Netz, Stuhl, Schule, Stadt und Haus – die Geschichte des Abendlandes ist die schrittweise Überführung der Natur in diese künstlichen Räume. Diese fünf vom Menschen in die Welt gesetzten Räume sind Kulturräume. Strategische, umkämpfte Bezirke der Macht. Begrenzende Gelände der Beruhigung im unmittelbaren Kampf mit den Gewalten der Natur. Wer sich in ihnen aufhält, partizipiert an der Kultur, die sie verkörpern. Der Mensch geht von einer gesicherten Position aus auf die Welt zu und entfaltet im geschützten Umgang mit ihr seine Kultivierung. Über die Gestalt der Räume kann die abendländische Geschichte als eine Folge von Überschreitungen des Menschen aufgefasst werden, die ihn vom Jäger und Sammler über den Stadtbewohner, der in der Schule geformt wird, bis hin zum virtuell Reisenden des Computerzeitalters führt. Im Umgang mit den dinghaften und strukturellen Elementen der Räume, die im Verlauf dieser Geschichte entstehen, sich addieren, kombinieren und durchdringen, bildet er seine sinnliche, emotionale und kognitive Kontur aus. Zugleich schafft der Mensch im Umgang mit den Objekten, die er durch die Räume hervorbringt, innere Bezirke der Beruhigung: Er engt seinen Wirkungskreis ein, um sich nicht zu verlieren. Die Beruhigung erfolgt in der geglückten Anpassung der Sinne an die Objektwelt.
Im Prozess der Entfaltung seiner kulturellen Qualitäten mittels Ausbildung von Raum löst sich der Mensch von seinen natürlichen Quellen. Kultivierung erweist sich als Distanzierungsmittel von der Natur und Kultur als Bewältigung der Angst des Menschen vor der Natur. Diese existentielle Angst wird er später Sinnlosigkeit nennen. Seine Strategie der Beruhigung besteht darin, dass er in sich das Verhältnis zwischen Natur und Kultur zur Kultur hin verschiebt und es auf seine Umgebung überträgt und daran seine Identität ausbildet. Mit jedem Entwicklungsschub werden die Lebensformen abstrakter und künstlicher, als beinhalte die Entwicklung des Abendlandes von Anfang an einen Plan, eine Tendenz der Verkünstlichung des Menschen, bis hin zu einem von ihm kreierten künstlichen Wesen.
Beruhigung ist das Vermögen des Menschen, innehalten und reflektieren zu können. Eine Fähigkeit, die Sinne zu kontrollieren und die Angst zu bannen sowie das Vermögen, Gefühle zurückzuhalten und den Geist auszubilden. Beruhigung korrespondiert mit Distanz, Planung, Systematik und Ordnung. Deshalb vermag der beruhigte Mensch im sozialen Kontakt, im Umgang mit Objekten oder bei der Arbeit kontrolliert und überlegt zu handeln. Die fünf Kulturräume sind Beruhigungsräume. In ihnen entstehen kulturelle Elemente, die weiterentwickelt werden, bis sich die nächste Raumform bildet. Von Raum zu Raum schreiten Selbstkontrolle, Rationalität, Wissen, technische Fertigkeit und Präzision der Apparate mit wachsender Geschwindigkeit fort, bis sie in der Gegenwart alle Grenzen sprengen und das Wissen zu einer unermesslichen Menge an Informationen und an Daten explodiert, das infolge der globalen Vernetzung immer weiter potenziert wird. Der physikalische Raum ist für Transaktionen ganz unterschiedlicher Art bedeutungslos geworden – als Datenhighway, virtueller Strom, Knoten, imaginärer Pool und Netz. Netz und Information schließen die Welt eng zusammen, aber die imaginären Wege, Kanäle und Pfade können den Menschen nicht mehr beherbergen. Noch ist nicht absehbar, wohin Netz, Information und Datenhighway den Menschen führen werden, räumlich aber schleudern sie ihn zurück ins Ununterscheidbare des Alls vor der Sesshaftwerdung.
Die gedankliche Konstruktion von Kulturräumen, ihre Entstehung und ihre Wirkung auf den Menschen sind tiefgreifende Umbrüche in der Kultur. Dabei geben ihre Termini die Richtung an, in welcher sie die kulturelle Formung vornehmen: das Haus (domus) domestiziert, die Stadt (civitas) zivilisiert den Menschen, die Schule (discipulus für Schüler) diszipliniert und der Stuhl (sedile) sediert ihn, während das Netz (das Digitale und Kybernetische) auf die perfektionierende Verkünstlichung des Menschen hinweist. Der Datenhighway verweist auf sein Verschwinden im Kosmos. Jeder Raumform entspricht eine besondere Form menschlicher Beruhigung. Der Raum und das durch ihn hervorgerufene Inventar arbeiten am Körper des Menschen: an seinen Sinnesorganen, an seiner Kraft und an seinem Atem, der Raum für geistige Aktivität schafft, so dass jeder Raumform auch eine besondere Form der Rationalität entspricht, die mit jedem weiteren Raum abstrakter wird: Die Weisheit moderner Menschen liegt nicht mehr in ihren Sinnen.
Eine Tiefenanalyse der fünf Räume und zugleich der Weitblick auf ihre Geschichte legen den Plan frei, nach dem der Mensch mit dem Beginn der Sesshaftwerdung auf die Aufhebung des menschlichen Körpers hinarbeitet. Er durchbricht den natürlichen Fortgang der Evolution, macht sich zum Gott und denkt daran, den Menschen durch ein neues, technisches und perfektes Wesen zu ersetzen. Auch wenn der Mensch erfindet, entwickelt und fortschreitet, um der Not zu begegnen, hinter seinem Handeln steckt doch der weit mächtigere Trieb der abendländischen Kultur, die Natur und den Menschen in Künstlichkeit umzuwandeln.
Die moderne Welt ist keine Zivilisation. Was wir pauschal und unzureichend Zivilisationsprozess nennen, lässt sich anhand der fünf Kulturräume erklären, weshalb die Geschichte des Abendlandes anders als bisher nachgezeichnet werden soll. Für den Zivilisationsprozess bedeutet die Gliederung in die Teilprozesse, dass der Zivilisierung eine wesentliche Formungsphase vorausgeht, nämlich die Domestikation, und ihr drei nachfolgen, die Disziplinierung, die Sedierung und schließlich der Anschluss ans digitale Netz. Denn untersucht man die Geschichte des Abendlandes unter der Perspektive, dass sie aus Entwicklungsfolgen besteht, die mit der Etablierung jeweils einer Raumform beginnt, wird deutlich, dass die moderne Welt nicht Zivilisation ist, sondern sich im Übergang von einer durch das Sitzen auf Stühlen sedierten zu einer in virtuellen Territorien vernetzten und informierten Gesellschaft befindet. Die fünf Räume sind Grundbausteine der abendländischen Kultur. Im Übergang vom Stuhl zum Netz, dem Informationsraum, stürzt der strategische Raum ins Nichts, wird non-space. Als Grundelemente für die Beruhigung geben die Räume dem Abendland eine charakteristische Gestalt und definierbare Perspektive.
