aus: Holger Schulze (Hrsg.), Gespür - Empfindung - Kleine Wahrnehmungen, Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2012
1. Selbstbezug
Selbst. Ich. Ich als Selbst. Der Mensch kann sich auf sich selbst beziehen. Ich kann mich selbst beobachten, selbst beherrschen, selbst wahrnehmen. Ich habe Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Mein Selbstsein und mein Ich-Sagen-Können sind das Einzigartige meines Menschseins. Davon, dass ich ein handelndes Ich bin, eine Struktur meiner Aktivität, habe ich ein lebhaftes Bewusstsein.
Mein Gehirn empfängt Impulse von der Außenwelt und von der Innenwelt. Aber es kommuniziert auch mit sich selbst. Von Areal zu Areal. Aus der internen Kommunikation von Neuronen bestimmter Gehirnareale geht mein Selbstbezug hervor. Das ist das, was ich nur wissen kann, aber die äußere Welt erlebe ich, meine Innenwelt spüre ich. Ich habe Bewusstsein. Selbstbewusstsein.
In der Evolution kommt das Selbst spät. In einem Milliarden Jahre währenden Prozess hat sie Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der belebten und unbelebten Welt gesammelt, entwickelt und gespeichert, verfeinert und in den Genen der immer komplexer werdenden Organismen verankert. Die Evolution hat die Lebewesen so ausgestattet, dass sie dieses biologisch-historische Wissen in ihrem Lebenskampf nutzen können – den Tieren hat sie den Instinkt gegeben, den Menschen Verstand und Gespür.
2. Gespür und Offenheit
Der Mensch ist durchdrungen von Welt. Ein Treffpunkt permanenter äußerer Reize und innerer Impulse. Er wirkt wie ein Medium, das beide Seiten miteinander vermittelt, um Sauerstoff, Zellen und Blut, um Skelett, Muskeln und Organe, Geist und Seele sowie um Verhalten und Handeln zu einer Einheit zu formen.
Von außen treffen Gerüche die Nasenschleimhaut und Geräusche Trommelfell, reflektieren elektromagnetische Wellen an der Haut oder passieren den Körper, dringen Lichtstrahlen auf Netzhaut, berühren Luftpartikel, Gegenstände, Menschen und Kleidung die Haut, durchschallen Geräusche und Klänge den Organismus. Die Außenwelt ist eine Raumwelt, die aus Gegenständen und Natur, aus Ansiedlungen, Menschen und Kulturgütern besteht. Die dingliche Welt hat eine fest umrissene Gestalt, die den Gesetzen der Natur und ihrer Logik unterworfen ist, die soziale und geistige Welt ist amorph und folgt den Gesetzen der Sozialität.
Von innen kann der Mensch Atem und Herzschlag, Schmerz, Enge und der eigenen Stimme gewahr werden. Die Innenwelt ist eine Zeitwelt. Eine Welt ohne feste Gestalt – unbestimmt und schwer zu fassen. In ihr begegnet der Mensch sich und seinen Stimmungen, die sich aus körperlichen, seelischen und geistigen Elementen zusammensetzen. Das Innen ist nicht bestimmt, sondern gestimmt – gefärbt, gebrochen.
Schon in den Aktionen der Tiere stecken unermessliche Erfahrungen aus dem Vermögen ihrer Vorgänger. Sie wissen nichts von ihrem Können, sondern setzen es instinktiv, unmittelbar um. Aus diesem evolutiven Hintergrund heraus leben sie mit unglaublicher Schnelligkeit, Sicherheit und Präzision. Doch wenn Tiere auch kein Selbst und im herkömmlichen Sinn keinen Verstand haben, ihr Leben weist innerhalb ihres Instinktkreises einen hohen Grad an rationaler Organisation auf.
In diese Entwicklung ist der Mensch integriert. Viele Fertigkeiten, die er mit den Wirbeltieren gemeinsam hat, sind in den Aufbau seines Gehirns eingegangen, doch da das Gehirn viel mehr registriert und verarbeitet, als dem Menschen bewusst werden kann, nimmt er nur einen Bruchteil seines Reichtums wahr, denn sein Verstand hat zu diesem verborgenen Wissen keinen unmittelbaren Zutritt. Und autonome Systeme wie Atmung, Kinästhesie und Blutzirkulation, wie Verdauung, Tiefensensibilität und Herzschlag funktionieren, ohne ins Bewusstsein zu gelangen. Doch die Evolution hat dem Menschen ein Stück Freiheit eingeräumt. Seine Entscheidungen und sein Handeln verlaufen nicht mehr nur automatisiert, sondern er kann und muss sich für eine der unendlich vielen möglichen Lebensformen entscheiden, wodurch er Sicherheit, Schnelligkeit und Präzision einbüßt, aber durch sein Sprachvermögen und seine Reflexivität eine enormen Anpassungsbeweglichkeit gewinnt. Seine Besonderheit, der aufrechte Gang, die Opposition von Daumen und Fingern und die einmalige Gestaltung des Fußes haben sein Gehirn neu strukturiert und ihm eine enorme Plastizität gegeben. Das ist der Hintergrund, auf dem der Mensch wahrnimmt, empfindet, denkt, handelt und spürt. Er verfügt er über den Vorteil, einerseits an der reichen Erfahrung der Evolution Teil zu haben, andererseits zur Zukunft hin offen zu sein.
