aus: Hartmut Hornung, Skulpturen Zeichnungen Malerei, Greifswald 1997
Gestelle sind Geräte, die der Mensch vor sich hinstellt. Sie dienen dazu, etwas aufzufangen, einzufassen, hervorzuheben oder zu schützen. Sie sind veräußerlichte Gedanken, Empfindungen und Ideale, sichtbare Zeichen einer kollektiven Erkenntnis und Erfahrung.
Stühle sind Gestelle. Sie tragen und halten einen Menschen. Aber der sitzende Mensch war nicht krank, so daß er getragen werden mußte, er war ausgezeichnet und wurde deshalb gesetzt. Der Stuhl sollte an ihm arbeiten, ihn verändern, und er sollte einer Gemeinschaft ein Wappen und eine Mitte sein. Die Entstehung des Stuhls ist eng an die Selbstreflexion des Menschen gebunden.
Der Stuhl hat eine vielfältige Geschichte. Jede Phase dieser Entfaltung hat neue Formen hervorgebracht, die Ausdruck der Entwicklungsrichtung einer Kultur sind. Die ersten Stühle sind geweihte, geheiligte Objekte: der Thron, der Heilige Stuhl oder das Chorgestühl. Spätere Stühle sind nicht geweiht: Bürgerstühle, Schulgestühle oder Reisesitze. Jede Stuhlform hat den passenden Menschen und die ihm angepaßte Lebensform ausgebildet: Könige und die Monarchie, Mönche und das Klosterdasein, moderne Sitzmenschen und das Elektronische Zeitalter. Der Mensch hat sich den Stuhl angepaßt. Aber der Stuhl hat auch den Menschen angepaßt und die abendländische Kultur maßgeblich gestaltet. Der Sitzmensch nimmt nicht nur äußerlich die Gestalt des Stuhls an, er wird auch von innen her Stuhl.
Der moderne Mensch ist ein Stuhlwesen. Er lebt mit anderen in einer Sitzgesellschaft zusammen. Der Thron ist ein vereinzeltes Objekt, das den isoliert sitzenden König zur Mitte des Kosmos und der Gemeinschaft macht. Der Thron ist mit geweihten Insignien einer Kultur ausgestattet, der Stuhl dagegen ein Massenprodukt, an dem die einst Bedeutung tragenden Elemente verschwunden sind oder rein ästhetische Funktion erfüllen. Dennoch gibt es kaum einen Gegenstand, der in den vergangenen hundert Jahren Anlaß zu so vielfältigen Formschöpfungen gegeben hat, wie der Stuhl. Im Aufwand der Gestaltungen erkennen wir die einstige magische Bedeutung des Stuhls wieder.
Der Mensch beginnt nackt und ungestellt. Er lebt unter freiem Himmel und beschafft sich seine Nahrung mit den Händen. Der Körper und seine Organe dienen ihm als Werkzeuge. Körperfremde Geräte kennt er nur im zufälligen und vorübergehenden Gebrauch. Jagend und sammelnd durchstreifen die Menschen weite Räume und halten sich dort auf, wo sie gut ernährt werden. Ihr Leben ist gekennzeichnet durch eine ungezügelte Mobilität. Wenn sie nach langen Wanderungen ausruhen, lagern sie auf dem Boden. Sie liegen, hocken oder kauern. Die Besonderheit des Menschen im Tierreich kommt im Wanderleben zum Ausdruck: im aufrechten Gehen und Stehen und im unmittelbaren Lagern auf dem Erdboden. Sind das aufrechte Stehen und Gehen Positionen der Tatkraft, ist das Liegen die Position der Ruhe. Alle Haltungen dazwischen sind ein Zusammenspiel aus Ruhe und Aktivität, in denen der Mensch rasten, essen, spezielle Arbeiten verrichten, seinen Gedanken nachgehen oder mit anderen kommunizieren kann. Das Leben ohne Gestelle wie Häuser oder Stühle ist eine ungestellte Daseinsweise, die ein mobiles Leben erzeugt, erfüllt von Aktivität und Beweglichkeit.