Die Geschichte der Kulturräume des Menschen zeigt, wie eine kulturelle Aktivität entsteht, sich entfaltet und weiterbewegt und wie in ihrem Sog der Mensch Fertigkeiten, Erkenntnisse und Verhaltensmöglichkeiten erwirbt und Hochkulturen ausbildet, die in ihrem Einflussbereich fruchtbar gemachtes Land, Städte und Verkehrsstrukturen hinter sich lassen. Das Tradieren von Wissen, Verhaltensnormen und der Umgang mit Werkzeugen wird zu einem immer engeren Netz verknüpft, in dem jede weitere Raumform die Variabilität gesellschaftlicher Prozesse mindert, die Weiterentwicklung in der eingeschlagenen Richtung begünstigt und in sich die Tendenz zu einer abstrakten, technischen Lebensform hat.
Die für das Abendland maßgebliche Entwicklung nimmt ihren Ausgang in Mesopotamien, zieht weiter in Richtung Westen nach Ägypten und bewegt sich über Judäa, Griechenland, Nordafrika und Rom nach Europa, wo sie für eine lange Zeit zur Ruhe kommt und wo das Kulturerbe des Orients, Griechenlands und des Römischen Reiches in einer den europäischen Stämmen eigenen Art zur europäischen Kultur umgearbeitet wird. Mit dem Aufstieg Europas wird die Vielfalt der gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten so weit reduziert, dass nur noch eine einzige Dimension übrigbleibt: der Weg in eine künstliche und restlos von Technik beherrschte Welt. Die Prinzipien seiner kulturellen Aktivität – die rationale und asketische Weltbetrachtung und Lebensführung –, die innerhalb des eingeschlagenen Weges zu einer neuen Qualität der Entfaltung menschlicher Möglichkeiten führt, werden von Europa aus über die gesamte Erde verbreitet und bestimmen bis heute die Gestalt der gegenwärtigen Welt. Sichtbar wird, dass nicht der Mensch, die Völker oder die Menschheit das Bild der modernen Welt prägen, sondern nur wenige Menschen weniger Kulturen: Priester und Könige, Hofbeamte und Politiker, Händler und Unternehmer, Wissenschaftler. Es sind die mächtigen Eliten, die dem Weg eine Richtung geben.
Der erste künstliche Raum, das Haus, entsteht mit der Sesshaftwerdung, die den technischen Fortschritt einleitet. Das lineare, technische Lebensprinzip ist eine Domäne des Mannes, das fortan die Kulturentwicklung bestimmt. Der König setzt sich auf den Thron, besetzt das spirituelle Zentrum einer Gemeinschaft und sitzt symbolisch auf dem schöpferischen Schoß der weiblichen Gottheit. Im thronenden König verbinden sich über den Stuhl Rationalität und Beruf, Beruf als Berufung ins Amt durch einen Gott. Jedem Kulturraum entsprechen bestimmte Berufe und Stellvertreter, die Kosmos und Gemeinschaft zu sinnstiftenden Kräften verbinden und das Zusammenleben einer Gemeinschaft regeln. Zum Haus gehören Magier und Schamane, zur Stadt Priester und König, zur Schule Philosoph und Wissenschaftler, zum Stuhl Kaufmann und Politiker und zum Netz Humaningenieur und Genetiker. Führungsschichten sind Männerbünde, die das technische Wissen durch die Geschichte tragen. Die patriarchale Idee von der Verwandlung der Natur in Territorien hat das Christentum durch eine Theorie der Askese und des Fortschritts zu einer einzigen Perspektive vereinheitlicht. Dabei gilt die Entwicklung der Technik als Fortschritt zum Heil und zur Erlangung der Unsterblichkeit des einzelnen Menschen wie seiner Gattung. Humanbiologen, Genforscher und Humaningenieure formulieren diesen Sachverhalt paradox und differenzierter: Der Mensch der natürlichen Evolution geht seinem Ende entgegen, der durch Technik hervorgebrachte Mensch wird unsterblich.
Die Untersuchung gegenwärtiger strategischer Räume bietet Einblicke in die atemberaubende Geschwindigkeit der Gegenwart. Der Mensch hält nicht an, sondern greift mit Hilfe einer kleinen Gruppe von Forschern immer weiter und schneller über sich hinaus in die Galaxis und in das eigene Wesen hinein. Dazu hat er Werkzeuge bis zur Unstofflichkeit verfeinert, vergeistigt und den Zugang in scheinbar unzugängliche Räume ermöglicht, in den Informationsraum des Netzes: hochartifizielle Laboratorien; telematische Räume wie das elektronische Netz; utopische Raumformen wie die Galaxis; neurobionische Schnittpunkte, wie die Verbindung aus Chip und Neuronen. Die raumlosen Orte technischer Medien sind das notwendige Zubehör, das den zur unmittelbaren Begegnung mit der Welt Unfähigen die Teilnahme an der Welt sichert. Aber sie sind auch Orte der Isolation und der Vereinsamung, in denen das moderne Individuum zurückgezogen seine zeitgemäße Form des Denkens und Zweifelns vollzieht.
Die Analyse der Raumformen offenbart, dass ein Wesenszug des Menschen darin liegt, dass er über seine Natur hinaus, dass er immer weiter muss. Dass er über das Ensemble seiner Räume und den durch sie bestimmten kulturellen Zustand hinaus muss. Damit er seine Anlagen entfalten und seine Kultur gegen das Gegebene, die Natur, stellen kann. Seine Talente sind so unermesslich, dass er am Ende mit Hilfe von Kultur und Technik sogar seine Hauptmerkmale – aufrechtes und vernünftiges Wesen zu sein – verändert. Dabei ist jeder kulturelle Neuerwerb als Realisierung einer Möglichkeit ein Anhalten, ein vorübergehendes Innehalten, aus dem die nächste territoriale Aktivität hervorgeht: Das Erdenken und Realisieren neuer strategischer Räume der Beruhigung. Prinzipiell bleibt die Entwicklung unabgeschlossen, denn der Mensch kann seine Entfaltung nicht vollenden. Heute sind Humangenetiker dabei, das in den Genen verankerte Wesen des Menschen zu verändern: die menschliche Natur umzustürzen, auszugießen und Nanomaschinen Einlass in den Menschen zu geben. Damit wäre der menschliche Körper ersetzbar und der ersetzte Körper endlich selbst ein Kunstprodukt.