Der Mensch verfügt über zwei Strategien, sich mit der Welt und mit sich selbst – seiner Innenwelt – auseinanderzusetzen: Er kann nach Vernunft oder nach Gefühl entscheiden und handeln. So bleibt er eingebunden in den Prozess der Evolution, hat aber in seiner besonderen Existenzweise zugleich die Möglichkeit, in der Kulturproduktion seinen Grad an Freiheit, den ihm die Evolution mitgegeben hat, auszuweiten, so dass er in seiner Kulturproduktion mit an der Evolution des Gehirns arbeitet.
3. Das Gespür als Meta-Sinnesorgan
Die innere Welt, die dem Menschen zugänglich ist, ist grundsätzlich eine gestimmte Welt. Etwa wenn er morgens aufsteht. Als hätte der Tag ihn mit einem bestimmten Ton angesprochen. Von seinem Gestimmtsein ist jedes Element des Bewusstseinsinhaltes getränkt. Stimmung ist eine besondere Weise, in der der Mensch sich und der Welt gewahr wird: So, wie die Welt ihn anspricht, für ihn gestimmt ist, so gestimmt geht er auf die Welt zu. Stimmungen werden jedoch durch kein eigenes Organ wahrgenommen, sondern ihrer wird der Mensch durch Aufmerksamkeit und die Beteiligung mehrerer Sinne gewahr. Die Summe der beteiligten Sinnesorgane und die gerichtete Aufmerksamkeit nach innen bilden das virtuelle Organ Gespür.
Der Mensch hat Gespür. Spüren gehört in den Bereich des Wahrnehmens und vollzieht sich ohne Sprache, nonverbal. Es ist das Ahnen und Vernehmen, das Gewahrwerden und Bemerken von Nuancen. Das Gespür ist die gesammelte Erfahrung der Menschheit – ihr Gedächtnis.
Obwohl das Gespür als Gedächtnis der Menschheit für die Entwicklung der Zukunft von erheblichem Wert und Nutzen ist, ist es bisher kein Terminus geworden. Kein Philosoph des Gespürs weit und breit. Weder in philosophischen noch anthropologischen, noch in medizinischen Lexika, Monographien oder Essays ist er zu finden. Gespür ist ein abgelegtes Wort, das der Romantik, dem Banalen und der Esoterik zugeschrieben wird. Bevor der Mensch der rationalen Lebensführung das Gespür als Subjektivität und individuelle Empfindlichkeit verwirft und durch die Begriffe Ratio und Verstand verdrängt, hat es eine Bedeutung als Siebter Sinn. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es einen vereinzelten Versuch durch die berliner Gymnastiklehrerin Elsa Gindler, eine Praxis des Spürens zu entwickeln.
Heute vollzieht sich ein Paradigmenwechsel zugunsten des Spürens, da offenbar wird, dass die Verstandestätigkeit und die Handlungsfähigkeit des Menschen durch Stimmungen beeinflusst werden.
Gespür ist Feingefühl. Intuition, Ahnung und Inspiration, Instinkt, Sensibilität und Bauchgefühl, Empfindsamkeit und Spontaneität, Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl. Es ist weder lokalisierbar noch messbar, da es aus einem Ganzen folgt – aus einem Integral von Gedanken und Erinnerungen, Bildern und Wissen, Gefühlen, Wahrnehmungen und Tagträumen.
Das Gespür ist ein Meta-Sinnesorgan. Eine für das Erkennen, Entscheiden und Handeln wesentliche Instanz. Zwar gilt der Mensch als rationales Wesen, doch seine Vernunft ist durch Gefühle beeinflusst und seine Entscheidungen sind maßgeblich durch Gefühle geleitet. Entscheidungen ohne Gefühl gibt es nicht. Als Meta-Sinnesorgan übersteigt das Gespür einzelne Impulse und Einzelwahrnehmungen. Ein gutes Gespür bedeutet geistige, leibliche und emotionale Gegenwärtigkeit.
Das Gespür ist eine Methode. Der Mensch kann bewusst auf sein inneres Geschehen aufmerksam werden. Die Methode errichtet innere Wege oder macht innere Wege begehbar, um das Gespür zu verfeinern und feiner Nuancen gewahr werden zu können. Dazu „bedarf das Gespür der Übung“, damit es als „Sinn für das Unbestimmt-Bestimmte“, wie Gottfried Boehm das Gespür[1] definiert, wirken kann.
Auch die autonomen Systeme arbeiten methodisch, indem sie in kritischen Situationen nach Vertrautem aus der Evolution und nach Erfahrungen, die der betroffene Mensch im Laufe seines Lebens in vergleichbaren Situationen gemacht hat, suchen, und die gut bewältigt wurden. Das Gespür hilft, in kürzester Zeit Entscheidungen zu fällen und zur Handlung zu drängen. In dem Sinne ist das Gespür das Gewahrsein aller gegenwärtigen Gefühle und Verhaltensweisen, aller aktuellen Impulse aus dem Innen und aller Sinnesreize aus der Umwelt: Gespür ist das Vernehmen des Ganzen, das eine Person in einer Situation – im Hier und Jetzt – ausmacht.
