendenz der Krankheit besitzt und „tiefer in das Wesen des Lebens einzudringen vermag“ und „über den Tod zu einem höheren Leben“ gelangt. Der Geistesmensch nutzt das Wissen um den Zusammenhang von körperlicher Versehrtheit und höchster Denkkraft zur Überwindung des Leids.

Versuche, sich vom Leid zu befreien, ereignen sich im Denkbezirk. Denkbezirke sind ungewöhnliche Räume und Gebäudekomplexe symbolische Orte und selbstgeweihte Krisenräume: Krankenhäuser, Strafanstalten oder abgeschiedene Räume. Mönchische Orte der Einsamkeit und der Konzentration. Letztlich aber kann jeder beliebige Ort zum Denkraum werden, zum Kosmos des Geistesmenschen. In ihm ordnet er sein Leben, versucht, es zur Ruhe zu bringen oder ihm eine Wende zu geben. In Verstörung hält ein industrieller Kontakt mit der Außenwelt nur noch durch die Post. Er schreibt an einer wissenschaftlichen Arbeit, bleibt aber in Berührung mit seinen zahlreichen florierenden Unternehmungen. Die Fenster seines Hauses sind verdunkelt, im Arbeitszimmer duldet er nur Tisch, Stuhl und leeres Papier. Zu keiner Zeit lässt er sich von der Arbeit ablenken. Er sagt: „Da alle Zimmer in diesem Haus vollkommen leer sind, kann ich in der Finsternis, die in ihm herrscht, an keinen Gegenstand anstoßen. Als Material für das, was er schreibt, genügt ihm die Erfahrung der Vergangenheit, das, was er in vierzig Jahren in der Welt erlebt hat. Er lebt aus dem Geist – aus seinen Erinnerungen und seinem Denken, ohne Verunreinigung durch aktuelle Sinneseindrücke. Auf die Frage eines Landarztes, ob er ihm den Sohn vorstellen dürfe, antwortet er entschieden: „Nein, ich will ihren Sohn nicht sehen. Ein neuer Mensch, ein neues Gesicht, ruiniert mir alles.“ Sinneseindrücke – die Berührung mit der Welt – stören. Zimmerluft, Dunkelheit, kurze Wege, sitzendes Schreiben, Abschließung von der Natur und den Menschen sind charakteristische Elemente der Existenz im Denkbezirk. Den zersetzenden Begriffen, den Charakteristika der Welt, stehen die Begriffe, die den Denk Bezirk charakterisieren, gegenüber: Schreiben, reflektierendes Beobachten, Sitzen, Wissenschaft, Ruhe.

Im Denkbezirk leistet der Geistesmensch Geistesarbeit. Die Geistesarbeit ist eine Analyse der Begriffe, die eine Krankheit oder ein anderes Leid bezeichnen. Re-Signation ist die Aufhebung eines Zeichens, welches das Leid festgeschrieben hat. Das Zeichen verliert seine Kraft und macht den Geist des Menschen gegen das Leid indifferent, gleichgültig, macht ihm das Leid ertragbar. Zur Charakterisierung der positiven Kräfte des Geistes wie der Gefahren, den er ausgesetzt ist, hat Bernhard hunderte mit „Geist“ zusammengesetzte Begriffe erfunden: Geistesexistenzminimum, Geistesgewalttäter, Geistesbedürfnis, Geistesvernichtungsanstalt, Geistesaktivität, Geistesscharlatan, Geistesunbestechlichkeit, Geistesenthemmung, Geistesurheberschaft, Geistesunrat, Geistesparadies, Geistesproduktionsstätte, Geisteszwangslage, Geistesverbrechen, Geisteseskapaden und Geistesniedertracht.

Das Unbehagen in der Kultur ist in der Regel ein gesellschaftliches Tabu und wird durch Verdrängung bewältigt. Der Geistesmensch nimmt die Kultur als Leid an. Zugleich zieht er aus dem Kampf gegen das Leid durch die Kultur, den er selbst als Leid erlebt, seinen Lebenszweck. Seine Erlösung liegt darin, dass er das zivilisatorische Programm realisiert und das Leid erhöht, denn das zusätzliche Leid ist ein selbst verordnetes, selbst gewolltes und selbst entwickeltes Leid. Er verdrängt das Leid nicht, sondern gibt ihm eine eigene Form und nimmt es an.