Durch das Schema seines Lebensraumes nimmt der Mensch die Welt wahr und deutet sie. In der Adaptation an die Raumordnung und das Inventar kultivierter Räume entwickeln sich Gehirn und Sinnesorgane, bilden sich Gefühle und Verhaltensweisen, Kenntnisse und Weltanschauungen aus. Denn das Gehirn und die Sinne reagieren in erster Linie auf das und setzen sich mit dem auseinander, was als Umwelt gegeben ist. Der Gleichgewichtssinn – das Zusammenwirken von Fußsohle, Tiefensensibilität und Gleichgewichtsorgan – ist der Hauptsinn, der alle anderen Sinneseindrücke integriert und dem Menschen im physikalischen Raum Orientierung gibt. Der Mensch schafft mit jeder Bildung eines neuen Kulturraumes, in dem seine Füße immer mehr an Boden verlieren, neue Orientierungsbedingungen und ordnet im Rahmen seines Gleichgewichtssinns die Hierarchie der übrigen Sinne neu.
Raumlose Existenz
Das Erstaunliche am Menschen ist das immense Potential, mit dem er die Natur gestalten und sich selbst seinen Gestaltungen anpassen kann. Jede Kultur ist eine Daseinsmöglichkeit des Menschen und darin allen anderen gleichwertig. Die Existenzform des Menschen vor der Sesshaftwerdung ist die Passage, eine leibhafte Form der Unruhe. Ohne ihre zyklischen Wanderungen können Menschen nicht leben, da die Natur an einem Ort in der Regel nicht ausreichend Nahrung hervorbringt. Sie folgen den Tieren, die sie ernähren, und suchen Gegenden auf, in denen Früchte reifen. Die Fußsohlen berühren den Erdboden nur kurz. Ihre Eindrücke sind gering und Wind und Regen zerstreuen die so entstandenen Wege. Kaum Spuren, die bleiben. Auf den Wanderungen arbeiten die Fußsohlen die Beschaffenheit und die Form des Bodens in den Organismus ein und bauen unter den Bedingungen des Gehens den Rumpf organisch auf den labilen Hüft-, Knie- und Fußgelenken auf, so dass der Wanderer den besonderen Rang des Menschen im Tierreich, das aufrechte Gehen und Stehen, zum Ausdruck bringt. Verzicht und Aufschub leisten oder warten gelingt ihnen nur in der Not. Alles nehmen sie aus der Passage heraus als bewegt wahr. Bäume und Wolken, Tiere und Berge, den Lauf der Sonne, Menschen. Bewegung ist ihnen heilig. Geschenke bewahren sie nur für kurze Zeit, sie müssen zirkulieren und weitergegeben werden. Nichts eignen sie sich an. Allein ihre Kultur tragen sie auf den Wegen mit sich. Sie ruht in ihrem Organismus, in der Form ihrer Gemeinschaft und ihrer spirituellen Haltung zur Welt. Fühlen und Denken kreisen um das ewige Laufen im All, dem Wirkungskreis der Geschöpfe. Das All ist kein Raum und hat keine Zeit. Diese entstehen vielmehr erst, wenn sich der Mensch niederlässt, sesshaft wird, den Erdboden kultiviert. Wenn er anhält, muss er die Bewegung der Füße, die Kraft des Körpers und seiner Organe in anderen Medien – in Kultur und Geist – weiterführen, die in seinen Räumen zum Ausdruck kommen.
Der erste aus dem Kosmos herausgeschnittene Raum ist das Haus. Ein massiver Eingriff in den Haushalt der Natur und des Menschen. Der Mensch gibt die Passage auf, tritt auf der Stelle und die Füße schaffen den ersten künstlichen und bleibenden Untergrund. Mit den Händen umschließt er einen Luftraum und bringt im Haus den ersten Kulturraum hervor. Er wird sesshaft und erhält in seiner Häuslichwerdung, der Domestikation, eine Identität als Ackerbauer. Der Mensch verlässt den Raum der Natur durch die Tür des Hauses in den Kulturraum.
Sesshafte verhalten sich an ihrem ersten strategischen Ort als Bauende. Sie erkennen ihre neue Form der Existenz, die von der Lebensform der Nichtsesshaften abweicht. Sie zähmen Pflanzen und Tiere, bestellen Äcker und bauen Häuser. Mit der Zähmung (Domestikation) von Pflanzen und Tieren und mit der Selbstzähmung beschreitet der Mensch einen Weg der Beruhigung und der inneren Abkehr von der Natur. Die Revolution der Zähmung wird noch bei heutigen Sammlern und Jägern wie den Doboro in Tansania als Kulturschock wahrgenommen. Als die ersten Massai mit Kühen zu ihnen kamen, war das für ein Jägervolk ein unglaublicher Anblick: zahmes, gefügiges Fleisch, das den Zwang zur Jagd aufhebe. Das domestizierte Tier wird bereits in die Falle hineingeboren.
Mit dem Haus entsteht ein fester Ort im All und die erste weithin sichtbare Gestalt menschlicher Kultur. Häuser sind Wände und bieten dem Menschen ein fassliches Gegenüber, das ein Anderes zur Natur ist: ein humanes Gebilde, ein Geschöpf des Menschen. Wände bremsen den Bewegungsdrang und bringen den Menschen in einen Abstand zu sich selbst. Indem das Haus einen Bereich der Natur verdeckt, tritt die Künstlichkeit des Produkts deutlich hervor. Da es auf etwas verweist, das hinter ihm oder außerhalb von ihm liegt, hat es Erkenntnis anregende Kräfte. Indem der Mensch das Haus in das All schiebt, tritt er sich selbstbewusst als Kulturwesen entgegen.
Häuser sind Zentren einer Kultur. Orte der Macht, die die Sesshaften mit Sicherheit und Selbstvertrauen ausstatten. Sesshafte leben unabhängig vom Wetter und ohne sich in einem weiten Gebiet bewegen zu müssen. Häuser bewahren das Feuer und sichern über lange Zeiten Ernteerträge, erzwingen aber auch Reduktionen. Der Mensch muss lernen, sein ungestümes Wesen zu bändigen, kraftvolle in kontrollierte Bewegungen umzuarbeiten, ausladende Gebärden zu kleinen Gesten zu verfeinern und sein Tun und den weiten Blick auf die nahe Welt umzulenken. Die Sesshaften leben geschützt vor wilden Tieren. Vom gesicherten Haus aus dringen sie in umliegendes Gebiet vor und ordnen es dem eigenen Domus unter. Von da an beginnt ein Prozess, in dem die Menschen die gesamte Natur in künstliche Produkte umwandeln, sich an den Produkten messen und sich in Fortschrittliche (Sesshafte) und Rückständige (Sammler und Jäger) einstufen. Mit der Fähigkeit, planen, bauen und verzichten zu können, schließt die erste Etappe der Beruhigung des Menschen, des Homo domesticus.