Zur Methode gehört die Gewohnheit. Damit die Permanenz des Entscheidens Menschen nicht in ihrem Lebensvollzug behindert, sind die meisten Entscheidungen entweder automatisiert oder bestehen in Gewohnheiten. Nach Gregory Bateson kann es sich kein Organismus leisten, sich der Dinge bewusst zu sein, mit denen er auf unbewussten Ebenen umgehen könnte.[2] Sind in gefahrvollen, brenzligen Situationen Entscheidungen zu treffen, würde das Abwägen des Für und Wider alternativer Handlungsstrategien zu lange dauern, denn bewusst können Menschen weder schnell entscheiden noch die Vielzahl von Variablen berücksichtigen, noch in kurzer Zeit die für eine Entscheidung relevanten Variablen herausfinden.[3]
Das Gespür lässt sich betrachten als ein System unterschiedlicher Formen des Vernehmens und Gewahrwerdens. Es kann auf den Erhalt des Lebens gerichtet sein, auf Hunger und Durst, Kälte, Krankheit und Verletzung. Das Gespür kann eine aufsteigende Angst in lebensbedrohlichen Situationen oder in Momenten, die Moral, Anstand und Peinlichkeit betreffen, signalisieren. Der Mensch spürt auch Müdigkeit, die ihn vorsichtig werden lässt und ihm mitteilt, dass er mit seinen Kräften haushalten muss. Das Gespür kann in Situationen der Entscheidungsfindung auftauchen entweder in gefahrvollen Situationen wie beim Bergsteigen oder im Straßenverkehr, in denen blitzschnell reagiert werden muss, oder in Situationen, in denen für eine Entscheidung ausreichend Zeit zum Abwägen zur Verfügung steht: Etwa bei den Fragen, welches Automobil oder welchen Anzug ich kaufe, wo ich meinen Urlaub verbringe oder welchen Beruf ich ergreife? Die unterschiedlichen Formen des Gespürs verlangen nach unterschiedlicher Aufmerksamkeit und haben unterschiedliche Intensität.
4. Spüren
Das Spüren ist das Sein im Hier und Jetzt. Das Vernehmen eines gestimmten Bewusstseins oder das Wahrnehmen in der Gestimmtheit.
Spüren ist ein vierfaches Vernehmen. Ein differenziertes (Sensibilität), komplexes (Synästhesie), gesammeltes (Aufmerksamkeit) und einer inneren Logik (Methode) folgendes Vernehmen. Die innere Logik des Gespürs, die die Evolution ausgebildet hat, erweitert der Mensch durch seine Kulturproduktion. Die Spürlogik ist biologisch und sozial bedingt und wird durch das Wissen und Können der Mitglieder einer Kultur erweitert und verfeinert.
Spüren beginnt als Tätigkeit des Suchens. Schon Amöben zeigen eine Suchbewegung – ein Suchen nach Nahrung. Höher entwickelte Tiere verfügen über höher entwickelte Formen des Spürens: etwa das Schnuppern, Schnüffeln, Wittern oder Riechen. Beim Menschen teilen sich Gespür und Wissen die Arbeit bei der Suche nach Nahrung und beim Erspüren von Gefahr. Die australischen Ureinwohner haben ihre Fähigkeit, Tierfährten und Wasser aufzuspüren, so weit geschärft, dass sie sich in kargsten Landstrichen behaupten können. Bereits ihre Kinder verfügen über ein hervorragendes Gespür und über ein differenzierteres Wissen von Pflanzen, Tieren und der Geographie des Kontinents. Wenn die Jungen bei Wurfübungen versuchen, Steine durch hochgeworfene Reifen zu werfen, sammeln sie die geworfenen Steine und Ringe ein, ohne sie suchen zu müssen, da ihr Gespür und das beständige Üben eine solche Gegenwärtigkeit erreicht hat, dass Geist, Sinne und Vernehmen auch außer ihnen – bei den Dingen – sind. Was das Innen, das Gespür anzeigt, gehört in den Kreis auch der äußeren Zeichen.
Kinder verfügen oft auch ohne vorhergehende Übungen über ein gutes Gespür. Wenn sich Kinder mit einer Herzschwäche überanstrengen, gehen sie automatisch in die Hocke, weil sie spüren, dass die Hocke ihnen gut tut. Dass die Hocke ihr Herz entlastet, da die Herzbelastung mit der geringer werdenden Entfernung des Herzens von der Fußsohle abnimmt, wissen sie nicht, sondern sie spüren lediglich, dass die Hocke für ihre körperliche Verfassung ein geeignetes Gegenmittel darstellt.
Es ist das unbewusste Sein im Hier und Jetzt, ein Vermögen, das auf einen hohen Grad an Gegenwärtigkeit verweist, auf einen vollkommenen Augenblick. Anny, die Freundin des Protagonisten in Der Ekel von Sartre, Antoine Roquentin, hegt eine Zeitlang den Traum vom Vollkommenen Moment. Sie gibt ihn später auf, weil sie in jedem beinahe vollkommenen Moment immer noch ein unfertiges Element findet, das sie stört, verstört, enttäuscht. Das Leben verliert für sie ihren Wert. Vollkommene Augenblicke wären das Zusammentreffen von Denken und Fühlen, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Fertigkeit und Spüren. Gefühle sind verkörpertes Wissen und Können, entstanden im Prozess der Evolution: Intelligente Verkörperungen, deren vollkommenster Ausdruck das Gespür ist.
