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aus: Christoph Wulf/ Jörg Zirfas, Muße, Paragrana, internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Band 26, 2007, Heft 1

 

Behauptung und Muße


Wenn man seine Ruhe nicht in sich findet,
ist es zwecklos, sie andernorts zu suchen.
François de la Rochefoucauld

Bedingungen der Muße

 

Muße ist eine innere Verfassung des Menschen – eine Stimmung, ein Erleben, eine innere Haltung. Ein Aussetzen von Trieb und Gewohnheit, von Streben und Zeit, von Eile und Geschwindigkeit. Muße kann sich einstellen, wenn die Innenseite des Menschen mit dem Außen, der Welt, zusammenklingt.

 

Muße ist eine Form der Entspannung von Geist, Leib und Seele. Sie teilt sich allen Bereichen des Menschen mit. Sie ist weder freie Zeit noch ein schöner Gedanke, noch ein Wohlgefühl allein. Muße ist eine Verfassung, in der der Mensch frei von körperlichen Schmerzen, sorgenvollen Gedanken und unangenehmen Gefühlen ist. Zugleich muss der Müßige das Gefühl einer Leichtigkeit und Gegenwärtigkeit spüren sowie eine Gelassenheit gegenüber dem Morgen. Es ist das Ganze, die Einheit, in dem der Mensch für eine Zeit zu einem Müßigen wird. Innere Ruhe ist ein wesentliches Element der Muße, in der der Mensch zu sich kommt.

 

Muße hat unterschiedliche Arten und Intensitäten. Es gibt die Tätigkeitsmuße, wie in der unentfremdeten Arbeit und literarischen und wissenschaftlichen Tätigkeit; die Gefühlsmuße, wie beim Empfinden von Geborgenheit; die Genussmuße; die Haltungsmuße, wie in den Haltungen des Gehens, Sitzens, Hockens, Kauerns und Liegens. In der Regel sind an einer Situation der Muße mehrere Arten des Müßigseins beteiligt. Ohne Gefühls- und Denkmuße kann es keine Muße geben, wohl aber ohne die Liegemuße. Wenn es auch nur eine Muße gibt: Die Liegemuße ist die Königsmuße.

 

Der Mensch kann nicht nichts tun. Ununterbrochen laufen in ihm Prozesse ab, die er nicht wahrnimmt. Die Tätigkeit der Organe, die Vorgänge in den Nervenbahnen oder die unablässigen Prozesse in den Zellen – all das bleibt dem Bewusstsein verborgen. Im Schlaf vollziehen sich die gleichen Vorgänge wie im Wachsein. Nur gedämpft und modifiziert, wenn auch Albträume und andere aufrührende Ereignisse im Schlaf viel Energie erfordern können. All das läuft ohne Pause ab. Von Geburt an. Und endet nicht einmal abrupt mit dem Tod. Und selbst das, was mit Bewusstheit und Absicht verrichtet wird, wird von unbewussten Abläufen begleitet. Unser Tun wird aber nicht nur ständig begleitet von unbewussten Vorgängen, es ist auch unmittelbar mit ihnen verbunden, so dass die Übergänge von den internen Prozessen zu dem, was wir Handeln und Verhalten nennen, fließend sind. Da Leib und Denken, Fühlen, Handeln und Verhalten eine Einheit bilden, folgt, dass allein deren Form darüber entscheidet, was Muße ist.

 

Der Leib geht wesentlich mit ein in das, was Muße definiert. Denn wenn die internen Prozesse nicht optimal ablaufen, wird der Mensch es mit der Muße schwer haben. Mit seinem inneren Milieu, das nach eigenen Gesetzen funktioniert, steht er in der Welt, die auch ihre eigenen Gesetze hat. Das innere ist mit dem äußeren Milieu verbunden, so dass Innen und Außen, Eigen- und Fremdgesetz miteinander konkurrieren. Allerdings ist die Welt nur zum Teil durch den Willen des Menschen beeinflussbar. Der Beginn der Muße liegt im Einklang beider Milieus: Wenn Denken und Fühlen, Physis und Verhalten in dieselbe Richtung wirken wie das Außen, stellt sich ein Zustand der Muße ein.

 

Der Mensch vermag selbst unter lebenswidrigen Umständen das Leben positiv zu erleben, denn er kann durch Offenheit, Wissen, Erfahrung und Kreativität negative Einflüsse modifizieren und mildern. In diesem Vermögen, Wirklichkeit zu konstruieren, liegt die Elastizität des Menschen und die Möglichkeit, unter vielerlei Bedingungen Muße zu erleben.

