Workshop
Daimler Corporate Academy, 3. September 2008
Dramaturgie
Ich gehe hin und her. Sage: „Ich gehe.“ Lege mich auf den Fußboden und sage: „Ich liege.“ Stehe auf. Stelle mich vor die Zuhörer. Sage: „Ich stehe. Sie sitzen. Genauer: Sie sitzen vor mir. Sie sind vor mir Sitzende, mir Vorsitzende: ‚vor‘ – ‚sitzen‘ – ‚prä‘ – ‚sedere‘ – präsedere heißt Präsident. So sind Sie aus meiner Perspektive eine Ansammlung von Präsidentinnen und Präsidenten. Und als diese möchte ich Sie herzlich begrüßen. Also – Sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten – ich wünsche Ihnen eine ergiebige und anregende Konferenz zu den Ideen, wo die Daimler AG im Jahr 2020 stehen möchte.
Als ich sagte, dass ich vor Ihnen stehe, war das – bei genauer Betrachtung – eine Verstellung. Tatsächlich stehe ich vor Ihnen und bin aus Ihrer Perspektive ein Ihnen Vorstehender, doch als Mitglied der Sitzgesellschaft bin ich, wie Sie, durch die Schule des Sitzens gegangen, indem ich auf Schulbänken und Schulstühlen saß, mich in Wohnungen und Bussen, in Kantinen, Büros und Wartesälen, in Bahnen, Theatern und Automobilen auf Sitzgelegenheiten niederließ. Aus dem Grunde bin ich von meiner inneren Verfassung her – von meiner physischen, seelischen und geistigen Ordnung her – ein durch und durch Sitzender. Obwohl ich stehe, als vor Ihnen Stehender ein Vorstehender bin, bin ich in meinem ganzen Wesen und Charakter ein Sitzender, ein Ihnen Vorsitzender und deshalb auch aus Ihrer Perspektive ein Präsident.
Das ist der Clou einer jeden Sitzgesellschaft, dass die Menschen, gleichgültig wo und in welcher Verfassung und Haltung sie sich begegnen, sie sich immer begegnen als Präsidenten – als Präsidentin und Präsidentin, als Präsident und Präsident und als Präsident und Präsidentin. Diese drei Möglichkeiten der Begegnung bietet uns die Sitzgesellschaft. Wer denkt, dass das ein originelles Bild und eine gute Metapher sei, die ich hier entwerfe, sitzt, steht oder liegt falsch, denn handelt sich nicht um ein Bild, sondern um raue Realität.
VORTRAG
Ich werde Ihnen zwei Unternehmen vorstellen und miteinander konfrontieren – das Unternehmen Mensch und das Unternehmen Daimler. Dann werde ich ihre Entstehung und ihren Weg darstellen, in die Zukunft projizieren und aus der Zukunft – das ist die Globalität – ableiten, was Daimler heute tun könnte.
I. Was und wer ist das Unternehmen Mensch?
Wir leben in einer Zeit der Globalisierung. Sie ist aber nicht fünfzig oder hundert Jahre alt, auch nicht tausend Jahre, sondern der Mensch ist von Anbeginn an ein sich globalisierendes Wesen, ein Homo globans. Wie sollte es nicht zu einer Globalisierung kommen? Der Mensch ist lernfähig, hat Gedächtnis und gibt sein Können und Wissen durch die Jahrtausende hindurch an eigene Nachkommen, nachfolgende Generationen und andere Kulturen weiter.
Der Prozess der Globalisierung ist so alt wie der Mensch. Um Ihnen meine Methode, die auch die Ihre werden könnte, darzulegen und Ihnen zu zeigen, dass Ihr Unternehmensgründer nicht der Erfinder von Automobilen ist, muss ich etwas weiter ausholen.
Indem sich Menschen mit fremden Sippen und Stämmen austauschen, mal kriegerisch, mal kooperativ, lernen sie Neues hinzu. Bis Wissen und Können so reif waren, dass sie anhalten konnten, um Häuser zu errichten und von Ackerbau und Tierzucht zu leben. Sesshaftwerdung ist ein gewaltiger Einschnitt ins Leben. Eine Basisinnovation.