Der vollkommene Moment als erfüllter Augenblick ist keine Utopie. In ihm verdichtet sich das ganze Sein einer Person. Das Gespür kann dabei so intensiv sein, dass es das gesamte geistige und emotionale Wissen und Können einer Person in einem solchen Maß verdichtet, dass sich eine Ahnung einstellt, von einem künftigen Ereignis, das sich dann im Bruchteil einer Sekunde tatsächlich realisiert. Es handelt sich um einen Moment, in dem der Mensch alle in ihm vorhandenen bewussten und unbewussten Faktoren abruft und in einem Gespür vereinheitlicht zu einer Ahnung.
5. Spüren und Denken
Der Mensch ist das Lebewesen, in dem sich die Instinkte in Gespür und Verstand differenziert haben. Gespür und Verstand haben ihre eigenen Stärken, die sich in verschiedenen Situationen ergänzen – im Zusammenwirken des sinnlichen und des spürenden Gewahrwerdens mit den geistigen Instanzen des Ordnens, Überschauens und Erkennens.
Der Verstand bildet Begriffe, die das Denken verbindet und trennt – das mögen Ideen, Gefühle oder Vorstellungen sein. Das Denken bearbeitet nach den Vorstellungen von Grammatik und Logik die Begriffe, um neue Gedanken zu bilden oder Anweisungen für das künftige Handeln zu gewinnen und das Verstehen ist das Vermögen, Begriffe von Ideen, Erinnerungen oder Gefühlen in ihrem Zusammenhang zu erkennen.
Entstanden ist der Verstand mit der Möglichkeit, Handlungen aufschieben zu können und die Instinkte zu differenzieren. Eine Bedingung dafür, dass freie Elemente wie das Denken entstanden, die in autonome und unbewusste Prozesse eingreifen konnten, liegt darin, dass die Nervenbahnen der Großhirnrinde, die zuständig für das Denken ist, länger sind als die Nervenbahnen der Hirnzentren. Dadurch ergibt sich Zeit für Interventionen und Aufschub. Der Verstand repräsentiert die jüngere Entwicklung der Evolution. Er ist zukunftsgerichtet, prüfend und beweglich, das Gespür konservativ, bewahrend.
Die Philosophen haben Denken, Verstand und Vernunft zum Adel des Menschseins erklärt. Von der griechischen Antike über das Christentum bis zur Gegenwart gelten Gefühle, die dem Leib zugeschrieben werden, als lästig, störend, dämonisch. Das typische Organ des Menschen sei der Verstand. In allen Zeiten der Geschichte des Menschen dominieren im Alltagsleben Gefühl und Gespür, wenn auch oft in ihrer ideologischen und sentimentalen Form. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert nehmen auch, gestützt auf neurobiologische Forschungen, immer mehr Wissenschaftler an, dass das Gespür wesentlich zum Menschen gehört. Manche Neurobiologen sehen im Gefühl sogar die alleinige Basis für das, was den Menschen veranlasst, zu handeln. Doch unbedeutend ist der Verstand weder für die Evolution noch für den Menschen, so dass Verstand und Gefühl nicht gegeneinander zu setzen sind. Der Verstand ist in der Evolution ein völlig neues Prinzip und hat die Menschen in der Bearbeitung und Beherrschung der Natur sehr erfolgreich gemacht. Während Gespür große Gegenwärtigkeit bedeutet – es heißt auch Geistesgegenwart –, ist der Verstand vor allem auf die Zukunft und zukünftiges Handeln gerichtet und deshalb mit Kulturerzeugung und Technik verbunden. Ein Ingenieur, der ein Flugzeug nach Gespür baut, würde kein Vertrauen genießen. Alle Bereiche der Mikro- und der Makrowelt sind dem Gespür entzogen, dem Verstand aber zugänglich. Der Mensch hat kein Gespür dafür, dass sich die Erde um die Sonne dreht, er kann das Wissen aber durch Erfahrung und Verstand erwerben.
Der vernunftbegabte Mensch hat sich die Erde unterworfen. Sein geistiges Vermögen hat ihn vielseitig gemacht. Er hat sich erfolgreich an jedes Gelände der Erde angepasst: an den Urwald und die Wüste, an Niederungen und Gebirge, an den Äquator und an Eislandschaften. Und an unterschiedliche Nahrung. Er fügt sich nicht passiv in seine Welt, sondern passt die Welt seinen Bedürfnissen an. Er hat das Jagen und Sammeln aufgegeben, sich sesshaft gemacht, die Erde besetzt, Tierzucht und Ackerbau erlernt und seinen Machtbereich erweitert. Mit den Mitteln der Vernunft hat er aus Naturstoff eine immense Güterwelt geschaffen. Er hat immer feinere Werkzeuge hergestellt und mit ihnen immer neue und immer kompliziertere Güter hervorgebracht. Dann hat er für den Güterhandel Handelswege über die Erde ausgebreitet und die Erde in einem ungeheuren Produktionsexzess mit Dörfern, Städten und Fabrikagglomerationen, mit Infrastruktur, mit Geräten, Türmen, Transportmitteln, Apparaten und Dingen vollgestellt.
Der vernunftbegabte Mensch hat über sich selbst und über die Welt, die er geschaffen hat, nachgedacht. Er philosophiert über seine Stellung in der Welt und über Verantwortung, er schafft Kunst, Sport, Wissenschaft und andere Kulturgüter. Das ist der erfolgreiche Weg von Verstand und Denken. Wenn auch das Gespür im Hintergrund mitarbeitet.