 

Mußebedingungen betreffen den ganzen Menschen und das Ganze seines Seins: Leib und Seele, Geist und Körperhaltung, Gesellschaft und Sozialität als selbst eingerichtete Welt des Wohnens und der Arbeit. Dennoch gehört zu den Bedingungen der Muße, dass der Mensch nicht ausschließlich seine wache Zeit für den Lebensunterhalt verbringen muss. Gesundheit, materielle Sorgenfreiheit und die Fähigkeit zu Freude und Genuss sind für die Muße gute Voraussetzungen, doch die einzelnen Elemente bleiben ungenügend, da es auf den Kontext ankommt, in dem der Mensch lebt. Insofern ist Muße nicht nur von den Gaben des Einzelnen abhängig, sondern ebenso von seinem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld sowie von der historischen Zeit, in der er lebt. Muße setzt eine Mußefähigkeit voraus, auf die der Mensch hinwirken kann.

 

Muße ist ein angehobenes Nichtstun. Eine Lichtung im gewohnheitsmäßigen Daseinsstrom, eine Oase in den alltäglichen Verkehrungen, ein Ankerplatz im unaufhörlichen Strom der Zeit. Nichtstun, Untätigsein und Faulheit ohne Genuss und Bewusstsein haben keine Richtung und stellen keine Muße dar, denn zur Muße gehört die Reflexivität, das Wissen, dass der Mensch in der Muße ist. Erst wenn sich im Nichtstun Atem und Seele frei machen, entsteht Muße.

 

 

Schwere und Behauptung

 

Alles, was ist, hat die Neigung, sich frei und formlos auf dem Boden, dem Lebensgrund auszubreiten und sich der Schwerkraft zu überlassen. Dieser Neigung entspricht die Körperhaltung des Liegens. Im Liegen berühren Lebewesen mit der größtmöglichen Fläche ihres Körpers den Boden. Liegen ist eine Haltung, die Muße begünstigt. Der Körperhaltung des Liegens vergleichbar ist die stabilste innere Haltung des Menschen die Muße.

 

Behauptung ist der Wille, gegen die Schwerkraft Kopf oder Haupt oben zu halten. Das Leben strebt nach Überwindung dieser Schwere, als läge darin sein Auftrag. Das Lassen im Liegen will kultiviert und überwunden werden. Die Wirbeltiere machten sich auf einen langen Weg und entwickelten aus dem Schwimmen und Kriechen das Gehen auf vier Beinen und weiter das aufrechte Stehen und Gehen auf zwei Beinen. Das Resultat ist der Mensch.

 

Der Mensch ist die komplexeste Form des Lebens. Denn in der Selbständigkeit ist dem Menschen eine seiner Aufrichtung entsprechende innere Form – ein Ich – gegeben worden. Die Grade der Aufrichtung der Wirbeltiere sind Stufen der Behauptung, doch erst in der Vollendung, wie beim Menschen bilden sich Ich und Bewusstsein, Sprache und die Möglichkeit zur Muße aus. Der Preis der vollendeten Aufrichtung ist die Bürde der Verantwortung: für sich, für andere und für die Natur. So gründet die Möglichkeit zur Muße in der gattungsmäßigen Unmuße der Behauptung. Allerdings stehen Behauptung und Muße einander zwar gegenüber, sie schließen einander aber nicht aus.

 

Unter den Lebewesen verfügt nur der Mensch über die anatomischen Mechanismen, die das aufrechte Stehen und Gehen für eine lange Zeit erlauben: die Lordose von Hals und Lende sowie der Winkel, den Kreuzbein und Wirbelsäule bilden – das Promontorium, ein Attribut der menschlichen Aufrichtung. Die Halslordose ermöglicht das Heben und Balancieren des Kopfes, die Lendenlordose die Änderung der Stellung von Rumpf und Hüfte. Allein der Mensch zeigt bei aufgerichtetem Rumpf eine Streckung in den Knien und in der Hüfte. Diese Streckung ist ein Begleiter der menschlichen Behauptung. In der Erziehung und beim Militär wird diese Streckung zu einem Mittel der Disziplinierung.

 

Da die aufrechte Position nicht instinktiv eingenommen und beibehalten wird, sondern eines Willens, einer Behauptung bedarf, Rumpf und Kopf oben zu halten, weist sich die Behauptung als eine sowohl leibliche als auch geistige Haltung aus. Das macht die Natur im Menschen fällig und anfällig, da hinzukommt, dass Stehen eine labile Haltung ist: Die Fußgelenke müssen im rechten Winkel und Knie- und Hüftgelenke gerade gehalten werden, jedes der 23 Wirbelsäulengelenke – aus je zwei Wirbeln und einer Bandscheibe – muss mit der gesamten Wirbelsäule abgestimmt, der Rücken in einer doppelten S-Form gehalten und der Kopf auf dem Atlas balanciert werden. Immer wieder ist der Mensch aufgefordert, seinen Willen zu aktivieren, um von innen her den Kopf oben zu halten. Das ist die allgemeinste Form der Behauptung des Menschen. Auf diesem Untergrund des unablässigen emsigen und geschäftigen Haltens und Behauptens erhebt sich die Muße des Menschen. Gegen Schwere und Behauptung ist Muße eine Form der Leichtigkeit.