Die Entwicklung des Stuhlsitzens ist ein Prozeß, in dem der Stuhl den Menschen vom Boden auf ein erhöhtes räumliches Niveau hebt. Die erhöhte Ebene distanziert den Menschen von der Natur und hebt ihn auch in seinem technisch-kulturellen Niveau.
Mit der Sesshaftwerdung halten die Menschen ihren Lauf an und beginnen, im Haus und seiner näheren Umgebung zu leben. Der kurzzeitige Aufenthalt an einem Ort und das immer erneute Verlassen von Jagdgründen wird in ein Aneignen des Bodens umgeformt. Die weiten Räume werden begrenzt und besetzt, nicht mehr durchwandert. In der Anpassung des Menschen an das Haus müssen die langen Wege nach und nach zu kleinen Gesten des Einrichtens und Arbeitens umgeordnet werden. Das Ruhen auf einem vom Erdboden abgehobenen Gestell wie dem Stuhl erfordert eine ungewöhnliche Körperhaltung: das Sitzen.
Thron und König
Der Stuhl beginnt als Thron und der sitzende Mensch als König. Der thronende König ist eine Metapher für das Bleiben an einem Ort. Die Metapher haben sich die Menschen für die Einschränkung des Wanderlebens und für die zunehmende Bindung an das Haus geschaffen. Der König auf dem Thron ist die äußerste Form des Anhaltens und Bleibens. Das Bild für die Immobilität einer Kultur, die seßhaft geworden ist. Er ist zugleich das Bild für die Möglichkeit, daß der Mensch seinen Bewegungsradius nicht nur auf das Haus reduziert, sondern auf den engen Ort des Stuhls. Der thronende Herrscher ist die Ahnung vom zukünftigen Sitzmenschen.
Durften manche Könige den Thron nie verlassen, müssen andere wie versteinert auf dem Thron sitzen und dürfen weder Augen, Hände, Füße noch Kopf bewegen. Am Abend vor der ersten Thronbesteigung war es erlaubt, künftige Herrscher zu beschimpfen, zu demütigen, zu martern oder zu verkrüppeln.
Der Thron hat sich aus dem Opferstein abgeleitet, auf dem einst eine Gemeinschaft einen Menschen zur Besänftigung der Götter tötete. Mit der Erfindung, stellvertretend für den Menschen ein Tier zu töten, zerfällt der Opferstein in zwei Elemente: in den Altar oder Opfertisch und in den Thron oder Opferstuhl. Auf dem Altar opfert man fortan ein Tier, auf dem Thron einen Menschen. Das Opfer, das der König erbringen muß, liegt in der gewaltsamen Setzung und in der Gewalt der Unbewegtheit, die das Sitzen bedeutet. Im Angehaltensein und Gesetztwerden wird der Körper des Königs in all seinen Funktionen und Lebensäußerungen begrenzt, beschnitten und verstümmelt. In der gewaltsamen Begrenzung des Körpers und der sich darin einstellenden Vergeistigung liegt die ursprüngliche Funktion des Königs. Zum einen bezeichnet die Gewalt den König weiter als Opfer, zum anderen soll der Zugriff auf den Körper des Königs bewirken, daß er seinen Körper verliert und dafür spirituelle Kräfte gewinnt.
Der König soll nicht Körperwesen sondern Geistwesen sein. Im beengten Bezirk des Throns werden seine Füße angehalten. Noch heute sagt man, daß der König keine Füße habe. Er soll nicht räumlich ausschreiten, sein Fortschreiten liegt im geistigen Erkennen und im Beherrschen der Welt aus dem Sitz heraus. Solange der König unbewegt verharrt, bleibe auch der Kosmos in seiner produktiven Unbewegtheit. In der Vergeistigung soll sich der Thronende den Göttern angleichen und seine Kräfte nutzbringend an die Gemeinschaft weitergeben. Der thronende König ist Priester, Weiser, Gottmensch, Richter, weltlicher Machthaber. Er gibt den Menschen einen fest umrissenen Ort und eine geistige Mitte, von der sie sich abstoßen und um die herum sie sich bewegen können. Je unbewegter der König thront, desto bewegter seine Untertanen. Der thronende König ist der Lebenssinn einer Gemeinschaft und das Vorbild für eine disziplinierte Lebensform.