Wie die Vernunft hat das Gespür Grenzen. Sie liegen in der Qualität der Sinne, des Atems und der Aufmerksamkeit sowie der Umwelt. Der moderne Mensch hat nicht nur eine Dingwelt geschaffen, sondern mit ihr eine unermessliche Flut von Reizen, Impulsen und Informationen, denen er permanent ausgesetzt ist. Er kann die Informationsflut kaum bewältigen, da er sich an den Reizüberschuss gewöhnt und verlernt, die Reize zu unterscheiden und zu bewerten. Die Sinne stumpfen ab und das Gespür verliert seine Sicherheit. Der moderne Mensch müsste lernen, Verstand und Gespür, Denken und Spüren zusammenbringen, damit er seine eigene Ökologie bewahrt oder zurückgewinnt.
6. Entscheiden
Das Leben zwingt permanent zu Entscheidungen, denn sie liegen sowohl dem Tun als auch dem Nicht-Tun zugrunde. In einer unendlichen Kette solcher Entschlüsse besteht das Leben. Was Verstand und Vernunft nicht allein vermögen – Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen verlangen Gefühl und Gespür. Wer sich nicht spüren kann, kann sich auch nicht entscheiden.
Antonio R. Damasio berichtet von einem Patienten, der nach der Entfernung eines Gehirntumors sein Gefühl verlor. Er verfügte über eine gute Wahrnehmung, eine hohe Intelligenz und ein gutes Gedächtnis, mit dem Gefühl aber verlor er etwas Wesentliches: Er konnte keine Entscheidungen mehr treffen. Er verlor in der Folge seine Anstellung und seine Ehe wurde geschieden. Er hatte seinen Halt verloren, denn ohne Gefühl vermag sich der Mensch keine Richtung zu geben, denn nicht Verstand und Intelligenz sind wertende Instanzen, sondern das Gefühl. Es trifft Entscheidungen nach den Prinzipien von Erfahrung (Erinnerung) und Logik (Verstand). Der Verstand kann das Material nur neutral bearbeiten.
Charaktere der Literatur, die unter Mangel an Gefühl leiden, sind Antoine Roquentin in Der Ekel von Jean-Paul Sartre und Meursault in Der Fremde von Albert Camus. Meursault treibt ohne Sinn und Ziel durchs Leben. Mit scharfem Verstand beobachtet und beschreibt er Menschen und scheint dem Leben gegenüber gleichgültig. Ursprünglich war das der Titel des Romans: Der Gleichgültige. Jedoch war der Titel schon durch den Erzählband L’indifférent von Marcel Proust vergeben. Dem Gleichgültigen ist alles gleich, gleich wertig, so dass es weder Grund noch Möglichkeit gibt, sich für eine Richtung zu entscheiden. Das gleichgültige Leben ist aufgelöst in Augenblicke, da es ohne Werte lediglich fadenscheinige Perspektiven gibt, aber keine Zukunft. Sartres Antoine Roquentin wird zwar vom Gefühl des Ekels erfasst, doch was ihm bleibt, ist die reine Existenz. Wie Meursault treibt er durch sein Dasein. Seine Vergangenheit entschwindet und die Wochen zerfallen in verbindungslose Tage und die Stunden und in einzelne Minuten. Den Erkenntnissatz von Rene Descartes „Ich denke, also bin ich“ dreht er um in „Ich existiere, weil ich denke.“[4] Da er das Denken als etwas Wesentliches darstellt, es dennoch als das Zufällige bezeichnet, scheint ihm gerade das Wesentliche zu fehlen: Anteilnahme und Wert: also Gespür – verlorengegangen in den Jahren der Zurückgezogenheit.
Entscheidungen nach Gespür sind meist vernünftig, denn in ihnen steckt das in Jahrmillionen aus Erfahrung gewonnene Wissen der Evolution: das in der Auseinandersetzung mit der Welt gewonnene Wissen und das an den Dingen erprobte Können. Die Welt gibt Logik, Methode und Vernunft vor, an denen sich die Lebewesen bewähren oder zugrundegehen. Entscheidungen nach Gespür haben gegenüber Entscheidungen aus Gründen der Vernunft den Vorteil, dass sie schneller, sicherer und präziser getroffen werden. Das Gespür bildet die Grundlage für ein als sinnvoll erachtetes Dasein, da es ohne Gespür keine Werte und deshalb keine Entscheidungen gibt, ohne die der Mensch nicht frei und eigenständig handeln kann.
7. Pflege des Gespürs
Menschen wissen von der Qualität des Gespürs und haben gelernt, ihren Verstand einzusetzen, um das Gespür zu initiieren, aufzusuchen und zu verfeinern. Denn nicht nur das Gespür bestimmt den Verstand, sondern auch das Denken kann auf das Gespür einwirken. Wenn Menschen eine Haltungsgewohnheit oder eine Atemweise korrigieren, werden die Elemente des Korrigierens zum Material Gespürs in zukünftigen Situationen. Ein Verfahren der Evolution, in dem das Gespür differenziert und gepflegt wird. Der Mensch hat das Verfahren erkannt und imitiert. Der Kern des Verfahrens besteht in der Aufmerksamkeit – im Verharren bei einem in der Wahrnehmung gegebenen Sachverhalt.