 

Was wir im Sinne eines seelischen Befindens Haltung nennen, kann sich erst mit dem Willen, sich aufzurichten, entwickeln. Dazu arbeiten Psyche und Physis zusammen. So hat sich mit der menschlichen Aufrichtung aus dem Naturganzen ein Kulturwesen herausgearbeitet, an das die Natur die Möglichkeit geknüpft hat, in der Behauptung ein selbständiges Wesen – ein Ich, das der Muße fähig ist – auszubilden.

 

 

Muße in der Geschichte

 

Die Vermittlung von Natur und Mensch ist ursprünglich das Leben selbst. Es gab Zeiten und Regionen, in denen die Natur karg war. Sie konnte aber auch Früchte und Tiere im Überfluss hervorbringen und die Menschen gut leben lassen. Dann war die Nahrungsbeschaffung leicht, angenehm, ein Spiel.

 

Doch auch wenn das Spiel Mühe bereitete, bedeutete Leben noch nicht Arbeit. Deshalb hängt der Begriff der Muße auch nicht vom Begriff der Arbeit ab, der in vielen Sprachen Mühsal, Not, Leid oder Plage bedeutet. Bis zur Sesshaftwerdung kannte der Mensch Zeiten der Muße, ohne über den Begriff der Arbeit zu verfügen. Muße war die Zeit der Träume und der Feste, der Kunst und der Andacht. Und es sieht so aus, als wäre Muße eine Verbindung des Menschen zum Kosmos. Bedingungen für Arbeit entstanden mit der Sesshaftwerdung, insbesondere mit der Entstehung der Berufe, der Gliederung von Lebens- und Aufgabenbereichen wie Landwirtschaft und Handwerk sowie der Errichtung von Städten. Die Stadt ist der Ort der Konzentration des gesellschaftlichen Lebens und der Ort von Eigentum und Besitz – hier begannen Philosophen, über die Gesellschaft, das Tun des Menschen und sein Dasein nachzudenken.

 

Mit der Sesshaftwerdung musste sich der Mensch radikal wandeln. Das Leben gewann an Kontinuität; seine regelmäßige Nahrung war gesichert, denn Pflanzen wurden angebaut und Tiere direkt in ihre Falle, den Stall, hineingeboren – wenn nicht Plagen die Ernte vernichteten und Haustiere töteten; der Mensch war nicht länger den Gefahren des Weges ausgeliefert: dem Großwild, den Unbilden des Wetters, fremden Stämmen; Kinder wuchsen in größerer Sicherheit als zuvor auf; der Mensch kam sich selbst näher – wurde sich seiner selbst bewusst; Intimität bildete sich aus. Dafür verlor der Mensch seine Unmittelbarkeit; Nahrung diente nicht nur der aktuellen Befriedigung des Hungers des Einzelnen, sondern der Überwinterung der Gemeinschaft; der Wille zur Behauptung wuchs, denn die Behauptung als Aufrichtung wurde mit kulturellen Mitteln – insbesondere der Technik – fortgesetzt.

 

Die Stadt ist ein Resultat der Differenzierung menschlichen Schaffens. In ihr entwickelte sich ein Gefälle des Besitzstandes: wohlhabende Handwerker und Händler mit Großgrundbesitz, einfache Handwerker und Händler, Soldaten und Knechte, Haushälterinnen und Mägde, Sklaven. Ein Teil des städtischen Reichtums wurde zentral – im Haus des Königs – gehortet. Wohlhabende ließen für sich arbeiten und erledigten nur noch einen Teil der Organisation des eigenen Anwesens. Ihr müßiges Leben war von gelegentlichem Arbeiten unterbrochen. Müßig bedeutete hier soviel wie frei von Arbeit oder überflüssig, das auf den Überfluss, den Reichtum verweist.

