aus: Doris Paschiller (Hrsg.), Max Stock, Acker und Horizont. Zeichnung Malerei Karikatur, 1976 - 2010
Eröffnungsrede zur Ausstellung "Aus der Linie geboren", 8. Mai 2008, Galerie A, Berlin
Linie ist Vielerlei. Und aus der Linie geht Vielerlei hervor. Wie meine Anwesenheit hier und jetzt, die aus 2 Linien geboren wurde: aus der Linie U15 (Uhlandstraße–Warschauerstraße) und der Linie U2 (Ruhleben–Pankow). Und wie immer Sie diesen Ort erreicht haben – Sie haben sich auf Linien bewegt. Auf Autobahnen, Geleisen und Straßen, auf Fußwegen, Flugwegen und Stadtpfaden.
Was liegt näher als die Linie?
Linie. Schnur und Faden. Linum. Lateinisch. Flachs. Lein. Die Kurzformel bedeutet, dass Linie vom lateinischen Wort Linum stammt und Flachs heißt. Flachs oder Lein. Und dass aus dieser Pflanze Schnur und Faden hergestellt werden, wie sie aus der Leinwand bekannt sind. Bekannt seit der Antike, aber erst seit dem 15. Jahrhundert das zentrale Medium der Kunstproduktion. Leinwand ist ein Gewebe, ein Netz aus horizontalen und vertikalen Linien, auf das Künstler ihre Linien übertragen.
Geboren. Aus dere Linie. Berg. Verborgen. Erhoben und Erheben. Geboren leitet sich von einem Wortstamm her, der sich auf Berg bezieht. Etwa auf die Berg- und Bauchlinie einer Schwangeren. Wenn Sie sich die Schwangere liegend denken, ist die Bauchlinie eine Erhebung, ein Hügel, ein Berg, das, was ein zu Gebärendes birgt und verbirgt, das dann geboren wird. Geboren aus der Linie.
Auch der Mensch selbst zeigt sich als Linie. Schon vor dem Geborenwerden. Er entfaltet sich aus der gekrümmten Linie des Embryos, wird aus der Linie geboren und dann zur geraden Linie des liegenden Kindes. Erst krabbelnd, dann sich erhebend, steht es und schreitet als vertikale Linie auf Linien, entlang von Linien durch das Leben. Bis der Mensch aus dem Leben scheidet – als Linie. Liegend, gerade. Erkennen lässt sich bereits, dass die Linie keine geometrische Konfiguration ist, sondern ein Bedeutung tragendes und Sinn gebendes Element.
Nicht nur der Leib von außen ist Linie, sondern viel mehr noch ist die innere Leibstruktur aus Linien aufgebaut. Wie die Knochen, die aus Linienstrukturen bestehen, die sich während des Wachstums durch Kräfte bilden, die auf sie einwirken. Wie die Muskeln und Sehnen, die entlang von Linien wirken. Ebenso sind die Bahnen für die unterschiedlichen Flüssigkeiten wie Sekrete und Blut Linien. Auch die Organe sind, als Gewebe komplexe Strukturen aus Linien. All diese unterschiedlichen Linientypen stehen wiederum in einem engen Kontakt zueinander und werden zu einer Einheit komponiert.
Diese Einheit stiftet Bewusstheit und Geist. Denn der Leib besteht nicht für sich, sondern kommuniziert mit dem Gehirn, das eine immense Vernetzung von Nervenbahnen ist. Diese Nervenlinien kommunizieren mit dem Leib entlang von Linien mit den Linien der Organe, der Haut, der Fußsohlen und der Sinne und bringen hervor, was als Bewusstheit und Seele bezeichnet wird, mit dem, was sich als Geist fassen lässt.