Therapie – Atem und Aufmerksamkeit
Das Gespür ist eng mit Atem und Aufmerksamkeit verbunden. Über den Atem kann der Mensch sich spüren – angenehme wie verstörende Gefühle. Spüren ist das Gewahrwerden, Deuten und Verstehen innerer Zeichen. Deshalb kann sich der Mensch über den Atem innen erreichen. Wenn er auf den Atem aufmerksam wird, sich auf ihn konzentriert, kann er ihn zu beliebigen Regionen des Körpers strömen lassen: zur Entspannung an verspannte Muskeln, zur Linderung an schmerzende Regionen oder zum Spüren einzelner Körperabschnitte. Zur Beruhigung kann er sich auf den Atem selbst konzentrieren. Das Vermögen, Aufmerksamkeit und Atem gut aufeinander beziehen zu können ist das gute Gespür.
Buddhisten haben früh den Zusammenhang von Atem und Gespür erkannt und methodisch für asketische Übungen genutzt. In ihrer Nachfolge werden heute Meditation und Techniken der Entspannung und Beruhigung praktiziert. Das methodisch eingeleitete Spüren kommt der Sensory Awareness nahe. Der Sache, nicht dem Begriff nach, denn Sensory Awareness heißt Sinnesbewusstheit, handelt aber vom bewussten Spüren. Den Begriff hat Charlotte Selver im Jahr 1938geprägt, die die Arbeit ihrer Lehrerin Elsa Gindler in den USA weiterführte. Elsa Gindler arbeitete mit dem Musiker Heinrich Jacoby zusammen und hat das initiiert, was sie als Arbeit am Menschen auffasste. Aus ihren Ideen sind die vielfältigen Arten der Atem- und Körperarbeit entstanden. Der Kern des bewussten Spürens ist die Aufmerksamkeit auf das Atemgeschehen: Das ungestörte Strömen des Atems sollte die Wahrnehmungsfähigkeit erweitern. Charlotte Selver hat mit ihren Ideen Persönlichkeiten wie Mary Wigman, Erich Fromm, Karlfried Graf Dürckheim, Elfriede Hengstenberg, Fritz Perls, Wilhelm Reich, Carl Rogers, Zen-Meister Suzuki Roshi, Emmi Pikler, Alan Watts und Moshé Feldenkrais maßgeblich beeinflusst.
Sensory Awareness ist die Beschäftigung mit dem Spüren und soll helfen, gegenwärtig sein zu können. Charlotte Selver definiert es als Entfaltung und Kultivierung der Wahrnehmungsfähigkeit und einer größeren Breite und Feinheit des Empfindens. Dadurch werden die inneren Energien erweckt und befreit. Das wird erreicht durch die Beschäftigung mit dem Spüren, bei dem der Mensch den Kräften der eigenen Natur begegnet. Suzuki Roshi und Alan Watts sehen in der Sensory Awareness das lebendige Zen als innere Erfahrung des gesamten Seins.[5]
Eine spezielle Form der Aufmerksamkeit ist das Einfühlen, wie es in der Ästhetik durch Theodor Lipps bekannt wurde. In der Einfühlung projiziert der Mensch das eigene Erleben in Gegenstände, fühlt sich in sie ein und beseelt sie. Die Ästhetiktheorie, die Lipps daraus ableitet, gründet in der Aufmerksamkeit für eine architektonische oder zeichnerische Form und ihre Relation zum eigenen Erleben. Der Betrachter fühlt sich mit den in ihm wirkenden Kräften in die Form ein, und wenn er nachvollziehen kann, dass die projizierten Kräfte die Figur hervorgebracht haben könnten, soll er die Gestalt als schön empfinden.
Neurobiologische Hirnforschungen konnten einige der von Lipps entwickelten Ideen bestätigen, denn Spüren und Einfühlen haben eine sachliche Basis in Handlungs- und Spiegelneuronen, die als eine Bedingung der menschlichen Kommunikation und des Handelns gelten. Handlungen werden in anderen Menschen gespiegelt und wenn jemand eine Handlung A ausführt, A imaginiert oder die Handlung A bei einem anderen Menschen beobachte, sind jedesmal dieselben Hirnareale in derselben Weise aktiv. Dasselbe gilt für Gesten, Gesichtsausdrücke und die dahinter vermuteten Gefühle. Deshalb gilt das System der Spiegelneurone als verantwortlich für die menschliche Kommunikation und für Mitgefühl und Einfühlung. Da Spiegelsysteme ein gutes Gedächtnis haben, sind sie die Speicher der sozialen Kompetenz und des sozialen Wissens.
Der Mensch muss von Geburt an ständig gespiegelt werden, um Hinweise zu erhalten, wie sein Verhalten und Handeln auf andere wirkt. Da die Spiegelungen ohne Verzögerung stattfinden, gibt es weder Ursache noch Wirkung der Beeinflussung. Die Spiegelungen sind der Ort, an dem das Gefühl entsteht, denn der Erwachsene kann dem Kind unmittelbar mitteilen, wie es auf seine Umwelt wirkt. Dadurch wird dem Kind der Zugang zu einem anderen Menschen eröffnet, den es verstehen und erspüren kann. Gibt es wenig Spiegelung, gibt es wenig Resonanz und die Spiegelneurone bilden sich zurück und erschweren die Kommunikation und das Spürpotenzial bleibt gering. Da sich auch Erwachsene ständig gegenseitig spiegeln, gleichen sich Verhaltensweisen an und führen zu Gewohnheiten, die typisch werden für die Mitglieder einer Gemeinschaft. Dadurch entsteht infolge der Spiegelneurone ein gemeinsamer, intersubjektiver Bedeutungs- und Handlungsraum, der die Individuen einer Gemeinschaft zu einer Sozietät zusammenfasst.