 In der Paradoxie der Überwindung des Leids durch Leid ist das extreme Geistesleben des Geistesmenschen auch ein Leben im Scheitern, denn Isolation, Konzentration und Geistesschärfe korrespondieren mit dem Mangel an Sinnesaktivität und zunehmender Vereinsamung, in welcher die Geistesmenschen ihr „Denken so lange denken und intensivieren und alles außerhalb ihres Denkens so lange ignorieren, bis sie von dieser Leidenschaft erdrückt und erstickt und vernichtet werden“, heißt es in Die Billigesser.

Das ordnende Mittel zur Überwindung des Leids im Denkbezirk ist das Objektiv. Das Objektiv, von dem Bernhard in Die Kälte. Eine Isolation spricht, kann als eine kleine Theorie der Natur und der Gesellschaft angesehen werden. Der Kalkül der Theorie besteht aus vier Hauptsätzen und zwei Regeln. Die Hauptsätze heißen: „Die Welt ist eine Kloake“, Die Natur ist grausam“, „Der Mensch ist verzweifelt“, „Der Mensch ist gemein“. Die zwei Regeln lauten: „Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist“ und „Die Absurdität ist der einzig mögliche Weg“. Jeder Untersuchung über das Leid durch die Natur und die Gesellschaft liegen die Sätze des Objektivs zugrunde. Es handelt sich um einen Wahrnehmungs- und Denkfilter, der die subjektiven Daten zu einem Weltbild objektiviert. Durch ihn hindurch blickt der Geistesmensch auf die Welt, um Daten aufzunehmen, zu ordnen und sichere Aussagen über Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Die Leitsätze des Objektivs bilden einen festen Anker im Strom der Phänomene. So angeschaut ist die Welt immer gleich, unbeweglich und einseitig, dafür aber klar und präzise. Schmerz und Leid sind kalkulierbar. In der Einseitigkeit und Einfachheit ist das Objektiv ein Mittel der Erkenntnis. „Sich zu beherrschen sei das Vergnügen, sich vom Gehirn aus zu einem Mechanismus zu machen, dem man befehlen kann und der gehorcht. Allein in dieser Beherrschung könne der Mensch glücklich sein und erkenne er seine Natur“, heißt es in Verstörung. Als im Jahre 1981 von Bernhard die autobiografische Arbeit die Kälte. Eine Isolation erschien – die etwa so viel Fiktion enthält wie seine Romane Autobiographisches –, schrieb die Münchner Abendzeitung: „Ein Buch, das mit gleißender Genauigkeit Entsetzlichkeiten schildert.“ Schon in den sechziger Jahren bemerkt Ingeborg Bachmann über das Neue in der deutschsprachigen Literatur und die wiedergewonnene Wahrheit bei Bernhard: „In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue. Es ist nicht brauchbar, noch nicht brauchbar, integrierbar auch nicht“, mit Bernhard werde in der „deutschen Sprache wieder die allergrößte Schönheit, Genauigkeit, Art, Geist, Tiefe und Wahrheit geschrieben“. Die Genauigkeit, mit der Bernhard seine Geistesmenschen das Entsetzliche erfassen und analysieren lässt, ist Teil einer Strategie der Lebens- und Leidbewältigung.