Das Kreuz Christi ist der Thron Christi. Es ist die extreme Gestalt des Throns, wie Christus die extreme Gestalt des Königs ist. Christus ist das Leben im Angesicht der Spiritualität und des Ideals. In ihm kommt das Prinzip des Königs in seiner reinsten Form zum Ausdruck. Der König der Christen verfügt nicht über Ländereien und materielle Reichtümer. Er ist König und gebietet über spirituelle Reiche. Im Tode Christi erkennen wir die Ordnung des Königs wieder. Könige werden nicht mehr auf dem Opferstein getötet. Doch es kommt vor, daß man sie tötet, etwa wenn sich eine Herrschaft negativ auf das Wohl der Untertanen auswirkt, oder, wie bei den Assyrern, wenn sie ihren König der Vergehen der Untertanen wegen töten. Auch Christus stirbt am Kreuz für die Sünden anderer. Sein Tod soll die Sünden der Menschheit tilgen.
Wie es Brauch ist, weltliche Könige am Vorabend der Inthronisierung zu martern, so wird Christus gegeißelt, beschimpft, gedemütigt. Seine Inthronisierung ist die Himmelfahrt. Er wird ans Kreuz geschlagen, stirbt sein leibliches und weltliches Leben und gelangt auf den Thron Gottes. Der weltliche Thron Christi ist das Kreuz, der himmlische Thron das Paradies. An Christus offenbart sich die Bestimmung des Königs. Er opfert seine Beweglichkeit, damit die anderen sich bewegen können; er opfert seinen Leib für die Überwindung der Sünden der Menschheit; sein Leib stirbt, aber seine moralische Kraft hat Menschen inspiriert, die in seinem Sinne eine Religion gegründet haben, die das Leben auf der Erde grundlegend gewandelt hat. Christus ist ein unkörperliches Daseinsprinzip. Er überwindet im Tod den Leib durch die Kraft seiner Moral und lebt in einem geistigen Sinne, in der Kultur, weiter.
Die geistigen Qualitäten Christi sind zum Vorbild für neue Lebensformen geworden. Christus lehrt, daß Kreuz und Thron nicht einem gebühren, dem König, sondern all denen, die, wie er, ein spirituelles, gottgefälliges Leben führen. Christus ist Visionär, und die Aufgabe der Gläubigen ist es, das Leben an seiner Vision auszurichten. Das Heil besteht darin, Kreuz und Thron auf sich zu nehmen und sich zu setzen. Christus ist ein Mittler zwischen dem thronenden König und dem zukünftigen sitzenden Bürger. Im christlichen Leben taucht der Mensch ein in eine asketische, moralische, gehorsame und damit abstrakte Lebensform.
Das Chorgestühl vervielfältigt das Thronen. Die ersten, die im Rahmen der christlichen Kirche Platz nehmen, sind Bischöfe und Päpste. Wie Könige thronen sie auf geweihten Sitzen. Nach einer Ordensregel des Heiligen Benedikt sollen sich auch die Mönche setzen, zu bestimmten Abschnitten der Messe. Sie sollen die Aufforderung Christi realisieren, daß viele Menschen sitzen. Und mit der Erfindung des Chorgestühls um die Jahrtausendwende ist es soweit, daß erstmals nicht nur weltliche Machthaber oder klerikale Oberhäupter, sondern auch Mönche auf Stühlen sitzen. Das Klosterleben ist ein vergeistigtes Dasein, das zwei Lebensformen verbindet: die Abgeschlossenheit zur Begrenzung der Sinne und das Leben in der Gemeinschaft, der Vita communis.