 

In den griechischen Stadtstaaten – die ohne König auskamen – machten die ersten Philosophen Muße und Müßiggang zum philosophischen Thema und setzten sie in ein Verhältnis zur Erwerbsarbeit, die ihnen als niedere Tätigkeit galt. Denn sie sahen gerade den Fortschritt ihrer Kultur darin, dass sich die Menschen von der unmittelbaren Beschäftigung mit dem dinglichen Stoff der Natur befreit hatten. Dem entsprach, dass ihnen die wissenschaftliche Arbeit, das literarische Tätigsein, das Kunstschaffen und der Kunstgenuss als Muße galten. Aristoteles band das Glück an die Muße: „Die Glückseligkeit scheint in der Muße zu bestehen.“ Allerdings verstand er Muße weder als Einssein von Seele, Geist und Leib noch als Eingebundensein in die Natur, noch als Untätigkeit, sondern als Freisein von gewerblicher Arbeit. Da er Muße aber nicht auf den menschlichen Leib oder andere äußerliche Dinge bezog, erwies Muße sich als reine Tätigkeit der Vernunft – als eine Art lustvollen Denkens. Dadurch wurde Muße als nur den Wohlhabenden, Freien und den geistig aktiven Menschen möglich angesehen. Noch Arthur Schopenhauer wird das Gemeinsame von Denken und Muße hervorheben: Um eigentlich zu philosophieren, müsse „der Geist wahrhaft müßig sein“, er dürfe keine Zwecke verfolgen und also nicht vom Willen gelenkt werden.

 

Die Negation des römischen otium für Muße verrät noch den Vorrang der Muße vor der Arbeit, denn otium ist das ursprüngliche Wort, dem das neg-otium folgt. Negotium bedeutet Bankgeschäft und Handel, Geschäft und Sache, otium freie Zeit, literarische, geistige Tätigkeit und die Beschaulichkeit.

 

Das Christentum drehte die Verhältnisse um. Das paradiesische Leben mag als ein Dasein in Muße vorgestellt sein, obwohl es eine eingezäunte Existenz meint, doch schon als Folge der Vertreibung wurde dem Menschen prophezeit, er werde zukünftig sein Brot im „Schweiße seines Angesichts“ essen. Nach christlicher Vorstellung galt Muße als zweifache Untat: als Nichtstun und als sündiges Tun. Benedikt von Nursia definierte durch das bete und arbeite die antiken Begriffe von Muße und Arbeit neu: Alle Arbeit sei gleichwertig und ohne soziale Schranken. In der Anweisung, dass Mönche die Aufgabe haben, nach Demut, Askese und geistiger und profaner Arbeit zu streben, waren Benediktinische Klöster erste kapitalistische Einrichtungen. Wenn die Mönche den Boden kultivierten, Siedlungen anlegten, die Gartenkultur und das Handwerk entwickelten, die Wissenschaften und Künste pflegten, hatten sie rational, planvoll und nach ausgeklügelten Methoden vorzugehen. Deshalb waren Klöster oft Ausgangspunkte für die Gründung von Städten und Märkten und bildeten zugleich einflussreiche kulturelle und ökonomische Zentren. Der Benediktinermönch Martin Luther definierte Arbeit theologisch – als Gottesdienst.

 

Eine weitere Aufwertung erfuhr die Arbeit seit dem 17. Jahrhundert. Sie wurde, wie in der Antike, positiv aufgefasst. War Arbeit für Luther Gottesdienst, war sie für John Locke Quelle des persönlichen Besitzes, für Adam Smith Quelle des Reichtums und für Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx Prinzip der Selbsterschaffung des Menschen und der Menschheitsentwicklung. Max Weber sah in der Arbeit das Bindeglied zwischen protestantischem Ethos und kapitalistischer Industriegesellschaft.

 

Für Industriearbeiter schwand die Möglichkeit zur Muße. Eintönigkeit, Akkord und lange Arbeitstage boten ihnen nur ein emsiges und fleißiges – also industrielles – Dasein in Armut und Unruhe, denn wie die Arbeit wurde immer stärker auch das gesellschaftliche und private Leben dem Rhythmus der Maschine unterworfen, ein Rhythmus, der nicht mehr der Eigenzeit, dem Rhythmus und den Eigenarten des Menschen entsprach.

 

Die Errungenschaften der Technologie bereiteten den Menschen moderner Gesellschaften Komfort, einen enormen materiellen Reichtum und die Möglichkeit, wie Bertrand Russell meint, dass alle Menschen behaglich und sicher leben könnten. Doch die modernen Produktionsmethoden als Basis für Muße haben sich als Utopie erwiesen, die bisher nicht zur Wirklichkeit gelangte, denn Technologie verursacht auch Stress, Enge und seelische, leibliche und geistige Brüchigkeit. Stress bereitete, dass sich der Mensch im Zeitalter der Technik vorgenommen hat, selbst wie eine Maschine zu funktionieren. Im Zeitalter der Vernetzung und der Informationsmethoden könnte Muße bessere Chancen haben.