Der Geistesmensch kennt auch ein Atmen, das frei von Disziplin ist: das Lachen. Seiner Disziplin, seinem Ernst und seiner Genauigkeit der Arbeit steht die Freude am Lächerlichmachen aller Kulturwerte entgegen. In Alte Meister wendet der Protagonist Reger das Lächerlichmachen als Methode an, um die Selbsttäuschung des Menschen in Bezug auf die Werte der Kultur aufzudecken. Das Vollkommene droht uns ununterbrochen mit Vernichtung und vernichtet uns tatsächlich. Das Reife und Schöne, das Vollkommene und Erhabene müssen zerstört werden, um die Sachverhalte einerseits erkennen, andererseits ertragen zu können. Kulturwerte sind relative Werte, die den Menschen korrumpieren. Nur was der Mensch lächerlich gemacht, in seiner Größe vernichtet hat, kann er ertragen. Das Lächerlichmachen zerstört die Werte der Kultur. Das Große erweist sich Bernhard zufolge immer nur als ein sogenanntes Großes. „Das sogenannte Große ist am Ende an dem Punkt angelangt, an welchem wir nur noch Rührung empfinden über seine Lächerlichkeit, Erbarmungswürdigkeit“. Im Gelächter über das Dasein wird das Streben nach Vollkommenheit vernichtet wie im Buddhismus und im Schopenhauerschen Quietiv. Das Gelächter löst das kulturell strukturierte Atmen und ist eine Grundlage für jedes Gelassensein und Loslassen. Sein Beitrag zur Lebensbewältigung liegt im Übertönen des Weltschmerzes durch das Lachen über die Welt und die menschliche Existenz. In der geistigen Vernichtung aller Werte entsteht die innere Haltung der Entspannung, des Gelassenseins, des Humors. Der Atem erfüllt hier seine Leid lösende Funktion.

Das Prinzip, dass die Elemente Geistesmensch, Denkbezirk, Krankheit, Objektiv und Gelächter miteinander verbindet, ist der Atem. Bernhard hat ihn als eine Disziplinierende Macht auch thematisiert. In der Erzählung Am Ortler wird eine „Atmungsschule“ vorgestellt. Die einzige Schule, die der Erzähler, ein Wissenschaftler, und sein Bruder, ein Akrobat akzeptieren. Ihr Lernziel heißt: „Kopf, Denken, Körper durch die Atmung beherrschen“, denn wenn „man die Atmung beherrscht, beherrscht man alles“. Jeder Tätigkeit, jedem Gefühl und jedem Denken entspricht eine eigene Art des Atmens. Wir beherrschen eine Handlung oder ein Denken erst dann, wenn wir die dazugehörige Atmung ausgebildet haben, was einen langen Prozess des Übens erfordert. So ist die „Atmungsschule“ eine paradoxe Institution: Sie steigert das Leid, um es zu überwinden

Generell zielt die Institution Schule über die Beherrschung des Atems auf die Beherrschung des Leids. Die Atembeherrschung diszipliniert Geist und Körper und führt den Schüler im Zurückhalten von Affekten und Emotionen an die Normen der Kultur heran. Sie macht körperliche Vorgänge kontrollierbar und schafft Innenräume für die Konzentration auf geistige Vorgänge, damit der Schüler lernt, sich auf das Verfolgen eines Gedankens ohne Ablenkung durch andere Sinnesreize konzentrieren zu können. Bis er die Ordnung eines abstrakten Stoffes erfassen und in ihm logische Operationen durchführen kann. Einübung in die Kultur ist eine einübung ins Leid. Das Leid zu beherrschen setzt der Geistesmensch die bewusste Ausbildung der Atmung ein – ihre Kultivierung und Übersteigerung, um das Leben zu beherrschen und zu kontrollieren. Der Atem reicht hinab in alle vier Ebenen des Leids, in die Psyche, die Physis, den Geist und die Sozialität. Das Kulturatmen, dass wir unbewusst praktizieren, aber auch das bewusste Atmen des Geistesmenschen, sein Gegenatmen. Das Gegenatmen ist Thomas Bernhards subversive Formen des Politischen und Philosophischen. Wie das gemeinsame Atmen in der Konspiration, nur eben allein, als ambivalente Variante: als Konspiration für sich allein, gegen die Welt und ihr Leidverursachen, zurückgezogen im Denkbezirk.

 

der Geistesmensch dem Mönch, dem Yogi, demjenigen, der seinen Willen zum Leben absterben lässt, und den Buddhisten

Der Gegenkosmos ist ein geistiger Bezirk, in dem der Geistesmensch grübelt und sich ausruht, die Gegengesellschaft ist eine Minimalgesellschaft. Linderung findet der Geistesmensch im Rückzug. Den Massenmenschen verabscheut er ebenso wie das stillgestellte und aggressive Individuum. Er radikalisiert das Ideal der rationalen Lebensführung der modernen Gesellschaft, indem er bewusst sein Dasein als absolute Geistesexistenz entwirft.