Gespürtechniken – Klang, Trance und Bewegung
Die Kultur der australischen Ureinwohner ist eine Kultur des Spürens und Hörens. Die Mythen und Lieder ihrer Ahnen und die Geographie sind auf das Klingen und Tanzen ausgerichtet, die Gegenwart an der Traumzeit, der Zeit der Schöpfung, mit der sie ständig in Verbindung sein müssen. Ihre Rituale sind Formen der Orientierung.
Ein fein ausgebildetes Gespür bildet eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Weisheit der Ahnen der Traumzeit muss lebendig gehalten werden. Sie wird mündlich und rituell in Tänzen überliefert, wozu die Aborigines Klänge und den Atem einsetzen. Mit den Tönen ihrer ungewöhnlichen Musikinstrumente und mit ihren rituellen Tänzen finden sie Zugang zum Gespür, das sie zu den Ahnen trägt.
Das Didgeridoo[6] stammt aus dem Norden Australiens. Ein Holzblasinstrument aus einem von Termiten ausgehöhlten Ast oder Stamm des Eukalyptusbaumes. Das gewachsene Rohr mit einem Durchmesser von drei bis zwölf Zentimetern wird auf eine Länge von ein bis zweieinhalb Metern geschnitten, innen gereinigt und außen bemalt. Geblasen wird es in der Zirkularatmung, einer komplizierten Atemtechnik – der Permanentatmung. Der mit Luft gefüllte Mundraum wird mit der Zunge verschlossen und ermöglicht das Einatmen durch die Nase, während gleichzeitig die Luft ausgeblasen wird. So kann der Musiker kontinuierlich in das Instrument pusten, sprechen und blasen, während er durch die Nase einatmet. Die Technik wird bei vielen Blasinstrumenten wie der Tuba, der Blockflöte oder der Posaune angewendet. Das Didgeridoo ist ein tieftoniges Instrument für den Rhythmus, das gut für rituelle Tänzen geeignet ist, da tiefe Töne zu motorischer Aktivität anregen.[7]
Die Blastechnik ist durch das kontinuierliche Atmen kompliziert. Da sie zu Schwindel und zu Hyperventilation führen kann, eignet sich das Instrument gut zu rituellen Zeremonien und Tänzen, denn seine Töne können sowohl den Musiker als auch die Zuhörer in Trance versetzen und das Gespür wecken.
Wie das Didgeridoo dient das Schwirrholz der Aborigines rituellen Zwecken. Ein verziertes zwanzig bis vierzig Zentimeter langes zu einem schmalen Oval geformtes Holz wird an einem Band über dem Kopf im Kreis gedreht. Das Holz dreht sich je nach Art seiner Form zusätzlich um die eigene Achse und erzeugt tiefe Töne, die rasch wechseln können und rätselhafte Geräusche erzeugen – Schwirrgeräusche, die als Stimmen der Ahnen gedeutet und ausgelegt werden.
Beide Instrumente dienen dem Spielerischen, sind aber auch Werkzeuge zur Bewahrung und Verfeinerung des Gespürs. Mit ihnen bleiben die Aborigines ihren Ahnen auf der Spur. Ständig suchen sie Gelegenheit, mit ihnen in Kontakt zu treten und sie zu befragen. Dazu müssen sie sich in die Ahnen hineinversetzen, sie spüren und sich dieses Gespürs ständig versichern. Das Spielen und Hören der Instrumente dient auch dem Erhalt der eigenen Spürfähigkeit, denn auch sie selbst werden eines Tages Ahnen sein und müssen ihren Nachkommen ein hohes Maß an Gespür vererben.
Für das Instrument der menschlichen Stimme kennen die Aborigines die Traumlieder oder Songlines. Sie führen sie kreuz und quer durch den Kontinent. Nicht Richtungspfeile und Wegmarkendienen als orientierende Zeichen, sondern Tänze und Rhythmen, Melodien und rituelle Handlungen. Songlines, die Pfade der Urzeit des Stammes, sind unsichtbare Wege, die den australischen Kontinent durchziehen.[8] Eine Kombination aus Musik, Text und Linie. Eine Abfolge von Liedern entspricht den Abfolgen und Rhythmen der Landschaft und gibt auf den Wanderungen Orientierung, denn den Schöpfungsmythen zufolge erschließen die Lieder wandernd den australischen Kontinent und machen aus den Liedern Landkarten, die an nachfolgende Generation weiter gegeben werden. Die Lieder sind ihre geographische Landkarte. Hörkarten, in die Berge und Flüsse, Ebenen, Wälder und Seen wie eine Notation eingeschrieben sind. So ist der gesamte australische Kontinent imaginär durchzogen von Hör-Pfaden – laut und leise, schnell und getragen, harte Rhythmen, Pausen und sanfte Klangfolgen.