 

So haben sich die Werte von Arbeit und Muße seit der Antike in ihr Gegenteil verkehrt. Bewerteten Griechen und Römer die Arbeit negativ, wurde sie der Christenheit zu einem Dienst an Gott. Die Neuzeit wertete sie weiter auf. Sie machte sie zum Prinzip der Kulturentwicklung und verband Religion und Profanwelt. Die Neuzeit begrenzte die Muße durch das Behauptungsvermögen. Die Bewertung der Muße verlief umgekehrt. Den Griechen und Römern ein Lebensziel, wurde sie den Christen zu Sünde und Laster. Im Verlauf der Technisierung wurde Muße so stark abgewertet, dass Müßiggänger, Flaneure, Landstreicher und Menschen ohne Arbeit als Unnütze, Faulenzer und Taugenichtse galten. Wer nicht arbeitete, sollte auch nicht essen, hieß eine Redewendung – denn er arbeitete weder am Werk Gottes noch am Nutzen der Gesellschaft. Doch gerade das Nutzlose ist ein Wesen der Muße. Das, was sich durch nichts vereinnahmen lässt, sich jeder Ausnutzung entzieht. Martin Buber hat darauf hingewiesen, dass der Mensch den Nutzen des Nutzlosen nicht erkannt hätte.

 

 

Haltung und Muße

 

Leben funktioniert autonom. Und der Leib der Lebewesen ist Leben. Etymologisch sind beide eins. Der lebendige Mensch ist sein Leib, wenn auch zu seinem Leib und seiner Lebendigkeit unabdingbar Geist und Bewusstsein gehören. Deshalb sind Leib, Seele und Denken am Zustandekommen der Muße beteiligt. Als Bewohner der Erde wächst der Mensch in einem physikalischen Schwerefeld auf, als Bewohner einer Gemeinschaft in einem sozialen Schwerefeld, der Um- und Mitwelt. In beiden Feldern entwickelt er ein komplexes Beziehungsgeflecht aus Verhalten und Denken, Fühlen und Handeln.

 

Da der Leib Mitproduzent der Welt und ein Medium ist, das sich unter der Definition verändert, lässt er sich nur unbestimmt definieren. Der Leib vermittelt eine seelische Teilnahme an der Welt. Das seelische Erleben wie Empfindungen, Triebregungen, Gefühle, Erinnerungen oder Gedanken sind weder im Raum unseres Körpers noch im Gehirn lokalisierbar. Im Tätigsein spürt der Mensch ein spontanes Drängen, einen Antrieb, der ihn handeln, denken und kommunizieren lässt.1 Der Antrieb rührt von einer ortlosen Mitte her. Er bewegt und motiviert den Menschen, treibt ihn an und über sich hinaus. Die Spontaneität der Antriebskraft ist die Selbsttätigkeit des Menschen und ein Urphänomen seiner Existenz – ein vitales Zentrum der Person.

 

Immanuel Kant vertritt in seiner vorkritischen Schrift Träume eines Geistersehers von 1766 eine ähnliche Ansicht. Niemand sei „sich seines besonderen Orts in seinem Körper unmittelbar bewußt... wo ich empfinde, da bin ich“, und keine „Erfahrung lehrt mich,... mein untheilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirns zu versperren... Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Theile.“2 Im Nachlass, dem Opus postumum, greift er die Idee wieder auf: „Das durch empirische Anschauung afficirte Subject... ist in so fern es sich nach Begriffen selbst afficirt ein organischer Körper nach den 5 Sinnen anschauend.“3 In der Kritik der reinen Vernunft vertritt Kant nur scheinbar eine andere Ansicht.4 Andernfalls wäre seine Synthese von Rationalismus und Empi­rismus auch gescheitert. Vergleichbar einer Theorie der apriorischen Vernunft sucht Kant seit 1790 nach der Möglichkeit einer Theorie des apriorischen Leibes. Er hat Sinnlichkeit und Verstand – als Äußerungen genommen – strikt getrennt, sie aber intern, auf einer höheren Ebene, in der transzendentalen Synthesis zusammengebunden. Mit dem Programm einer apriorischen Theorie der Leiblichkeit hat er versucht, „den Graben zwischen der transzendentalen Vernunftkritik und der wirklichen Erfahrung zu überwinden“.5 Zum einen zeigt das, wie modern Kant Leib definiert, zum anderen wird auch bei ihm Muße nicht allein durch Verstand und Vernunft konstituiert, sondern zugleich durch den Leib.