Die Stadt ist ein großflächig strukturiertes Territorium. Ein zweiter Kulturraum und sichtbares Großbauwerk. Sie geht aus der Spezialisierung der Hand hervor: ihre Gründer sind Handwerker und Händler. Sie gründen eine Stadt, weil sie für ihre handgemachten Erzeugnisse einen Ort erstreben, der ebenfalls ein Produkt ihrer Hände ist. Stadtgründungen beginnen mit der Festlegung eines Gebietes, die ein Pflug umfährt. Von dieser Umgrenzung wachsen Städte wie menschliche Organe auf ein Zentrum zu. Ihr Reiz liegt gerade in der Künstlichkeit. Die künstlichen Territorien gehen wie organisch aus der Tätigkeit des Menschen hervor. Sie wachsen. Die Stadt ist die kulturelle Bebauung einer weiten Naturfläche und die zweite Etappe der Beruhigung des Menschen.
Die Gründung einer Stadt bedarf der Planung und Absprache zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Städte weisen eine differenziertere Ordnung als das Haus auf und setzen den im Haus begonnenen Prozess der Umarbeitung der Natur fort. Mit ihrer Ordnung aus Plätzen, Häusern, Straßen und Mauern schiebt sich die künstliche Fläche der Stadt in die Natur unter das Haus.
Der domestizierte Mensch bildet die Voraussetzung für das Stadtleben. Die Stadt oder die Civitas umgreift den schon im Haus gefassten Menschen noch einmal, umgreift ihn zweifach und zivilisiert ihn. Die physikalische Einfassung durch die Stadt zwingt den Menschen, sich geistig zu fassen: inne zu halten, zu reflektieren und von den rasch wechselnden Eindrücken nicht jedem Reiz zu folgen. Er verbessert dabei seine selektive Wahrnehmung und sein Abstraktionsvermögen. Die Erfahrungen in der Stadt helfen dem Menschen, die Sinne an die begrenzenden Handlungsabläufe zu gewöhnen und eine Physis auszubilden, die ein Leben unter vielen Menschen möglich macht. Jäger, die Nahrung finden, indem sie Tieren nachstellen, sie fangen und töten, müssen stark, gewandt und zielstrebig sein. Ein Baumeister muss mit Zahlenverhältnissen, harten Materialien und abstrakten Formen umgehen und an langfristigen Plänen arbeiten können, mit todesängstlichen, beißenden Lebewesen kann er als Homo civilis nicht mehr umgehen.
Die Stadt ist ein Ort hoher Produktivität, kultureller Konzentration und höchster strategischer Macht. Sie bildet innerhalb der Mauern eine Ordnung aus, die den Städtern auf begrenztem Terrain alles zum Leben bietet. Städte bringen Werkzeuge, Techniken, Luxusgüter und wissenschaftliche Kenntnisse hervor. Lebensmittel erhalten sie von Ackerbauern und Nomaden. Ihr Reichtum stattet sie mit großer Macht gegenüber Sammlern und Jägern sowie Ackerbauern und Nomaden aus. Erlangten schon Hausbewohner gegenüber Jägern und Nomaden ökonomische und strategische Vorteile, so erweisen sich ihnen gegenüber Stadtbewohner in einem weit höheren Maß langfristig als ökonomisch, kriegerisch und lebenssichernd überlegen. Wegen ihrer Reichtümer und wegen der Gefahr, die von ihnen ausgehen, sind Städte durch Mauern geschützt und stellen zugleich für die weitere Urbanisierung wichtige Stützpunkte dar.
Die Römer haben zwei Raumordnungen geschaffen, die für die Weltherrschaft Europas eine wichtige Rolle spielen. Das mehrstöckige Mietshaus und das schachbrettartige Raster der Straßenführung. Das Raster, dem Griechen Hippodamos zugeschrieben, überdeckt die Stadt Rom und das gesamte Reich und hat zu ihrer erfolgreichen Ausdehnung beigetragen. Die Gleichheit von Stadt und Reich kommt im Apostolischen Segen Urbi et Orbi zum Ausdruck. Das Römische Reich ist das erste Beispiel der künstlichen Umfassung eines Großreiches.
Mit seinem Untergang wird die Entwicklung der in der Antike entworfenen Kulturräume nicht fortgeführt und Europa muss ihre Genese noch einmal durchlaufen. Es vollzieht diesen Prozess aber in wenigen Jahrhunderten, da es sich auch auf das Wissen und Können der Antike stützen kann.
Gegenüber antiken Städten weist die europäische Stadt Besonderheiten auf. In ihr herrschen sich selbst verwaltende Bürger, nicht, wie meist in der Antike, Priesterschaft oder König. Das zwölfte Jahrhundert ist in Europa die Zeit der Stadtgründungen und bereits ein Jahrhundert später binden sich Handwerk und Handel eng an die Wissenschaften. Diese Einheit von Praxis und Theorie zieht Lehrbetriebe, Akademien und allgemeinbildende Schulen nach sich, in denen das Wissen an nachfolgende Generationen weitergegeben wird. Schulen und andere Lehrinstitutionen übertragen das Wissen auf viele und verdichten Erfahrungen, Fertigkeiten und Erkenntnisse. In der Neuzeit übernehmen europäische Städte das römische Straßenraster, da die kreisförmige Anlage der mittelalterlichen Stadt eine Ausdehnung über die Mauern hinaus behindert. Dagegen statten die europäischen Kolonialherren die Überseestädte von vornherein mit dem Raster aus und breiten einen Stadttyp über die Erde aus, der Europäern ursprünglich fremd ist.
Europäische Städte verfügen gegenüber der Antike über zwei besondere Elemente: Den Stuhl und eine Theorie der asketischen Lebensführung, das Christentum. Diese Lehre, die ganz auf die Verinnerlichung des Lebens gerichtet ist, lenkt den Menschen in dieselbe Richtung wie Haus, Stadt, Schule und Stuhl. Im Rahmen der asketischen Lehre werden die Entwicklungen der künstlichen Territorien beschleunigt und im neunzehnten Jahrhundert zu einer Einheit zusammengeführt, zu einem einzigen territorialen Raum, der sich im Stuhlraum schneidet.
Europäische Städte der Neuzeit haben bereits eine hohe Informationsdichte und beschleunigen die Wissensvermehrung. Sie festigen Fertigkeiten der Systematik und Planung, der Abstraktion und Geometrisierung. Die mönchische Dialektik von Arbeit, Askese und Erfolg, in der erworbener Reichtum nicht konsumiert, sondern investiert wird, stabilisiert das Prinzip. Erst in Europa wird eine Neigung der Stadt sichtbar, die sich immer mehr realisiert: die Verallgemeinerung städtischer Lebensformen. Einerseits ihre Dehnung nach außen über die Erde, andererseits ihre Verengung nach innen in das winzige Territorium des Stuhls.