Das Haus ist ein Schub der Globalisierung. Was aber ist ein Haus? - Ein Machtzentrum. Von ihm aus geht der Mensch hinaus und kehrt zurück, greift weiter aus und baut in einem größeren Abstand weitere Häuser. Solange er umherstreift, gibt es weder Besitz noch Macht.
In der Weise kultiviert sich der Mensch über Jahrtausende und richtet Infrastrukturen größerer Ansiedlungen ein und verbindet sie miteinander. Solche Großstrukturen hat es gegeben, sie sind aber immer wieder zusammengebrochen. Bis eines Tages eine irreversible Struktur blieb – das Römische Reich. Die Römer besaßen die Weitsicht, die Struktur zu festigen, indem sie das ganze Reich von Mesopotamien bis nach Spanien und von Nordafrika bis Britannien mit einem rechtwinkligen Straßennetz überzogen. Später wird - vom Römischen Reich ausgehend – ein Netz von Verkehr, Militär, Wissen und Kultur über die gesamte Erde gelegt. Bis zur uns heute bekannten Welt. Es ist das Wesen des Menschen selbst, das den Prozess der Globalisierung antreibt. Was die Daimler AG zu tun hat, um zukunftsfähig zu bleiben, leitet sich hieraus ab. Hinzu kommt ein Element – die Merkmale ihres Unternehmensbegründers.
II. Was und wer ist das Unternehmen Daimler
Die Unternehmensgründer Gottfried Daimler, Carl Benz und Wilhelm Maybach haben durch ihre Erfindungsgabe, Innovationsfähigkeit und Risikobereitschaft in diese Menschheitsentwicklung eingegriffen und sie beschleunigt.
Sie sind Erfinder, Erneuerer, Praktiker und Theoretiker. Teamarbeiter, Beschleuniger und Trendsetter. Das Unternehmen setzt in seinem Ursprung an der Mobilität an und führt die Bedingungen zur Vernetzung der geographischen Orte zur Globalität weiter. Sie sind nicht diejenigen, die das Automobil erfunden und weiterentwickelt haben – wir im Westen gehen von Objekten aus, weniger von Strukturen. Sie haben ein Mittel zur beschleunigten Vernetzung geschaffen. Denn was bedeutet die Erfindung eines motorisierten Gefährts? Den Bau eines engmaschigen Straßennetzes. Von Anbeginn an also fördert Ihr Unternehmen den Prozess der Globalisierung – mittlerweile ist das Straßennetz über die gesamte Erde gelegt und bringt die Menschen nahe zusammen. Das entlastet sie davon, für alle Zeit Automobile bauen zu müssen.
III. Daimler Strategie Vektor – Methode, Richtung, Orientierung
Hieraus lassen sich für den Stand des Unternehmens im Jahr 2020 klare Anweisungen ableiten. Dazu müssen Sie beides kennen: Ursprung und Vision der Menschheit und Ursprung und Vision Ihres Unternehmens. Und wie Sie vielleicht ahnen, laufen beide auf dieselbe Vision hinaus. Was ist die Vision? – Das ist die Globalität.
Globalisierung ist keine Globalität, sondern der Weg zu ihr. Globalität ist der Endpunkt der Phase der Globalisierung.
Globalität ist der Zusammenschluss der Menschheit unter Beibehaltung der Verschiedenheit. Der Mensch kann sich nicht länger nur um sich, seine Familie und sein Unternehmen kümmern, sondern muss sich Gedanken über die Welt machen, über das Ganze des Seins. Wir leben alle auf einer immer kleiner werdenden Erde. Die Atmosphäre ist eine vollgequalmte Kneipe.