 

Der Mensch ist physisch, psychisch und sozial auf Stoffwechsel angewiesen. Leben ist also keine Harmonie. Im Gegenteil. Lebensprozesse können nur aufrechterhalten werden, wenn Innen und Außen eine Differenz bilden. Dadurch entsteht ein permanenter Wechsel von Aktivität und Ruhe, von Aufbau und Demontage, von Mangel und Ausgleich, so dass Lust und Unlust unmittelbar aneinander gebunden sind, zumal die Erfüllung der Differenz nie gesichert ist. Auch Muße konstituiert sich wesentlich im Wechsel mit Unmuße.

 

Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus, seine Schwingung, seinen Charakter und seine Eigenzeit. Auch die Umwelt hat Rhythmus, Schwingungen, Eigenheit und eine eigene Zeit – die Weltzeit. Wenn Mensch und Welt sich in ihren Eigenarten so zusammenfügen, dass der Mensch in seiner Existenz angenehm berührt wird, kann sich ein Erleben von Einklang, Übereinstimmung und Geborgenheit – ein Erleben von Muße – einstellen.

 

In der Muße fällt der Mensch aus der Geschäftigkeit, dem Getriebensein und der Behauptung heraus. Entweder gelingt es ihm, für eine Zeit dem Außen seine Eigenart aufzuprägen oder er versetzt sich in eine Verfassung, die mit dem Außen zur Deckung kommt. So gewinnt er eine Konstitution, in der er ohne konkretes Ziel und ohne feste Absicht für eine Zeit zu einem Müßigen wird. Streben und Behauptung sind aufgegeben zugunsten von Ruhe und Gelassenheit.

 

Muße ist die Übereinstimmung von innerem und äußerem Rhythmus, von Eigenschwingung und Außenschwingung, von Eigenzeit und Weltzeit. Das wesentliche Element, das Innen und Außen verbindet, ist der Atem. Seine Wirkung lässt sich gut verstehen, wenn wir seine nichtmüßige Wirkung betrachten. Wenn ein Mensch psychisch aufgewühlt ist und eine zeitlang rasch und hektisch atmet, kann eine Hyperventilation – ein erhöhtes energetisches Atmen – eintreten. Der Atem reichert das Blut mit Sauerstoff an, ohne dass die erhöhte Energie als Handlung oder Bewegung nach außen abgeführt wird. Durch die Hyperventilation kommt es zur intensiven Durchlüftung der Lungen mit der Folge der Abnahme des CO2-Gehalts im Blut. Innerer und äußerer Zustand divergieren derart, dass die Folge eine Erhöhung des pH-Wertes ist, die zu Muskelkrämpfen und Unruhe führt.

 

Dagegen ist ein Weg in die Muße das tiefe, ruhige und gleichmäßige Atmen. Der Atem lässt sich zu verspannten, müden und schmerzenden Körper- und Organregionen leiten. Diese Form des Atmens entspannt, löst die Muskulatur, beruhigt die Psyche und öffnet den Geist. Sie hebt Blockaden auf, weitet den Körper und überwindet Ängste.

 

In einer gesunden und entspannten Verfassung fließt der Atem frei und der Mensch spürt phänomenologisch seinen Leib nicht, der schwerelos erscheint – wie im Liegen. Ein gutes Körpergefühl haben bedeutet soviel wie den Leib nicht spüren. Erst in der Krankheit, der Abgespanntheit und im Schmerz regt sich der Leib. Er verräumlicht, indem er auf den Ort des Leids konzentriert wird – etwa beim Zahnschmerz auf den schmerzenden Zahn. Erst in solchen Krisen kommt der Leib zur Existenz. Dasselbe gilt für die Zeit. In der Gesundheit, der Frische und der Hingabe an eine Aufgabe spürt der Mensch phänomenologisch die Zeit nicht. Erst wenn ein Schmerz nicht vergehen will, wird Zeit spürbar und der Mensch erlebt sich als zeitliches Wesen. Zeit und Leib sind in der Muße aufgehoben.

 

Muße findet immer in einer besonderen Körperhaltung statt, die Einfluss auf die Form der Muße ausübt. So dass jede Haltung Maß und Grad der Muße und des Müßigseins mitbestimmt, da bis auf das Liegen jede Haltung einen Anteil an Behauptung und Disziplin in sich trägt, der auf dem Weg in die Muße verwandelt werden muss.

 

Liegen ist eine äußere und innere Haltung größter physischer und psychischer Entspannung. Um die Position des Stehens im Schwerefeld zu halten und zu sichern, ist das zentrale Nervensystem mit einem komplexen Schema belastet, das im Liegen von erheblich geringerer Komplexität ist. In der Hingabe an die Schwere können auch Denken und Gefühl, Absicht und Wollen loslassen.