Damit sich die Stadt in dieser Form entwickeln kann, muss der Mensch den methodischen Erwerb von Wissen und das systematische Einüben in die Kultur ausbilden. Die Institution, die das leistet, ist die Schule. Ein institutioneller Raum, eine Stätte rationaler Bildung und Orientierung. Sie ist eine Erfindung des antiken Griechenland, das die Beruhigung durch Haus und Stadt fortsetzt und den Schüler, den Discipulus, diszipliniert. Das grundlegend Neue, das die Schule in die Welt trägt, ist die methodische Ausbildung des Geistes, der Erwerb des Umgangs mit abstrakten Zeichen. Damit Schüler die Unbewegtheit in der hohen Konzentration auf das Lesen, Schreiben und Musizieren aufbringen, zugleich aber die Verfestigung, die der Körper dabei erfährt, wieder auflösen können, haben die Griechen neben den theoretischen Unterricht den Sport gestellt.
In beständigen Übungen versucht die Schule, Körper und Geist zu einer Einheit zu formen. Die rhythmische Bearbeitung des Bodens durch die Füße macht den Sport zu einer Disziplin, die im Menschen ein geistiges Territorium errichtet. Die Bewegungen sind methodische, disziplinierte Bewegungen, die zu einer Beherrschung des Körpers beitragen und einen theoretischen Unterricht ermöglichen, in dem der Körper passiv, bewegungslos verharrt. Die Schüler richten sich in der Schule – ermöglicht durch den Sport – nach innen und lernen, sich auf rationale Vorgänge zu konzentrieren, auf die Verfolgung von Gedanken, ohne sich ablenken zu lassen. Bis sie in einem abstrakten Stoff logische Operationen durchführen können und nicht der Anwesenheit von Gegenständen bedürfen. Wie der Mensch mit dem Eintritt ins Haus die Natur verlässt, so tritt der Schüler aus dem Raum der Stadt hinaus und in sich ein. Der rationale Raum ist ein strategisches Feld in der Natur des Menschen, das ihn zum Homo disciplinatus macht.
Die Antike hat die vier Räume Haus, Stadt, Schule und Stuhl ausgebildet, sie aber nicht alle zur Strategie einer allgemeinen Bildung und der Beruhigung vereinheitlicht. Zwar kennen Römer und Griechen Stühle, aber in ihren Schulen werden sie nicht benutzt. Die Schüler kauern und hocken auf dem Boden, stehen oder sind in Bewegung. Zur Vertiefung der Disziplin werden Stühle erst in der europäischen Neuzeit entwickelt.
Sedierung und Stuhl
Die Erfindung des Sitzens auf Stühlen in der Neuzeit ist eine Eigenart Europas und in der Geschichte des Abendlandes der Höhepunkt der inneren Beruhigung des Menschen. Das Stuhlsitzen ist die konsequente Weiterführung der Beruhigung durch Haus, Stadt und Schule und führt den Sitzenden in die Sedierung.
Der Stuhl ist der kleinstmögliche strategische Ort, den der Mensch leiblich einnehmen kann. Ein Ort höchster Immobilität. Ein Gestell und Werkzeug des Bürgertums, das ihn vom Repräsentationsobjekt zu einem Möbel für jedermann gemacht hat. Der Stuhl fixiert den Menschen an einen Ort, bannt seine Beweglichkeit und stattet den Sitzenden mit den physiologischen und geistigen Besonderheiten aus, die für das Leben in einer bürgerlichen Gesellschaft erforderlich sind: das Leben rational wie ein Kontor führen, eine längere Unternehmung planen, Bilanzen kontrollieren, das Erwirtschaftete zurückhalten und in einer handwerklichen oder wissenschaftlichen Tätigkeit konzentriert und geordnet vorgehen können.
Der Stuhl schneidet scharf und tief in den Körper des Sitzenden. Von zwei Seiten: von der Atmung und von der Muskulatur her. Der Atem wird im Sitzen reduziert und geformt und unterstützt dadurch einen Atemmechanismus, nach dem über den Atem Gefühle kontrolliert werden können zum Zweck besserer Konzentration auf das Denken. So stattet das Sitzen mit Hilfe der Atmung den Geist mit Riesenkräften aus. Die rechtwinklige Haltung im Sitzen verursacht eine Verspannung des Beckenbodens, der die Skelettmuskulatur verfestigt, die die Atemtätigkeit herabsetzt. Da eine reduzierte Atmung die Muskulatur verspannt und eine verspannte Muskulatur die Atemtätigkeit einschränkt, geraten Atem und Muskulatur in einen Kreislauf von Muskelverfestigungen und Atemreduktionen, bis der Zustand auf einem geringen Energieniveau und in einer geringen Beweglichkeit des Körpers zur Ruhe kommt, dem Zustand der Sedierung, der sich wie ein Schatten auf den gesamten Organismus legt. In der Ruhigstellung des Körpers und seiner herabgefahrenen Energie bilden sich Kräfte des Kontrollierens, Ordnens, Zurückhaltens und Planens. Das lateinische Wort sedere bedeutet Stillsitzen und besänftigen und ist das Grundwort für alles Beruhigte und körperlich Herabgesetzte: Siedlung, Sediment, Sessel, Sedativum, Sitzen.
Schon früh haben Sesshafte die beruhigenden, ordnenden und geistbildenden Kräften des Stuhlsitzens erkannt und angewendet. Und früh haben sie eine Ahnung von der Zukunft der Menschheit gehabt: die Vollendung der Sesshaftigkeit im Sitzen aller auf Stühlen. Der auf dem Thron sitzende König ist ein Bild, das sich Tausende von Jahren später realisiert hat. Am thronenden König wird die Wirkung des Sitzens demonstriert: die Begrenzung der Physis und die aus ihr folgende Spiritualität. Der Thronende gilt allein durch sein Thronen als Mittler zwischen einer Gemeinschaft, deren Zentrum er ist, und den kosmischen Mächten, zwischen dem Profanen und dem Heiligen.
Im Abendland werden erst die Bischöfe, dann die Priester gesetzt. Danach setzen sich die Mönche, denen der heilige Benedikt für die Lesungen im Chor das Sitzen verordnet und der die Erfindung einer Mechanik angeregt hat, die im Chorgestühl mündet, in dem die Mönche an begrenztem Ort Sitzen, Stehen, Knien und Stehsitzen können. Dieser zentrale Aufenthalt der Mönche unterwirft Körper und Geist einer Askese aus dem Rhythmus wechselnder Körperhaltungen und konzentrierten Singens und Lesens, in der die Atemkontrolle den Mechanismus zur Spiritualisierung bildet. Die christlichen Mönche haben mit Gebet und Arbeit die europäische Wirtschaftsform lange vor ihrer Einführung praktiziert und initiiert. Im Chorstuhl liegt die Grundlage für dieses erfolgreiche Modell der Arbeit. Er beruhigt, ordnet und sediert den Körper des Mönchs und befähigt ihn zu einem vergeistigten und vom Körper abstrahierten Leben. Das Bürgertum entwickelt aus dem Chorstuhl den bürgerlichen Stuhl, den Profanstuhl, der innerhalb des geweihten Bezirks der Kirche als ungeweihtes Objekt entsteht. In der Reformation drängt er aus der Kirche heraus und als Repräsentationsstuhl in die wohlhabenden Bürgerhäuser ein, als Bank in die Kirchen der protestantischen Gemeinden und als Arbeitsstuhl in die Kontore.