Das setzt eine Methode voraus. Denn Sie müssen zwei Visionen mit unterschiedlichem Ursprung, aber demselben Endpunkt in Ihren Antworten auf die Frage, wo Daimler 2020 steht, zur Deckung bringen. In vier Fällen können sie die Vision verfehlen. Durch Strömungen kann sich der Vektor parallel verschieben oder sich so drehen, dass er nur den Ausgangspunkt oder nur den Endpunkt trifft. Sie müssen Ihre Richtung kennen und beibehalten. Wenn Sie weder Ursprung noch Vision treffen, liegt das daran, dass sie nur an den kurzfristigen Gewinn denken. Oder umgekehrt.
Über die Zukunft mögen sie denken, was immer sie wollen, kommende Zeiten werden Sie darüber belehren, ob Ihre Analysen und Konsequenzen richtig waren. Was sie aber unbedingt wissen müssen – was ist die Vision der Menschheit und was ist die Ihres Unternehmens? Zunächst zeigt die Methode, dass beide zusammenfallen – beide zielen auf die – Globalität. Aus dieser Perspektive können Sie bequem alle Ihre Aufgaben und Projekte ableiten.
Globalität ist nicht nur das Zusammenwachsen der Menschen, sondern bedeutet auch eine bessere Gewichtung der Möglichkeiten der Menschen in unterschiedlichen Regionen der Welt. Wenn die Märkte tatsächlich frei, die Menschen echte Konkurrenten sind. Wirtschaftsliberalismus hat es bisher nicht gegeben.
Mit der Globalität finden Paradigmenwechsel statt. Demokratie statt Diktatur, horizontale Strukturen gegen vertikale (wissen, wo die Grenzen liegen), Fairness statt Korruption, Kooperation gegen vernichtende Konkurrenz (wissen, dass das Ende des Konkurrenten das eigene Ende sein kann), starke Partner statt abhängige, starke Regionen abstelle von schwachen, Teamarbeit statt Einzelbeschäftigung, Wirtschaftsliberalismus (den es noch nie gegeben hat) statt Protektionismus, Muße/Wohlfühlen statt Dauerkampf, Friede statt Krieg und das Hauptparadigma der Produktion: Klasse und Masse.
Wenn Sie das morgen realisieren würden, was ich Ihnen gesagt habe, wäre Daimler übermorgen am Ende. Es geht nicht um paradiesische Zustände. Das Paradies widerspricht der Evolution, denn das Schlechte und Böse ist notwendige Voraussetzung zur Verbesserung.
IV. Imageschäden
Handlungen und Performance können dem Image Daimlers widersprechen oder schaden. Ich habe mich gewundert, dass Daimler wenig getan hat, um Motoren zu entwickeln, die wenig Kraftstoff verbrauchen und mit alternativen Kraftstoffen fahren. Ich war irritiert, als ich von der Dasa erfuhr. Ich höre in Berlin von Rabatt-Aktionen. Die sind der Daimler AG nicht angemessen. Sie widersprechen der Daimler-Qualität, aber auch dem mündigen, selbstbewussten Kunden. Von solchen Kampagnen muss Daimler Abstand nehmen.
V. Liste der Aufgaben für das Projekt Daimler 2020
Aus der Vision – der Globalität – folgt: Daimler muss nicht bis in alle Zukunft Autos bauen, sondern den Prozess hin zur Globalität fördern.
1. Deproduktion
Globalität bedeutet, dass Daimler sich auf eine reduzierte Produktion einstellen muss. Wachstum lässt sich nicht unendlich fortsetzen. Das trägt die Erde nicht.
2. Daimler muss gut sein. Denn der Globalität ist unangemessen, die Nummer Eins sein zu wollen – wie Ihrem Geschäftsbericht von 2006 zu entnehmen ist. Lassen sie auf lange Sicht das Leitmotiv fallen. Gut sein wollen, hebt nicht Konkurrenz auf, sondern führt zur Verantwortung. Wer gut sein will, ist bei sich – wer der Beste werden will, beschäftigt sich zu sehr mit anderen – vergleicht und misst. Identitätskrisen.