Krankheit und Leid des Geistesmenschen bilden im Werk Bernhards ein festes Skelett: Verletzungen, Krankheit, Todesfurcht und Panik. Die geringe körperliche Bewegung, die Schwäche der Muskulatur, die Angst infolge von Krankheit und die Nähe zum Tod wirken hemmend auf die Atmung. Bernhards Geistesmenschen leiden oft unter der Furcht, ersticken zu müssen. Ihre Todesangst sensibilisiert sie und beflügelt ihren Prozess der Vergeistigung. im Roman Verstörung sagt der Fürst Saurau: „Die Krankheiten führen den Menschen am kürzesten zu sich selbst.“ Der Kranke ist derjenige der die Transzendenz der Krankheit besitzt und „tiefer in das Wesen des Lebens einzudringen vermag“ und „über den Tod zu einem höheren Leben“ gelangt. Der Geistesmensch nutzt das Wissen um den Zusammenhang von körperlicher Versehrtheit und höchster Denkkraft zur Überwindung des Leids.

Versuche, sich vom Leid zu befreien, ereignen sich im Denkbezirk. Denkbezirke sind ungewöhnliche Räume und Gebäudekomplexe symbolische Orte und selbstgeweihte Krisenräume: Krankenhäuser, Strafanstalten oder abgeschiedene Räume. Mönchische Orte der Einsamkeit und der Konzentration. Letztlich aber kann jeder beliebige Ort zum Denkraum werden, zum Kosmos des Geistesmenschen. In ihm ordnet er sein Leben, versucht, es zur Ruhe zu bringen oder ihm eine Wende zu geben. In Verstörung hält ein industrieller Kontakt mit der Außenwelt nur noch durch die Post. Er schreibt an einer wissenschaftlichen Arbeit, bleibt aber in Berührung mit seinen zahlreichen florierenden Unternehmungen. Die Fenster seines Hauses sind verdunkelt, im Arbeitszimmer duldet er nur Tisch, Stuhl und leeres Papier. Zu keiner Zeit lässt er sich von der Arbeit ablenken. Er sagt: „Da alle Zimmer in diesem Haus vollkommen leer sind, kann ich in der Finsternis, die in ihm herrscht, an keinen Gegenstand anstoßen. Als Material für das, was er schreibt, genügt ihm die Erfahrung der Vergangenheit, das, was er in vierzig Jahren in der Welt erlebt hat. Er lebt aus dem Geist – aus seinen Erinnerungen und seinem Denken, ohne Verunreinigung durch aktuelle Sinneseindrücke. Auf die Frage eines Landarztes, ob er ihm den Sohn vorstellen dürfe, antwortet er entschieden: „Nein, ich will ihren Sohn nicht sehen. Ein neuer Mensch, ein neues Gesicht, ruiniert mir alles.“ Sinneseindrücke – die Berührung mit der Welt – stören. Zimmerluft, Dunkelheit, kurze Wege, sitzendes Schreiben, Abschließung von der Natur und den Menschen sind charakteristische Elemente der Existenz im Denkbezirk. Den zersetzenden Begriffen, den Charakteristika der Welt, stehen die Begriffe, die den Denk Bezirk charakterisieren, gegenüber: Schreiben, reflektierendes Beobachten, Sitzen, Wissenschaft, Ruhe.

Im Denkbezirk leistet der Geistesmensch Geistesarbeit. Die Geistesarbeit ist eine Analyse der Begriffe, die eine Krankheit oder ein anderes Leid bezeichnen. Re-Signation ist die Aufhebung eines Zeichens, welches das Leid festgeschrieben hat. Das Zeichen verliert seine Kraft und macht den Geist des Menschen gegen das Leid indifferent, gleichgültig, macht ihm das Leid ertragbar. Zur Charakterisierung der positiven Kräfte des Geistes wie der Gefahren, den er ausgesetzt ist, hat Bernhard hunderte mit „Geist“ zusammengesetzte Begriffe erfunden: Geistesexistenzminimum, Geistesgewalttäter, Geistesbedürfnis, Geistesvernichtungsanstalt, Geistesaktivität, Geistesscharlatan, Geistesunbestechlichkeit, Geistesenthemmung, Geistesurheberschaft, Geistesunrat, Geistesparadies, Geistesproduktionsstätte, Geisteszwangslage, Geistesverbrechen, Geisteseskapaden und Geistesniedertracht.