Das Bürgertum übernimmt im Sitzen auf Stühlen die Throngeste weltlicher und klerikaler Herrscher und demokratisiert das Herrscherprinzip des Thronens zum Stuhlsitzen in einem vierhundert Jahre währenden Kampf. Mit seiner Etablierung ist die Sesshaftwerdung des Menschen vollendet, der Mensch endlich sesshaft geworden. Das Sitzprivileg wird in der Französischen Revolution aufgehoben und bereits ein halbes Jahrhundert später wird der erste in Massen herstellbare Stuhl, der Wiener Caféhaus-Stuhl, als Zeichen eines neuen Menschentypus, des Homo sedens über weite Teile der Erde verbreitet. In einem zweiten Feldzug wird das Stuhlsitzen endgültig über die Welt ausgebreitet. Ein Gartenstuhl aus Plastik, der soviel kostet wie zwei Laib Brot, ist in den Wüsten ebenso zu Hause wie in entlegenen Hochgebirgen, in Eis- und Schneegebieten ebenso wie im Urwald. Noch vor Ablauf des zwanzigsten Jahrhunderts ist die gesamte Menschheit endgültig sesshaft geworden und sediert.
Mit der schrittweisen Verkleinerung des Territoriums sind die Distanz zur Natur und die raumgreifende Beherrschung der Erde gewachsen. Der Stuhl gestaltet das abendländische Denken, Empfinden und Verhalten und lässt an die Spitze der Sinneshierarchie den visuellen Sinn treten, den verhaltenen Atem und die Kontrolle der Emotionen. In der emotionalen Enge erleidet und reflektiert der Mensch sein gebrochenes Verhältnis zur Natur. Er bewältigt es und belohnt sich mit geistigen Produkten. Wie der Sport bei den Griechen so steht der Stuhl in Europa für die Beherrschung des Körpers und die Fähigkeit zum Erwerb abstrakter Fertigkeiten. Beide sind das Nadelöhr für die rationale Existenz und den Eintritt in das Zeitalter der Information.
Mit der Etablierung des Sitzens wird der Mensch endgültig sesshaft. Vom Stuhl aus vernetzt er sich über unterschiedliche Anschlüsse. Die Anschlussart bestimmt den Aufenthaltsort, der natürlich immer ein individueller Ort bleibt, ein Denkbezirk, der in seiner inneren Ordnung Klöstern, Strafanstalten oder Laboratorien gleicht oder einer dieser Bezirke ist. Denkbezirke sind Räume der Meditation, Orte der Stille und der Kontemplation. Hier wird das Netz des göttlichen Kosmos gesucht, der das Leben ordnet und orientiert. Denkbezirke sind auch Räume der Resignation, sind Orte, die den Schmerz mildern sollen, der die Bindung an die materielle Existenz bereitet. Hier erfolgt der Anschluss an das Netz des individuellen Kosmos. Als Arbeitsräume sind sie Orte der Rationalität, ausgestattet mit einem digitalen Kosmos aus Computern, Telefonen und Fernsehapparaten, aus Kopierern, Internetzugängen, Handys und Faxgeräten. Mit der kosmischen Vollendung der Sesshaftigkeit geht die natürliche Entwicklung der Menschheit ihrem Ende entgegen: Die natürliche Evolution wird unterbrochen und weicht einer Auslese durch den Menschen.
Die vier Kulturräume treffen sich im Raum des Stuhls und etablieren mit seiner Beherrschung einen strategischen Ort der Rationalität, der Konzentration und der Beruhigung. In ihm digitalisiert der Mensch sein Wissen, durch das er sich in virtuelle und simulierte Räume hineinarbeitet: in molekulare Bezirke, in neuronale und genetische Bereiche, in die Galaxis oder in symbolische Orte, an denen er mit der Kraft der Vorstellung und des Wollens seine Kultivierung fortsetzt. Diese unwirklichen oder simulierten Räume, die vor allem in ihren Wirkungen existieren, sind das rationale Konstrukt, das der Mensch in Jahrtausenden aus seiner Natur herausdestilliert und in Kultur und Beruhigung überführt hat. In ihnen ist die physikalische Reduktion des Kulturraumes abgeschlossen.
Erst vor dem Hintergrund der langen Geschichte von Haus, Stadt, Schule und Stuhl lässt sich die Tragweite der Form des gegenwärtigen Raumes und ihre Perspektive verstehen. Das Netz ist symbolischer und simulierter Raum ohne räumliche Merkmale. Der Umgang mit simulierten Räumen macht es erforderlich, dass der Mensch einen Modus findet, in dem er selbst unkörperlich sein kann, denn wie das elektronische Netz oder die molekularen und neuronalen Bezirke können sie ihn nur körperlos aufnehmen. Sie müssen ihn maßgeblich zum Träger von Daten und Information machen, damit er sich in ihnen aufhalten kann, und da sie strategische, und damit mächtige Fundamente kultureller Begegnungen sind, muss sich der Mensch ihrer Struktur, ihrer Unwirklichkeit anpassen. Das Netz oder der Informationsraum hat alle Grenzen gesprengt: Das Netz hat Wissen und Rationalität explosionsartig expandiert und die Beruhigung aufgebraucht. Über vielfältige Zugänge angeschlossen, hält sich der Mensch im Netz auf, obwohl er dort nicht sein kann. Er ist überall und nirgends: Das ist die Gottesposition. Im Netz ist der strategische Ort kein Raum mehr, aber er ist überall. Deshalb kann der Mensch in ihm leiblich nicht präsent sein. Umgekehrt hat das Netz von ihm Besitz ergriffen: es zieht ihn magisch an, füllt ihn mit Daten auf und lässt durch ihn hindurch Ströme der Information fließen. Der Mensch ist zu einem Knotenpunkt des Netzes geworden.
Die Etablierung der drahtlosen Kommunikation ist der Abschluss einer langen Entwicklung. Zuerst hat der Mensch seinen Planeten zu ebener Erde erschlossen, hat die Erde vom Haus und von der Stadt aus besiedelt und die Natur in ein hochtechnisches Kunstgebilde umgearbeitet. Über Regionen, Nationen und Kontinente hinweg hat er sie urban zusammengefasst und mit Wegen und Dörfern, Straßen und Städten, mit Fabrikanlagen und Stadtagglomerationen ökonomisch, politisch und militärisch vernetzt. Das einst weite, aber begrenzte Territorium ist nun die gesamte Erde. Allerdings durchläuft der Mensch die Räume kaum noch auf eigenen Füßen, sondern benutzt Bahn und Automobil. Nachdem er gelernt hat, in Flugzeugen und Raketen weite Distanzen zu überbrücken, hat er die horizontale Aneignung mit der vertikalen vereint und den Luftraum erobert und aufgeteilt. Mit den Medien der draht- und materielosen Fernkommunikation erschließt er den elektromagnetischen Raum, wird auf der Erde allgegenwärtig und dringt weit in den planetarischen Raum vor. Netzwerke werden bald jeden Punkt der Erde und jeden Menschen und sein Handeln teletechnisch in ein einziges raumzeitliches Geschehen einbinden. Die medialen Apparate ersetzen die Unmittelbarkeit der Kommunikation und machen den Menschen zum Homo s@piens[1].