Das Chorgestühl ist eine komplexe Maschine zur körperlichen und geistigen Formung. In der Komposition vieler Sitze zu einem einheitlichen Gebilde ist es ein Bindeglied zwischen dem Sitzen einzelner und dem Sitzen vieler, zwischen dem Sitzen auf geweihten und dem Sitzen auf nicht geweihten Stühlen. Das Grundelement des Chorgestühls, der Chorstuhl, weist eine Besonderheit auf: den Klappsitz. Benedikt hatte gefordert, daß der Mönch an einem eng begrenzten Ort stehen, knien und sitzen können soll. Mit Hilfe des Klappsitzes läßt sich diese Forderung erfüllen. Der Mönch kann auf dem Klappsitz, wenn er heruntergeklappt ist, sitzen und, wenn er hochgeklappt ist, stehen und knien. Darüber hinaus kann er sich in der hochgeklappten Position auf der verbreiterten Vorderkante niederlassen und eine Stehsitzhaltung einnehmen. Die Schulterringe ermöglichen eine fünfte Haltung: das Abstützen beim Stehen mit den Armen. So bietet der Chorstuhl eine Vielzahl von Haltungsmöglichkeiten, die dem Gottesdienst eine feste Ordnung von spiritueller Konzentration, Körperhaltung und Versenkung auferlegen. Die Isolierung des Mönches im Chorstuhl und die meditative Sammlung sollen ihn auf den inneren Weg zu Gott geleiten. Mit diesem Weg erhöht das Kloster die Konzentration auf die Bildung der Mönche und fördert die Pflege der Wissenschaften.
Der Anblick sitzender Mönche im Chor festigt die Gewöhnung der Mönche an das Sitzen. Auch die Gemeinde weiß davon, obwohl sie keinen Einblick in den Chor hat. Vor allem die Spitzen des Bürgertums haben die sitzenden Mönche im Gedächtnis, die ihnen Anreiz und Ansporn sind, es ihnen gleichzutun. Sitzen thronende Könige, Päpste und Bischöfe allein, gehört das Sitzen im Chor zu einem alltäglichen, von einer großen Anzahl von Menschen vollzogenen Ritual.
Die Vervielfältigung des Sitzens durch das Kloster ist eine Vorbereitung auf das Sitzen im bürgerlichen Alltag. Seit dem 15. Jahrhundert erscheinen die ersten nicht geweihten Stühle in der Kirche. Diese Profanstühle sind die ersten Stühle überhaupt. Es sind Sitzgelegenheiten, die man den Vorstehern der Patriziate, Gilden und Zünfte an den Kirchenwänden aufstellt. Mit dem Sitzen der Vorsteher setzt sich die Reihe derer, die sitzen dürfen, weiter fort: nach den Königen sind es die Bischöfe und Priester, die einst Könige waren, dann die Mönche und nach ihnen die Vorsteher bürgerlicher Institutionen. Der Chorstuhl ist das Vorbild für den Profanstuhl, und die Mönche sind Mittler zwischen dem visionären Christus und den sitzenden Bürgern.
Mit dem Stuhlsitzen geben sich die Bürger eine neue Identität. Die Identität einer asketischen und rationalen Lebensführung. Das Bürgertum fängt an, die Welt mit dem Geist zu durchdringen und zu abstrahieren, und sich von einer körperlichen Welterfahrung zu distanzieren, an der alle Sinne beteiligt sind. Ein Vorhaben, das mehr als vier Jahrhunderte zu seiner Verwirklichung gebraucht hat.
Die wohlhabenden Bürger beginnen die Neuzeit mit dem Besetzen von Stühlen. Zunächst haben sie sich zu Repräsentationszwecken gesetzt, aber rasch folgt das Sitzen reicher Kaufleute und Händler bei den Tätigkeiten des Rechnens und der Buchführung in den Kontoren. Die körperliche Arbeit der Kaufleute, ihre Arbeitslogik, ist die streng geordnete Folge von Handlungen im Umgang mit Waren und Zahlen. Ihre geistige Arbeit folgt derselben Logik und ist die streng geordnete Folge von Gedanken im Rechnen und im Gliedern der Bücher. Mit diesen Aufgaben beginnt die Karriere der Sitzberufe, und die Bürger haben mit der Geste des Sitzens die Distanz zu den Mächtigen der Gesellschaft verringert. Sie haben sich aber zugleich von den unteren Schichten abgesetzt, die über keine Stühle verfügen.