Selbst also das, was den Leib antreibt, motiviert und bewegt, wird entlang von Linien gesendet, weshalb wir von Gedankengängen, Seelenstrahlen und Geistesblitzen sprechen. Das Tier bahnt sich instinktiv seinen Weg zur Nahrung oder flieht. Der Mensch dagegen hat durch seinen Geist Alternativen und muss eine Wahl treffen, indem er zwischen möglichen Linien entscheidet. Das wird sichtbar bereits an der Gestalt des Menschen – an seiner aufrechten Haltung und den beiden unteren Extremitäten, den Beinen, indem jeder Schritt eine Entscheidung fordert. In der Gabelung des Schrittes muss sich der Mensch für eine Richtung entscheiden – geradeaus, rechts, links oder umkehren. Das ist die Bifurkation der menschlichen Existenz. Was ist es, was der Geist in der Entscheidung leistet? Der Geist schafft Ordnung im Dickicht der Linien. Ob es sich um Linien des Weges, des Leibes oder um Linien des Denkens und Fühlens (so wie man einem Gefühl nachgeht) handelt, immer ist der Geist bemüht, Ordnung ins Dickicht der Linien zu bringen.
Zusammenfassend erweist sich das Leben des Menschen als ein Linienleben – wir sprechen von Lebensläufen, Lebenslinien und beruflichen Laufbahnen, von Holzwegen, Linienwegen und Gedankengängen.
Künstler arbeiten in einer besonderen Weise. Sie haben ihren Stil, ihre spezifischen Materialien und sie haben eine Methode. Auch Methoden sind Linien. Das griechische Meta (nach) hodos (Weg) bedeutet Nachweg und Nachgehen. Eine Methode setzt also mindestens einen Weg voraus, damit es etwas gibt, dem nachgegangen werden kann. Auch Kunstwerke sind das Resultat eines Nachgehens von Erfahrung, Wissen und Wahrnehmung – einer Methode. Da Kunst also das Bemühen um ein geordnetes Arbeiten, ein Nacharbeiten von Begangenem ist, schaffen Linien in der Kunst Ordnung. Künstler müssen deshalb erst etwas wahrgenommen haben, bevor sie es nachbildend wiedergeben, indem sie begangene Wege als Linien nachzeichnen.
Max Stock ist der Kenner und Liebhaber der Linie. Immer unterwegs zu ihr, immer an sie denkend. Unterwegs auf dem Linienweg zur Linie. Sein beständiges, gnadenloses Unterwegssein verdichtet sein Linienleben zu einer Linienexistenz. Was liegt für einen Künstler wie Max Stock näher als die Linie? Sich also mit dem zu befassen, was er tagtäglich, Woche für Woche, Jahraus, Jahrein mit seinem Leib erzeugt – Linien, auf denen er sein Leben zubringt? Mit seinem Linienleib. Was liegt näher, als die Linie zu seiner Leidenschaft zu machen und seine Linienexistenz in der Linie darzustellen?
Von der künstlerischen Umarbeitung seiner Geh-Freudigkeit hat er uns in der Galerie A einige Kostproben zur Verfügung und Ansicht gestellt. Entnommen einem Skizzenbuch. Konsequent dargestellt auf einer Wandlinie. Also Ordnung – keine Petersburger Hängung, kein Durcheinander, kein Chaos.
Die begangenen und gedanklichen Wege des Menschen werden begleitet von Linien, die Blicke erzeugen, indem sie Objekte linear abtasten – bei Max Stock sind es vor allem Gesichter – und ihre markanten, wesentlichen Linien heraussuchen und für später speichern, um sie dann nachzubilden auf Gemälden und in Zeichnungen. Auch wenn es heißt, der Mensch fasst ein Bild als ein Ganzes auf, Abendländer lesen Bilder von links oben nach rechts unten, erfassen es also linear, bevor es ihnen als ein Ganzes erfahrbar wird.
So bilden sich gedankliche, leibliche und durch Blicke entstandene Linien zu einer Struktur, die Gefühle und Ideen hervorrufen, die mit künstlerischen Mitteln übersetzt werden. Wie aber lässt sich die Linie definieren? Die Linie ist das Sammelnde. Sie ist das, was die Kraft hat, Sinn zu geben. Die Linie versammelt Elemente wie Striche, Kurven, Konturen, Silhouetten und Streifen zu einem Ganzen, zu einer Einheit. Das mögen eine Zeichnung, ein Gemälde, eine Installation, eine Skulptur sein. Die Linie ist das Versammelnde. Sie versammelt Elemente zu einem Werk, zu einem Kunstwerk, zu einem Kulturträger.
Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen Linien-Freude und einen ästhetischen Genuss beim Betrachten der schönen, sinnhaften und typischen Stock-Linien.
© Hajo Eickhoff 2008
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