Über Telenetze hat der Mensch Zugriff auf die gesamte Erde. Die neue Produktivkraft heißt deshalb Information. Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzkonsortien sind über Netze eng miteinander verbunden und treiben die Globalisierung von Wirtschaft, Technik und Kultur in einem nie dagewesenen Tempo voran. Die Unternehmen in den telematischen Territorien lösen die traditionellen Weltstädte als Entscheidungsträger ab und nehmen der nationalen Politik und ihren Vertretern den bisherigen Einfluss, da die neuen Arbeitsräume an elektronische Orte im Netz gebunden sind, nicht mehr an geographische Räume. Im Umgang mit den Medien der Information kommt der Gedanke auf, der Mensch könnte sich verlieren und mit seiner Umwelt nicht mehr kompatibel sein, wenn er Handeln, Fühlen und Denken nicht mehr an Sinneserfahrungen ausrichten kann.
Die Pole der Telekommunikation sind Galaxis und Stuhl. Mit dem kleinsten Raum, in den der Mensch mit seinem Körper eintreten kann, ist die räumliche Erschließung zu Ende. Jeder weitere Versuch einer Nutzbarmachung des äußeren Lebensraumes schlägt nach innen um in die Arbeit an der Biologie des Menschen: im Eingriff in die Ordnung der Gene und in der Entwicklung künstlicher Intelligenz. Aber auch die Idee von der Nutzbarmachung der größten raumartigen Ausdehnung, der Galaxis, gleicht eher dem Betreten eines inneren Raums: dem Mythos.
Der Eingriff in die biologische Ordnung des Menschen ist der Angriff auf die letzte Domäne der Natur. Mit Hilfe der Nanotechnik dringen Forscher in molekulare Räume vor und arbeiten die durch die Evolution hervorgebrachte biologische Ordnung in eine vom Menschen hervorgebrachte um. Indem sie aus digitalen Chips und menschlichen Nerven neue Elemente entstehen lassen, können sie funktionsuntüchtige Organe wie Augen oder Ohren, das Herz oder Areale des Gehirns umgehen, komplexe Bewegungen von Extremitäten simulieren oder Symptomen der Parkinsonerkrankung oder der Querschnittslähmung entgegenwirken. Ebenso nutzen sie ihr Wissen, um funktionierende Sinne und das Gehirn zu optimieren und mit Hilfe der Neurobionik zu ersetzen, oder um in die Genstruktur einzugreifen. Ziel des Menschen im Zeitalter der Information und der Embryonenforschung, der Gentherapie und der Humangenom-Technik ist es, der Welt ein vom Menschen geschaffenes, neues Geschöpf hinzuzufügen. Einen Humanoiden, ein technobiologisches Geschöpf, das lebt und durch eine bessere Ausstattung für das Leben, wie behauptet wird, den herkömmlichen Menschen, den Homo sapiens, überwindet und ein Wesen mit einem neurobionischen Supergehirn und einem leistungsfähigen Körper erschafft, ein Wesen, das dennoch der Gefühle und der Angst vor dem Tod fähig ist. Hier kommt die Ambivalenz der Neigung des Menschen zur Technik und zur Künstlichkeit ins Spiel: Er will die Zeichen des Menschseins auch im Kunstprodukt bewahren: Angst, Gefühl und Tod. Der Mensch sucht nach einer Maschine, einem künstlichen Wesen, das fühlt und stirbt, obwohl er zugleich nach der Unsterblichkeit greift.
Die neue Gestalt des Menschen wird kein mechanisches, wie man noch vor Jahren glaubte, sondern ein durch gengesteuerte Reparaturen oder ein durch Genmanipulation erzeugtes künstliches Wesen aus Fleisch und Blut sein, unterstützt durch hochtechnisierte Nanoapparate. Ob die Konzepte realisierbar sind und sie den Menschen in seinem Wesen grundlegend umzugestalten vermögen, mag fraglich erscheinen. Bedeutend genug sind die Ideen und die erträumten Perspektiven hinter den Forscheraktivitäten. Denn offenbar ist, dass der Mensch an der Realisierung alter Mythen arbeitet. Bei seinem Bemühen, Schöpfer zu sein und die erste Schöpfung zu überschreiten, folgt sein Tun zwei Ideen: Er möchte das Paradies auf Erden einrichten und die Probleme des Alltags beseitigen sowie die im biblischen Mythos angedeutete Möglichkeit realisieren, Mensch und Menschheit unsterblich zu machen, als hätte der Mensch auch vom Baum des Lebens gekostet. Tatsächlich könnten das Kopieren oder Klonen des Menschen und das Eingreifen in seine Erbsubstanz zu einer neuen Spezies neben dem Menschen führen, nämlich dann, wenn der herkömmliche Mensch mit einem Menschen mit veränderter DNS nicht fortpflanzungsfähig wäre. Mit der Realisierung eines neuen Wesens wäre die höchste Form der Emanzipation erreicht: das Entlassen des Menschen aus der Hand (emanere) der Natur. Von dem, was der Mensch ist, gäbe es dann zwei Definitionen: vom Menschen als Natur- und Kulturwesen, entstanden durch die Evolution, und vom Menschen als Kunstwesen, erzeugt durch den Menschen.
Im Willen, die Galaxis zu erobern, bringt der Mensch unmissverständlich zum Ausdruck, dass sein Wesen in der Polarität von Natur und Kultur liegt und er sich zu seiner kulturellen Seite, der Beruhigung, mehr hingezogen fühlt. Er will abheben von dem Grund, der ihn hervorgebracht und auf dem er sich aus dem Tierreich herausgehoben hat, auf dem er lebt und mit seinen Füßen steht. Das Abheben ist eine Erschütterung und ein Angriff auf die Basis des Menschen, seinen Fuß, und auf die integrierende Arbeit des alle Sinneseindrücke verbindenden Gleichgewichtssinns. Dabei ist die Galaxis das Unwahrscheinliche, in das er hinausgreifen kann. Unwahrscheinlich, weil sie dem Menschen entweder als Grenze unzugänglich bleibt oder für ein menschliches Leben ungeeignet ist. So unglaubhaft ihre Eroberung und Besetzung ist, der Mensch strebt danach. Flugstädte – eine Art galaktischer Arche Noah und eine komprimierte Ansammlung beruhigender Ausrüstungen – sollen in die Unermesslichkeit des Alls vordringen. Eine Rückkehrchance gibt es nicht. Neben dem Mythos sind sie auch eine Antwort des Selbsterhaltungstriebes und der Erhaltung der Art darauf, dass die Existenz der Menschheit von einem Planeten mit zeitlich begrenzter Bewohnbarkeit abhängt.