Bis zur Reformation sind die Kirchenräume für die Gemeinde ohne Stühle. Wie die mittelalterlichen Häuser. In den Stuben kauert man auf beliebigen Gegenständen wie Truhen, Gesimsen und Treppenabsätzen und gelegentlich auf niederen Bänken. Die Bürger bekämpfen das Vorrecht, daß nur Herrscher sitzen dürfen und kritisieren das abgeschlossene und als elitär empfundene Sitzen der Mönche im Chor. In der Zeit der Reformation reißen sie die Wände und Schranken des Chores nieder, zerschlagen und verbrennen viele Chorgestühle oder verwenden sie als Sitze für jedermann. Die Räume der protestantischen Kirchen werden mit Bänken für die Gemeinde ausgestattet. Über hundert Jahre später fordert die katholische Gemeinde die Bestuhlung ihrer Kirchen. Das von den Bürgern als zufällige und unzivile Ordnung angesehene häusliche Leben soll durch Stühle neu geordnet und normiert werden. Das häusliche und kirchliche Leben soll sich an den Gegebenheiten des Sitzens ausrichten.
Das Bürgertum hat infolge seiner wirtschaftlichen Macht eine neue Sozialordnung erkämpft. Warum aber wollen sich Bürger setzen, und welche Bedeutung hat das Sitzen aller für die Gesellschaft? Die Bürger setzen sich, um sich wie Könige und Mönche in eine geistige Verfassung zu bringen, die eine Basis für ihre Bürgerlichkeit werden soll. Sie wollen sich zu asketischen und gebildeten Menschen machen, die ihren Beruf sachlich und mit Erfolg ausüben. Die innere und äußere Formung, die sie hierzu benötigen, glauben sie im Sitzen auf Stühlen zu erhalten.
Der Stuhl gibt den Bürgern eine neue Haltung im Raum, und die Sitzhaltung vergrößert und schematisiert die Räume zwischen den Menschen. Stühle sind Instrumente, die das Handeln und Verhalten neu gestalten und neue Vorstellungen von Intimität hervorbringen. Aber sie untergraben auch das vitale Wollen zugunsten einer effektiveren Lebensweise. Die Übersicht und Sicherheit im Territorium Stuhl und die Gleichheit der Sitz- und Versammlungssituation werden bestimmend für die Art, in der sich Bürger versammeln. Das Sitzen auf Stühlen wird ein Kennzeichen für Bürgerlichkeit und erzeugt gesittete und normierte Verkehrsformen. Die konzentrierte Körperhaltung wird unterstützt von einer Philosophie, die das Denken und Handeln an der Unbewegtheit auf dem Stuhl ausrichtet und in logische und zielstrebige Abfolgen einbindet. Die Sitzkörper und die Arbeit haben dieselbe Ordnung wie die bürgerliche Philosophie und die moderne Logik. Der berufliche Gewinn durch das Sitzen liegt in der neuen Übersicht des Lebens und in den angestrebten beruflichen Fertigkeiten: Rechnen und Buchführen, Lesen und Schreiben. Fertigkeiten, die auf Stühlen ausgeübt werden und die das Sitzen befördern.
Europa ist die einzige Kultur, die das Stuhlsitzen ausgebildet hat. Es ist sein Bestreben, das Sitzen zur zentralen Haltung und Geste des Menschen zu machen. Doch der Mensch muß das Sitzen früh erlernen und systematisch erwerben, wenn er im Sitzen effektiv arbeiten soll. In den ersten Jahrhunderten der Entwicklung des Bürgertums fehlen dazu die gesellschaftlichen Institutionen. Da das Sitzen auf Stühlen nicht bequem ist, sondern Schwerarbeit für den Organismus, kann nur der frühe Erwerb des Sitzens die Arbeiten effektivieren. Aber das frühe Sitzen zerstört den Rhythmus des Heranwachsens. Erst wenn der Mensch endgültig sitzen will und versucht, alle Menschen auf den Stuhl zu bringen, wird er sich Einrichtungen schaffen, die das frühzeitige Sitzen einüben. Diese Einrichtung ist die Schule.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Etablierung des Sitzens abgeschlossen, und der abendländische Mensch will bei jedem Tun und an allen Orten seinen Stuhl. Der Stuhl, der dies möglich macht, ist der Wiener Caféhaus-Stuhl, die erste in Massen produzierbare Sitzgelegenheit. Die Form dieses leichten, nicht an historische Vorbilder angelehnten und leicht zu versendenden Stuhls ist das Bild für die Demokratisierung des Throns. Er bringt die geistigen und philosophischen Ambitionen der Bürger zum Ausdruck. Für sie wird das Caféhaus zum Forum ihrer Bekenntnisse, auf dem sie ihren Lebensstil und ihre Selbständigkeit in philosophisch-politischen Diskussionen bekunden. Die Cafés sind die ersten öffentlichen Orte eines geistigen Austauschs. Hier werden bürgerliche Utopien und freiheitliche Gedanken entworfen. Die Cafés werden die geistigen Mittelpunkte des kulturellen Wien, von wo aus der Caféhaus-Stuhl einen unvergleichlichen Siegeszug um die Welt antritt. Der Stuhl wird zum Boten eines neuen Menschentyps, des Homo sedens.