 

Schlaf ist eine psychische und zugleich physische Notwendigkeit. Der Mensch entspannt im Schlaf und erlebt eine Art Regression. In der Regel schläft er in der Position des Liegens. Das hat seinen Grund darin, dass sich im Liegen der Blutdruck verringert, der Puls verlangsamt, die Muskulatur entspannt, das Atmen langsamer, tiefer und gleichmäßiger verläuft und das komplexe Schema des zentralen Nervensystems für das Stehen aufgegeben wird. Diese Veränderungen potenziert der Schlaf.

 

Liegen und Schlafen sind Modelle für Muße, denn sie erfüllen einen Großteil an Bedingungen, die zur Muße führen. Im liegenden Körper haben Träume und Phantasien freien Lauf. Freud hat den Zusammenhang geahnt: Er hat die Couch aus der Praxis der Hypnose für die Psychoanalyse übernommen. Er bemerkte, dass ein freies Assoziieren im Liegen besser erfolgt als im Sitzen auf einem Stuhl, auf dem der Patient stärker am Realitätsprinzip festhält. Die Couch nimmt der Muskulatur die Spannung, die sie im Stehen oder Sitzen zur Überwindung der Schwerkraft annehmen muss, und erzeugt ein tiefes und gleichmäßiges Atmen, das zu einer psychischen Beruhigung führt und die Arbeit des Psychoanalytikers erleichtert.

 

Dennoch ist im Stehen und Sitzen Muße möglich. Sitzen ist kein Komfort, sondern eine hohe Form der Disziplin. Wenn man es aber rituell einsetzt oder zu einer bewussten, meditativen Haltung macht, kann es, wie es frühe Könige als Mitte der Gemeinschaften praktizierten, mit der geeigneten Tätigkeit zum Raum der Muße werden – in der literarischen und wissenschaftlichen Tätigkeit oder in der künstlerischen Arbeit.

 

Immer verläuft der Weg in die Muße über den Bezug zu Körper und Körperhaltung. Das bedeutet, zu erkennen, welchen Sinn der Körper und seine Positionen haben, wie sie wirken und das Wohlbefinden befördern. Das wiederum bedeutet, dass sich der Mensch immer wieder einmal niederlegen sollte, um Geist, Seele und Leib wahrzunehmen, ihre Balance herzustellen und sich mußefähig zu halten.

 

Besondere Arten des Gehens wie Flanieren, Umhergehen, Schlendern und Spazieren gehören in den Bereich der Muße, stecken aber mit einem Bein in der Behauptung. Flaneure streifen ziellos umher. Ihr Tun ist der Müßiggang, ihre innere Haltung Muße. Obwohl Gehen eine Form der Behauptung ist, kann Flanieren zu einer Form der Muße werden. Flaneure gelten als Produkt der überdachten Pariser Passagen, die zum bummeln, zum flaner einluden. Der Flaneur setzt der Hektik des geschäftigen Großstadttreibens und dem Rausch des Kaufens einen bewusst beschaulichen und die Welt der Waren lediglich rezipieren den Müßiggang entgegen. In Paris kam es vor, dass sich Müßiggänger mit einem die Art ihres Gehens kennzeichnenden Attribut dekorierten: Sie führten Schildkröten an der Leine spazieren. Edgar Allen Poe, Charles Baudelaire und Walter Benjamin beschäftigten sich literarisch und theoretisch mit dem Flanieren. Benjamin schrieb Teile seines Passagen-Werkes gemeinsam mit dem Berliner Franz Hessel – einem Flaneur.

 

 

Muße und freie Zeit

 

Muße ist ein sich selbst genügendes Sein. Keine Regeneration von vergangener Tätigkeit – eher eine Regeneration vom Sein selbst. In der Muße erweitert und vertieft der Mensch seine Existenz. Vom Freisein von Arbeit hat sich Muße heute zu einem inneren Gestimmtsein – einem Wohlgefühl und einer allgemeinen Befreiung – entwickelt.

 

Muße ist ein Raum der Kontemplation. Ein Ort des Rituals, der Verdichtung des Denkens und der ausbalancierten Wahrnehmung aller Sinne: Stille für das Ohr, Weichheit für den Tastsinn, Milde für Zunge und Nase, Balance für den Tiefensinn, Verlangsamung für den Atem und Kontemplation für das Auge.

 

Nicht das Freisein von Arbeit verschafft Muße – vermag es sie auch zu fördern –, sondern das Vermögen, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und daran Freude zu haben. Freizeit ist längst zu einer Art selbst auferlegter Arbeit geworden, so dass es nicht mehr einfach erscheint, sie als müßige Zeit anzusehen. Dazu bedarf es eines Könnens und Wissens, das moderne Gesellschaften verkümmern lassen. Es bedarf aber auch eines persönlichen Wollens, das keine Form der Behauptung ist.