Das Unbehagen in der Kultur ist in der Regel ein gesellschaftliches Tabu und wird durch Verdrängung bewältigt. Der Geistesmensch nimmt die Kultur als Leid an. Zugleich zieht er aus dem Kampf gegen das Leid durch die Kultur, den er selbst als Leid erlebt, seinen Lebenszweck. Seine Erlösung liegt darin, dass er das zivilisatorische Programm realisiert und das Leid erhöht, denn das zusätzliche Leid ist ein selbst verordnetes, selbst gewolltes und selbst entwickeltes Leid. Er verdrängt das Leid nicht, sondern gibt ihm eine eigene Form und nimmt es an.

 In der Paradoxie der Überwindung des Leids durch Leid ist das extreme Geistesleben des Geistesmenschen auch ein Leben im Scheitern, denn Isolation, Konzentration und Geistesschärfe korrespondieren mit dem Mangel an Sinnesaktivität und zunehmender Vereinsamung, in welcher die Geistesmenschen ihr „Denken so lange denken und intensivieren und alles außerhalb ihres Denkens so lange ignorieren, bis sie von dieser Leidenschaft erdrückt und erstickt und vernichtet werden“, heißt es in Die Billigesser.

Das ordnende Mittel zur Überwindung des Leids im Denkbezirk ist das Objektiv. Das Objektiv, von dem Bernhard in Die Kälte. Eine Isolation spricht, kann als eine kleine Theorie der Natur und der Gesellschaft angesehen werden. Der Kalkül der Theorie besteht aus vier Hauptsätzen und zwei Regeln. Die Hauptsätze heißen: „Die Welt ist eine Kloake“, Die Natur ist grausam“, „Der Mensch ist verzweifelt“, „Der Mensch ist gemein“. Die zwei Regeln lauten: „Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist“ und „Die Absurdität ist der einzig mögliche Weg“. Jeder Untersuchung über das Leid durch die Natur und die Gesellschaft liegen die Sätze des Objektivs zugrunde. Es handelt sich um einen Wahrnehmungs- und Denkfilter, der die subjektiven Daten zu einem Weltbild objektiviert. Durch ihn hindurch blickt der Geistesmensch auf die Welt, um Daten aufzunehmen, zu ordnen und sichere Aussagen über Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Die Leitsätze des Objektivs bilden einen festen Anker im Strom der Phänomene. So angeschaut ist die Welt immer gleich, unbeweglich und einseitig, dafür aber klar und präzise. Schmerz und Leid sind kalkulierbar. In der Einseitigkeit und Einfachheit ist das Objektiv ein Mittel der Erkenntnis. „Sich zu beherrschen sei das Vergnügen, sich vom Gehirn aus zu einem Mechanismus zu machen, dem man befehlen kann und der gehorcht. Allein in dieser Beherrschung könne der Mensch glücklich sein und erkenne er seine Natur“, heißt es in Verstörung. Als im Jahre 1981 von Bernhard die autobiografische Arbeit die Kälte. Eine Isolation erschien – die etwa so viel Fiktion enthält wie seine Romane Autobiographisches –, schrieb die Münchner Abendzeitung: „Ein Buch, das mit gleißender Genauigkeit Entsetzlichkeiten schildert.“ Schon in den sechziger Jahren bemerkt Ingeborg Bachmann über das Neue in der deutschsprachigen Literatur und die wiedergewonnene Wahrheit bei Bernhard: „In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue. Es ist nicht brauchbar, noch nicht brauchbar, integrierbar auch nicht“, mit Bernhard werde in der „deutschen Sprache wieder die allergrößte Schönheit, Genauigkeit, Art, Geist, Tiefe und Wahrheit geschrieben“. Die Genauigkeit, mit der Bernhard seine Geistesmenschen das Entsetzliche erfassen und analysieren lässt, ist Teil einer Strategie der Lebens- und Leidbewältigung.