In den Songlines sind Hören und Gehen, Rhythmus und Landschaft, gesungener Text und kosmische Botschaft miteinander verwoben. In den Liedern kommt das Gespür zum Ausdruck: das gesungene Lied ist die Stimme des Gespürs. Dabei ist das Gespür so fein ausgebildet, dass es Lied und Landschaft so aufeinander zu beziehen vermag, dass es daraus eine Entscheidung über den Wegverlauf trifft und den Stamm dorthin führt, wohin er wollte.
Spuren archaischer Kulturen, magische Spuren, dürfen rational nicht befestigt werden. Deshalb müssen Mythen allgemein und rätselhaft bleiben, damit sie immer wieder gedeutet werden können. Denn ihre Rationalisierung wäre eine Fixierung des Mythos, eine Festschreibung auf eine konkrete Zeit und einen konkreten Raum, die zur Ideologie werden würde. Die Mythen, Rituale und Songlines würden ihre Allgemeingültigkeit und damit ihre Praxistauglichkeit verlieren.[9]
Wahrheit zeigt sich nicht im Denken und im Verstand, denn wer denken will, muss spüren. Wahrheit zeigt sich im Gespür, das Verstand und Vernunft einschließt.
Kultur und Gespür
Wo das Gespür immer wieder eine Rolle spielt ist die Kunst. Auch in der Philosophie, in Wissenschaften, die sich im Umbruch befinden und in außergewöhnlichen Lebenssituationen.
In Umbruchzeiten ist die Avantgarde des Wissens auf das Gespür angewiesen, um für gerade gewonnene Wissensinhalte neue Formen zu erfinden. Die Philosophie hat es mit allgemeinen Prinzipien ebenso zu tun wie mit banalen Phänomenen des Alltags. Die Kluft lässt sich oft nur mit Hilfe eines feinen Gespürs überbrücken. Und in außerordentlichen Situationen durchbrechen Menschen immer wieder einmal die Banalität des Alltäglichen durch Gespür und offenbaren die Leistungsfähigkeit der Evolution.
Am anschaulichsten spielt das Gespür in der Kunst eine Rolle. Weder unterliegt sie dem Zwang noch hat sie die Möglichkeit, die geordnete, messbare Welt abzubilden. Ohne dass sie deshalb aufgeben müsste, etwas über die Welt mitzuteilen. Sie kann thematisieren, was sich der Sprache, der Präzision, der Dinglichkeit und der Logik entzieht, so dass sie hinter den Kulissen der gegenständlichen Welt andere Welten entdecken, erfinden und zeigen kann. – Kunst ist die Darstellung einer gespürten Welt.
Literatur
Bateson, Gregory (1983): Ökologie des Geistes, Frankfurt/ Main.
Bauer, Joachim (2008): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur
aus kooperieren, München und Zürich.
Boehm, Gottfried (2008): Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des
Zeigens, Berlin.
Brooks, Charles V.W. (1991): Erleben durch die Sinne, München.
Chatwin, Bruce (1987): Songlines, München.
Damasio, Antonio Rosa (2003): Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle
unser Leben bestimmen, Berlin.
Edelman, Gerald M. (2007): Das Licht des Geistes. Wie Bewusstsein
entsteht, Reinbek bei Hamburg.
Franck, Georg (2007): Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf,
München.
Lewis, Dennis (1999): Das Tao des Atmens. Atem als Weg zu
Gesundheit und innerem Wachstum, Reinbek bei Hamburg.
Maturana, Humberto R./ Varela, Francisco J. (1984): Der Baum der
Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens,
Bern und München.
Lipps, Theodor (1906): Ästhetik II., Psychologie des Schönen und
Kunst, Hamburg und Leipzig.
Middendorf, Ilse (2007): Der erfahrbare Atem. Eine Atemlehre,
Paderborn.
Sacks, Oliver (1992): Stumme Stimmen. Reise in die Welt der
Gehörlosen, Reinbek bei Hamburg.
Sartre, Jean-Paul (1982): Reinbek bei Hamburg.
Singer, Wolf (2008): Der 7. Sinn, S. 151-160, in: Anne Hamilton/
Peter Sillem (Hg.), Die fünf Sinne. Von unserer Wahrnehmung der
Welt, Frankfurt/ Main.
Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur
Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/ Main.
[1] Boehm 2008, S. 147.
[2] Vgl. Bateson 1983, S. 201.
[3] Singer 2008, S. 154.
[4] Sartre 1982, S. 115.
[5] Vgl. Brooks 1979, S. 169 ff.
[6] Jeder Stamm hat für das Instrument seinen eigenen Namen und eigenen Entstehungsmythos. Vgl. http//www.australien-info.de/didjeridu.html
[7] Seit 1980 hat das Didgeridoo Eingang in die Popmusik gefunden – etwa bei der Gruppe Yothu Yini, in der Aborigines aus dem Norden Australiens und europastämmige Australier spielen. Sänger und Liedschreiber Mandawuy Yunupingu ist Aborigine und wurde 1992 zum Australier des Jahres gewählt. Die Musik von Yothu Yini verbindet traditionelle Musik der Aborigines mit der Popmusik.
[8] Jeder australische Stamm hat seine eigenen Lieder, Rituale und Pfade. Auf dem heiligen Pfad eines fremden Stammes angetroffen zu werden, kann tödlich sein.
[9] Ihre gegenwärtige Praxis-Untauglichkeit haben sie durch die Intervention fremder Kulturen erlangt.
© Hajo Eickhoff 2012
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