Das Sitzen in der Schule macht das Sitzen zum Bestandteil der biologisch-kulturellen Entwicklung des Menschen. Mit der Einführung der Schulpflicht dürfen auch Kinder sitzen. Zwar müssen sie sitzen, aber es ist erforderlich, daß sie erst sitzen dürfen, bevor sie sitzen müssen. Die Schule ist die bürgerliche Einrichtung, die das Kind ins Sitzen einübt. Die Institutionalisierung des Setzens geschieht, da der Mensch lange Zeit benötigt, bis er seine Energien zügeln kann und in der inneren Verfassung ist, ruhig auf einem Stuhl verharren und sich auf unkörperliche Dinge konzentrieren zu können.
Das Leben der Schüler ist eingefaßt zwischen zwei Räumen unterschiedlicher Ordnung: zwischen Klassenzimmer und Schulhof. Beide Räume sind ein sichtbarer Ausdruck für die Lebensweise von Kindern in den abendländischen Gesellschaften. Im Unterricht wird auf eine Disziplinierung und Vergeistigung hingearbeitet, die durch die Pausen auf dem Schulhof unterbrochen werden. Es ist ein Rhythmus zwischen Sitzen und Toben, zwischen geistiger Konzentration und Spiel, der das Kind in ein Schema zwingt. Das, was stillgesetzt im Unterricht zurückgehalten wird, darf im eingefaßten Hof, dem Schulhof, wieder verausgabt werden. Die Lust auf dem Schulhof ergibt sich durch die Abfuhr der im Klassenzimmer gestauten Energien. Doch es verbleiben unabführbare Reste, die sich zu gewaltigen Bewegungshemmungen ausweiten können: Das Kind gewöhnt sich an das Stuhlsitzen und die Unbewegtheit und entwickelt immer weniger Kraft und Lust, sich zu bewegen. Bis Erlasse den Gang zum Schulhof erzwingen müssen.
Wer die Disziplinierung verfehlt und nicht gut sitzt und unkonzentriert arbeitet, muß das Sitzen nachholen. Entweder für den betreffenden Tag und dann nachsitzen, oder für ein ganzes Schuljahr und dann sitzenbleiben. Beides sind Namen für das Scheitern einer direkten Einübung ins Sitzen.
Am Kind wird früh praktiziert, was Könige erdulden und was Mönche, Kaufleute und Händler in der Pionierphase des Sitzens erst als Erwachsene lernen konnten. Sitzend lernt das Kind, seine Sinne zu kontrollieren. Es lernt, sich auf die Verfolgung eines Gedankens, die Ordnung eines abstrakten Stoffes zu konzentrieren, ohne sich von anderen Sinnesreizen ablenken zu lassen. Die Vergeistigung setzt eine besondere Verkörperung voraus: ein Zurück- und Innehalten vitaler Funktionen, vor allem des Atems.
Wer die Schule verlässt, ist gut auf die Arbeitswelt in einer Sitzgesellschaft vorbereitet. Hier wird fortgesetzt, was in der Schule erworben wird. Das Sitzen auf Stühlen hat sich bis in alle Gesellschaftsschichten und nahezu bis in alle Tätigkeitsbereiche hinein etabliert. Wer die Schule verläßt, hat das Gesetztwerden in ein Sitzenwollen umgewandelt. Dabei sind wir dadurch unterstützt worden, daß wir das Denken, Wahrnehmen und Empfinden ganz an den Stuhl gebunden und Sitzbedürfnisse und Sitzwerte ausgebildet haben. Aber wir sind auch dadurch unterstützt worden, daß unser Körper - Atmung, Muskeln und Knochen - in die Eigenschaften des Stuhls hineingewachsen ist. Und je länger wir das Stuhlsitzen erlernt haben, desto weniger ist unser Körper für das Stehen und Gehen, für das Knien, Hocken und Kauern geeignet. Was das Kind, selbst in einer Sitzgesellschaft, noch beherrscht, vermag der Erwachsene nicht mehr: eine große Beweglichkeit auf dem Erdboden.