3. Nachhaltigkeit Aus der Globalität folgt die Forderung nach Nachhaltigkeit. Der begrenzte Raum Erde trägt kein permanentes Wachstum. Globale Verantwortung ist Reduktion der Produktion. Das bedeutet weniger Automobile. Nachhaltigkeit fordert Motoren ohne Emission, mit geringem Kraftstoffverbrauch, Alternativkraftstoffen und Elektroautos. Zu bedenken bleibt, dass auch Alternativkraftstoffe nicht unproblematisch sind.
4. Daimler-Qualitätgehört zur Globalität. Dazu muss Daimler wissen, dass jedes Produkt auf den Menschen wirkt und dass gute Produkte positiv wirken. Sie berühren den Menschen und motivieren ihn. In der Berührung wird der Mensch eins mit dem Ganzen – dem Weltall und Kosmos. Weitsichtig, wach bleiben und den analytischen ebenso wie den synthetischen Geist trainieren. Qualität ist das, was den Menschen anregt, berührt und in Bewegung bringt – movere, Bewegung von innen oder Motivation. Als Qualitätsunternehmen hat sich Daimler eine Verantwortung für Mensch, Natur und Gesellschaft selbst auferlegt. Daimler muss Daimler-Qualität in die Welt tragen, indem zu High-Tech High-Quality hinzukommt.
5. Trends kennen. Historisch und konkret. Und wer weiß, dass gute Dinge positiv wirken, setzt Trends. Unternehmen dürfen ihren Kunden nicht hinterherlaufen, sondern müssen sie erziehen, so dass das Unternehmen an den Trends dranbleibt, da es sie mitbestimmt. Daimler muss seinem Ursprung gemäß ein Kulturunternehmen werden. Sie müssen die Globalisierung fördern, um die Globalität herbeizuführen.
6. Daimler-ExpertenNun möchte ich eine Gruppe von Mitarbeitern genauer betrachten: die Daimler-Experten. Daimler ist eine gewaltige Ansammlung von Experten unterschiedlicher Art. Nutzen sie unbedingt dieses Potenzial, denn Expertentum bedeutet Flexibilität, Innovation, Erfindungsgeist. Schaffen sie neue Kontexte für Ihre Experten, neue Anwendungsbereiche. Das ist deshalb von Bedeutung, weil
7. Daimler könnte Haltegeräte für Arbeitsplätze entwickeln. Ausgehend von den Automobil-Sitzen. Ihre Autositzexperten könnten Büroarbeitsplätze entwickeln und gestalten. Avantgardistische Orte, die dem Vielsitzen und der wachsenden Unbeweglichkeit des modernen Menschen entgegenarbeiten und für eine neue Mobilität sorgen. Wie das Chorgestühl mit seinen fünf unterschiedlichen Haltungen. Dazu gehören auch Alternativen zum Sitzen wie Stehpulte, höher verstellbare Sitze und Tische. Daimler könnte Sitze entwickeln, die kompensieren, was während der Autofahrt verlorengeht. Man könnte sagen: „Ich habe einen Daimler im Büro“. Daimler hat die Experten – nutzen sie das. Bedenken Sie, dass Ihre Experten Sitze mit wesentlich höheren Anforderungen als statische Bürositze entwickeln. Das lässt auf eine Daimler-Qualität hoffen.
8. Daimler-Büros Daimler könnte Büros entwickeln. Compakt-Büros. Denn Automobile sind Büros. Mit Stühlen, unterschiedlichen Ablagen als Tischen, mit Navigation, Mobiltelefon und imaginärer Sekretärin und mit dem ganzen Büroequipment. Daimler sollte dann avantgardistische Büros entwickeln – mit dem Wissen der Fachleute, die Auto-Innenräume gestalten und entwickeln.
9. Alles Daimler Falten sie ihren Daimler auseinander und schauen, welche Elemente Ihrer Fahrzeuge ein potenzieller Daimler in einem neuen Bereich sein könnte, denn Automobile sind eine Kollektion sehr unterschiedlicher Produkte. Vergleichen Sie die Elemente mit anderen Produkten und wenn Sie feststellen, dass sie keine Daimler-Qualität haben, stellen Sie sie her.
© Hajo Eickhoff 2008
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