Raumlose Sesshaftigkeit
Unermüdlich faltet der Mensch seine Anlagen aus, baut, entwickelt und zerstört, baut erneut und überführt Natur in Kunstwelten. Er hat eine hochkomplizierte, faszinierende und intelligente Technikwelt erschaffen, die Zerstörung der Grundlebensmittel Luft, Wasser und Nahrung aber nicht verhindern und die Grundprobleme Hunger, Krieg und Krankheit bisher nicht beseitigen können. Er ist angetreten, den Herzschlag des Lebens herabzusetzen und Naturprozesse zu beruhigen, um sie steuern und beherrschen zu können, doch die immense Ausweitung und Verselbständigung der Hightechwelt, die er um den Erdball gespannt hat, haben ihm die gewonnene Kontrolle wieder entzogen, so dass er dem launenhaften All lediglich eine unkalkulierbare Kunstwelt hinzugefügt hat, die eine Belastung für Menschen, Tiere und das Klima der Erde geworden sind. Die Fülle, die Vielseitigkeit und der Reiz der materiellen Güter drohen das Leben zu ersticken, denn der Mensch fühlt sich nur dort geborgen, wo er den Objekten gewachsen ist und sich seiner Umwelt anpassen kann. Da die geglückte Anpassung der Sinne an die Objektweltwelt zur Beruhigung führt und jede Hochtechnik und jede Begrenzung der Sinne einen Rest misslungener Anpassung enthält, hat sich die Strategie der Beruhigung nicht als erfolgreich erwiesen, denn parallel zum Prozess der Beruhigung hat sich ein Prozess der Beunruhigung etabliert, der Ressentiment und Formen der Unruhe wie Nervosität und Zynismus, Stress und Gleichgültigkeit hervorgebracht hat, die sich in zwanghafter Anpassung, Gewalttätigkeit oder rückkoppelnd im Weitertreiben der Technik äußern. Je weiter sich der Mensch von der Orientierung an seinen Sinneserfahrungen und dem Umgang mit der Natur entfernt, desto stärker nimmt er seine Erfolge der Distanzierung freudlos und pessimistisch wahr, wenn er Krankheit und Schmerz dulden muss, wenn er Kinder beobachtet oder Menschen weniger technizierter Kulturen. Dann fragt er nach dem Lebenssinn, der ihm abhanden gekommen ist und der ihm in der Tätigkeit der Sinne und in der Verbundenheit mit der Natur liegt, die ihm selber mangelt.
Der Plan, den der Mensch mit Beginn der Sesshaftwerdung verfolgt, hat sich nahezu erfüllt. Ihm stehen in den neuen Werkzeugen der Telekommunikation ein unermessliches Wissen, ein unerschöpfliches technischen Know How, eine Flut an Kontakten, Verknotungen und Verbindungen zur Verfügung, die ihn an die Schwelle heranführt, Natur und Mensch noch einmal – neu – zu schöpfen. Für den Umgang mit den gewaltigen Informations- und Datenmengen ist der Mensch nicht ausgestattet, da das Wissen der modernen Welt weder ein Produkt der Aktivität seiner Sinne noch seiner moralischen Kompetenz ist, so dass ihm zur Bewertung der Projekte der Kunst, der Wissenschaft, der Technik oder der Politik die Urteilsfähigkeit fehlt, ein Korrektiv gegen hochfahrende Ideen, ungebändigte Phantasien oder gegenstandsloses Wissen. So müsste sich der Mensch aus seiner Vernetzung, die ihn noch zu sehr fasziniert, wieder ein Stück lösen und jetzt, wo der Alien, der neue Mensch vor der Tür steht, sich besinnen, den Geist wieder mit den Sinnen verbinden. Da die Beruhigung darauf hinarbeitet, den Menschen bis zur Sedierung von seinem Kompass, den Sinnen, zu entfremden, um ihm jenes Ausmaß an Wissen und Rationalität zu ermöglichen, muss er sich eingestehen, dass er ohne den Körper, ohne das Spüren, das Sinnliche, keine Entscheidung für das Leben treffen kann, denn Lebendiges ist an die lebhafte Tätigkeit der Sinne gebunden. Es bedarf jetzt einer Beruhigungsart, die das Sinnliche entwickelt, durch das der Mensch entscheiden lernt. Das Netz beinhaltet auch ein subversives, gegen den Strom der Zeit gerichtetes Wissen. Allein die Sinne bieten in einem Austausch mit seelischen und geistigen Vermögen dem Menschen eine verlässliche Orientierung.
Zwar hat sich der Mensch bei der Ausführung seines Plans der schrittweisen Überführung der Natur in die künstlichen Räume Haus, Stadt, Schule, Stuhl und Netz vom Kosmos und dem Heiligen distanziert, sich ihnen aber im gegenwärtigen Unraum, dem digitalen Kosmos, wieder angenähert. Die Dimensionen des Kosmos sind keine Maße des Menschen, sondern bilden seine Grenze, weil sie die Sinne und die Vorstellungskraft übersteigen. Der digitale Kosmos bildet eine Projektionsfläche, an der die alten Erzählungen zu neuen Mythen umgearbeitet werden, an der Menschen ihre Träume und Phantasien vom Ursprung der Welt, von Lebenskampf und Tod, von Liebe, Wiedergeburt und Zukunft abarbeiten können. So kehrt der heutige Mensch in seiner beginnenden Vernetztheit mit den unräumlichen Medien zurück in den Zustand einer raumlosen Existenz und vor die Schwelle, vor der Sammler und Jäger einst – von der anderen Seite her – standen, um aus der Vielfalt der Daseinsmöglichkeiten die auszuwählen, die im Rahmen der globalen und umfassenden Netzwerke die Aktivität der Sinne und eine beruhigte Unruhe fördern, damit der Mensch im Datendschungel die verlorengegangene Orientierung zurückgewinnt. Der Mensch ist durch das Netz nirgends und überall zugleich und steht am Ende, hindurchgegangen durch eine lange Kette von Umbildungen und Leiden, von Distanzierungen und Metamorphosen, wieder am Anfang. Ein langer Weg vom Kosmos, der auch Netz ist, zum Netz, das auch Kosmos ist, der sichtbar macht, dass auch der gegenwärtige strategische Ort den Status des Heiligen hat, indem er zurück ins Mythische des anfänglichen Alls und zugleich nach vorne ins Unendliche und auf die Stufe einer neuen Existenz des unabschließbaren Menschen weist.
[1] Der Begriff s@piens ist Teil des Buchtitels von Ray Kurzweil: Homo s@piens, Köln 1999.
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