Der Geistesmensch kennt auch ein Atmen, das frei von Disziplin ist: das Lachen. Seiner Disziplin, seinem Ernst und seiner Genauigkeit der Arbeit steht die Freude am Lächerlichmachen aller Kulturwerte entgegen. In Alte Meister wendet der Protagonist Reger das Lächerlichmachen als Methode an, um die Selbsttäuschung des Menschen in Bezug auf die Werte der Kultur aufzudecken. Das Vollkommene droht uns ununterbrochen mit Vernichtung und vernichtet uns tatsächlich. Das Reife und Schöne, das Vollkommene und Erhabene müssen zerstört werden, um die Sachverhalte einerseits erkennen, andererseits ertragen zu können. Kulturwerte sind relative Werte, die den Menschen korrumpieren. Nur was der Mensch lächerlich gemacht, in seiner Größe vernichtet hat, kann er ertragen. Das Lächerlichmachen zerstört die Werte der Kultur. Das Große erweist sich Bernhard zufolge immer nur als ein sogenanntes Großes. „Das sogenannte Große ist am Ende an dem Punkt angelangt, an welchem wir nur noch Rührung empfinden über seine Lächerlichkeit, Erbarmungswürdigkeit“. Im Gelächter über das Dasein wird das Streben nach Vollkommenheit vernichtet wie im Buddhismus und im Schopenhauerschen Quietiv. Das Gelächter löst das kulturell strukturierte Atmen und ist eine Grundlage für jedes Gelassensein und Loslassen. Sein Beitrag zur Lebensbewältigung liegt im Übertönen des Weltschmerzes durch das Lachen über die Welt und die menschliche Existenz. In der geistigen Vernichtung aller Werte entsteht die innere Haltung der Entspannung, des Gelassenseins, des Humors. Der Atem erfüllt hier seine Leid lösende Funktion.

Das Prinzip, dass die Elemente Geistesmensch, Denkbezirk, Krankheit, Objektiv und Gelächter miteinander verbindet, ist der Atem. Bernhard hat ihn als eine Disziplinierende Macht auch thematisiert. In der Erzählung Am Ortler wird eine „Atmungsschule“ vorgestellt. Die einzige Schule, die der Erzähler, ein Wissenschaftler, und sein Bruder, ein Akrobat akzeptieren. Ihr Lernziel heißt: „Kopf, Denken, Körper durch die Atmung beherrschen“, denn wenn „man die Atmung beherrscht, beherrscht man alles“. Jeder Tätigkeit, jedem Gefühl und jedem Denken entspricht eine eigene Art des Atmens. Wir beherrschen eine Handlung oder ein Denken erst dann, wenn wir die dazugehörige Atmung ausgebildet haben, was einen langen Prozess des Übens erfordert. So ist die „Atmungsschule“ eine paradoxe Institution: Sie steigert das Leid, um es zu überwinden

Generell zielt die Institution Schule über die Beherrschung des Atems auf die Beherrschung des Leids. Die Atembeherrschung diszipliniert Geist und Körper und führt den Schüler im Zurückhalten von Affekten und Emotionen an die Normen der Kultur heran. Sie macht körperliche Vorgänge kontrollierbar und schafft Innenräume für die Konzentration auf geistige Vorgänge, damit der Schüler lernt, sich auf das Verfolgen eines Gedankens ohne Ablenkung durch andere Sinnesreize konzentrieren zu können. Bis er die Ordnung eines abstrakten Stoffes erfassen und in ihm logische Operationen durchführen kann. Einübung in die Kultur ist eine einübung ins Leid. Das Leid zu beherrschen setzt der Geistesmensch die bewusste Ausbildung der Atmung ein – ihre Kultivierung und Übersteigerung, um das Leben zu beherrschen und zu kontrollieren. Der Atem reicht hinab in alle vier Ebenen des Leids, in die Psyche, die Physis, den Geist und die Sozialität. Das Kulturatmen, dass wir unbewusst praktizieren, aber auch das bewusste Atmen des Geistesmenschen, sein Gegenatmen. Das Gegenatmen ist Thomas Bernhards subversive Formen des Politischen und Philosophischen. Wie das gemeinsame Atmen in der Konspiration, nur eben allein, als ambivalente Variante: als Konspiration für sich allein, gegen die Welt und ihr Leidverursachen, zurückgezogen im Denkbezirk.

 

© Hajo Eickhoff 2003 / 2024




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