Erst durch die Disziplinierung des Schülers im Sitzen gelingt es den Menschen, eine kulturelle Identität auszubilden, mit der sie sich als Sitzwesen verstehen. Die Zügelung und Formung der Energien muß früh beginnen und Teil der Entwicklung geworden sein. So wächst das Kind allmählich in den Stuhl hinein und gestaltet sich zu einem Wesen um, das in der Lage ist, lange zu sitzen, geistige Wege zu gehen und abstrakte Probleme zu handhaben. Allein die Kinder des Abendlandes werden in der systematisch betriebenen Einübung ins Sitzen eins mit dem Gerät, auf das sie gesetzt werden, an dem sie sich bilden und Homo sedens werden.
In der Sitzgesellschaft findet das Leben auf Stühlen statt. Das Stuhlsitzen ist hier die grundlegende Körperhaltung. Es prägt nicht nur den einzelnen, die ganze Gesellschaft ist vom Sitzen und vom Leben mit dem Stuhl durchdrungen. Die Sitzgesellschaft formt die Menschen zu Stuhlwesen. Sie stellt den Menschen den Rahmen bereit, der ihnen garantiert, immer dort, wo sie anhalten, einen Stuhl zur Verfügung zu haben und jederzeit und überall sitzen zu können. Wir finden Stühle deshalb nicht nur in Schulen und an Arbeitsplätzen, sondern auch an den Orten der Freizeit: in Fußballstadien oder auf Bahnhöfen, in Parkanlagen oder in Flugzeugen. Sitzmenschen sind Dauersitzende, die immer und überall sitzen wollen und die sich nirgends sicherer fühlen als im Stuhl, nirgends sicherer als an Orten, an denen Stühle stehen, auf die sie sich setzen könnten. Das gesellschaftliche Leben ist so auf das Sitzen abgestimmt, daß wir alles tun können, ohne den Stuhl verlassen zu müssen. Deshalb tritt eine Sitzgesellschaft sichtbar in Erscheinung in einer unermeßlichen Fülle von Stühlen. Stühle sind die Wohnstätten des Sitzmenschen.
Das Wohnen im Stuhl ist das Außergewöhnlichste, auf das der Mensch verfallen ist. Er gibt nicht nur seine natürliche Fortbewegungsart auf, er hört überhaupt auf, sich zu bewegen. Er gibt nicht nur seine aufrechte Haltung auf, um die er Jahrtausende gerungen hat, sondern nimmt eine völlig gekünstelte Haltung ein. Das Wort Natur hört der Sitzende nicht gern, Technik ist ihm vertrauter. Indem das Wohnen im Stuhl zur Existenzweise des Menschen wird, nimmt die Natur im sitzenden Menschen Platz.
Im Sitzen auf Stühlen werden die Funktionen des Organismus stufenweise eingeschläfert. Die mangelnde Stimulation reduziert die Beweglichkeit auf ein Minimum. Die Muskeln verhärten chronisch, die Atemtätigkeit wird herabgesetzt und am Ende kann der Körper bei großer Aktivität nicht mehr ausreichend mit Energie versorgt werden. In solchen Vorgängen wird der Mensch an die Sitzhaltung, den geringen Energieumsatz, das Kontrollieren der Emotionen, an die filigrane handwerkliche Arbeit oder das geistige Durchdringen der Welt angepaßt.