 

Muße ist das Mehr im Leben. Das, was über die Nützlichkeit und die Funktion des Daseins hinausgeht. Muße ist Überfluss und Bereicherung – das heißt Öffnung und Weitung zu einer das Irdische transzendierenden Existenz. Eigentlich lebt der Mensch allein für die Muße.

 

 

Wege zur Muße

 

Wege zur Muße setzen Mußefähigkeit voraus. Das sind Fähigkeiten der Entspannung und der Kommunikation, der Kreativität, der Intuition und des Humors. Für sie lässt sich ein kleines Kategoriensystem aus Atem, Imagination, Genuss, Gelassenheit und Lachen aufstellen.

 

Der Mensch könnte lernen, dass der Atem eine wichtige Rolle bei der Belebung, Erfrischung und Krisenbewältigung spielt und dazu beiträgt, Innen und Außen aufeinander abzustimmen. Das wäre ein konspirativer Weg in die Muße: das gemeinsame Atmen von Welt und Mensch.

 

Ausschau wäre zu halten nach Übereinstimmungen mit dem sozialen Raum, denn als soziales, politisches Wesen ist dem Menschen Kommunikation ein zentrales Anliegen. Ein Bedürfnis, das durch die Geschichte und die Organisation der Arbeit und der Freizeit verdeckt ist, so dass viele Menschen moderner Gesellschaften Kommunikation als eine Last empfinden. Das wäre ein zweiter konspirativer Weg in die Muße: das gemeinsame Atmen mit anderen.

 

Zu bedenken wäre, dass tiefes und entspannendes Einatmen den Menschen erneuert, sein Verständnis vertieft, seine Kreativität weckt und zur Muße führt, in der er sich einem kreativen, müßigen Schaffen öffnet. Das wäre der inspiratorische Weg in die Muße. Für Anaϊs Nin spielt die Muße in den Mythen die Rolle der Inspiration.

 

Der Mensch könnte eine Vorfreude aktivieren. Etwa den Gedanken an einen Theaterbesuch, ein Fest oder einen kommenden Urlaub. Dadurch bieten sich Möglichkeiten, sich in einer tristen Situation mit Gedanken so einzurichten, dass Muße entsteht. Er würde sich das Leben erleichtern, wenn er realisierte, dass Vorstellungen Seele und Leib zum Guten wie zum Schlechten beeinflussen. Das wäre der imaginative Weg in die Muße. Die Aktivierung positiver Gedanken und Stimmungen ent­lastet und kann selbst unter ungünstigen Bedingungen zur Muße führen.

 

Zu bedenken wäre auch die Förderung positiver Stimmungen durch Genuss. Zum Genuss gehört Zeit, damit der angenehme Sinnesreiz, den er bereitet, die Freude entwickeln kann. Genuss berührt den Menschen in seinem Wesen. Um aber zu verstehen, welcher Sinnesreiz einem Genuss bereitet, muss man wissen, dass Erziehung, Religion und Kultur das verdecken können, was einem gut tut. Deshalb muss man seine Sinne entfalten und seine Genussfähigkeit verbessern, deren Ausbildung in hohem Maße Arbeit an der persönlichen Reife ist. Das wäre der sinnlich-emotionale Weg in die Muße.

 

Endlich könnte der Mensch den humorvollen Weg in die Muße einschlagen. Er könnte dazu seine humorvolle Qualität prüfen, beleben und ver­bessern. Humor ist eine Lebenseinstellung der Reife, in der die Widrigkeit des Seins – die Dissonanz zwischen Ideal und Wirklichkeit – nicht nur gelassen ertragen, sondern in ihr eine vergnügliche Komponente gesehen wird. Wozu auch Kritik gehört. Humor ist gesund, verlängert das Leben und war schon den Griechen die richtige Mischung der Temperamente. Humor ist ein Hauptelement der Muße. Er entspannt, reizt zum Lachen, fördert das Selbstbewusstsein, macht großzügig und gelassen und nimmt Welt und Menschen, wie sie sind.

 

 

 

 

Anmerkungen

 

1. Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, S. 108f.

2. Kant, Immanuel: Träume eines Geistersehers. In: Werke in 12 Bänden, Frankfurt/M. 1977, Bd. 2, S. 931.

3. Kant, Immanuel: Opus postumum II. In: Kant’s gesammelte Werke, Berlin 1910ff, Bd. XXII, S. 388,1.

4. Eickhoff, Hajo: Vergleichende Anatomie. Nietzsche trifft Kant in Schopenhauer. In: Bernet, Simone (Hg.), Kant Nietzsche gewidmet, Berlin 2006.

5. Höffe, Otfried: Immanuel Kant, München 2004, S. 42.




© Hajo Eickhoff 2007





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