Stühle sind Pfeiler unserer sozialen Architektur. Den Verkehr mit unserer Umwelt wickeln wir von den begrenzten Räumen auf dem Stuhl aus ab. Stühle fassen uns in imaginäre Rahmen, die sich zwischen uns und andere schieben, halten uns gegenseitig auf Distanz und bestimmen die Intimität unseres Lebens. In unserer Kultur sind Menschen, die sich versammeln, immer bestuhlt. Wir tragen Stühle wie Kleider, versammeln uns in der immer gleichen Haltung und nehmen zu anderen Sitzenden eine Minimaldistanz ein. Als Sitzende leben wir in der Ferne zu den Dingen und in der Distanz zu anderen. Zwar leben wir vereinzelt, aber die Uniformität der Sitzversammlungen und die Sitzanordnung im Alltag schließen uns sozial mit anderen Sitzenden zusammen. Aber obwohl in der Sitzgesellschaft fast alle auf Stühlen sitzen, gliedern Stühle die Sitzgesellschaft in ein geordnetes und wohlabgestuftes Gefüge sozialer Unterschiede. Die soziale Ordnung leitet sich aus der Zeitdauer ab, die Menschen auf Stühlen zugebracht haben, und aus der Annahme, daß eine überdurchschnittlich lange Sitzzeit in der Jugend ein hohes Bildungsniveau bedeutet. Langzeitsitzer haben im Beruf ein Anrecht auf einen Stuhl hoher Qualität und Auszeichnung. Das sind Stühle, die mit ihrem Namen zugleich ein Amt oder einen Wert bezeichnen: Throne, Bischofsstühle, Richterstühle, der Heilige Stuhl oder Lehrstühle.
Die Sitzgesellschaft rechnet es sich hoch an, daß sie die Welt so eingerichtet hat, daß sich die Mensch nicht mehr bewegen müssen. Sie idealisiert den Menschen in einem unkörperlichen Handeln und bringt in dem Ideal der Unbewegtheit eine Weltanschauung zum Ausdruck, die in der Utopie einer nicht an die Sinne gebundenen Existenz ihre Wurzeln hat. Hierin offenbaren sich die Visionen des Christentums. Der Mensch soll sitzen und mit gewaltigen Kräften des Geistes die Welt ordnen und einrichten. Doch die starke Bewegungseinschränkung im Sitzen, die schädigende Haltung sowie die hohe geistige Konzentration haben den Menschen hohe physische und psychische Belastungen aufgebürdet, haben ihnen Ermüdung, Kopfschmerzen, Erschöpfung und zahlreiche Rückenleiden gebracht.
Infolge ständigen Sitzens auf Stühlen führt der moderne Mensch ein befriedetes Leben, kommt aber mit seiner Befriedung nicht zurecht. Der Sitzkultur sind die Gründe ihres Aufbruchs, der Sinn ihres emsigen, pausenlosen und lauten Tuns, ihres Bemühens um Verbesserung und um neue technische Errungenschaften abhanden gekommen. Angesichts des gewaltigen Aufwands, den der Mensch treibt, sich und seine Werkzeuge zu verbessern, ist die Besserung seiner existentiellen Probleme unerheblich. Der materielle Reichtum und der immense Konsum in den westlichen Nationen haben sich nicht als befriedigender Ersatz für eine mißglückte innere Befriedung erwiesen. Der moderne Mensch lebt an seinen vitalen Bedürfnissen vorbei, indem er sich an eine technische Ersatzwelt kettet, ohne daß es ihm gelingt, sich entweder mit ihr geistig auszusöhnen oder nach nützlichen und sinnvollen Wegen zu suchen. Daß alles gleich gültig ist, führt zur Aufhebung der Werte und hat Desinteresse und Gewalt zur Folge. Frei werden die destruktiven Gewaltpotentiale, wenn die Gesellschaft die Menschen nicht mehr glaubwürdig initiieren und an Werte binden kann. Die Verklammerung befriedender und destruktiver Impulse ist aufs Engste an die sitzende Lebensweise gebunden.
Der Homo sedens findet erst Ruhe, wenn alles gesetzt ist. Er arbeitet so lange an der Idee des Sitzens, bis er schrittweise lebendige und bewegte Natur in Technik, Kunst und Kultur verwandelt hat. Im Sitzen auf Stühlen panzert er sich. Fernando Pessoa sagt: „Ich gehe über die Straße wie ein Sitzender.“ Der Panzer macht den Sitzenden zur Skulptur. Am Ende sitzt der Mensch unbeweglich und steif, aber auch ein wenig majestätisch wie eine Statue ägyptischer Pharaonen.
© Hajo Eickhoff 1997
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