aus: Dederich, M./ Zirfas, J. (Hrsg.). Optimierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2024
Sicherheit
abstract
Das Prinzip des Verbindens und Stabilisierens scheint universell zu sein. Das Weltall zeigt das in seinen unentwegten physikalischen und chemischen Prozessen. Verbindungen aus Elementen sind stabiler als ihre Einzelelemente. Was sich verbunden hat, erscheint wie automatisch gesichert. Das gilt auch für biologische Vorgänge. Die Menschen setzen diese Prozesse mit den Mitteln der Kultur fort. Sie behandeln Dinge und Prozesse unter den Begriffen Optimierung und Sicherheit. Optimieren ist das Suchen nach Lösungen für eine gestellte Aufgabe und ihre Realisierung, sowie ihre Sicherung gegen Veränderungen. Moderne Kulturen haben das Problem der Sicherheit bisher nicht lösen können, weil sie sich vor allem auf die Optimierung und Sicherung begrenzter technischer Probleme fokussieren, während sie, auf das Ganze bezogen, die Menschheit vor Abgründe gestellt haben, die sie nun zu umgehen versuchen.
1. Sicherheitskultur und Optimierung
Es gibt keine Sicherheit. Nirgends. Für nichts und niemanden. Etymologisch betrachtet kommt das Wort in vielen romanischen Sprachen und im Deutschen nicht vor. Nur als Negation. Das lateinische Grundwort für Sicherheit cura bedeutet Sorge, doch erst seine Negation securus ergibt die Bedeutung sicher – ohne Sorge: lat. se-curus, ahd. si-chur, nhd. si-cher, aengl. si-cor, niederl. ze-ker.
Sicherheit bezeichnet Zustände im Hinblick auf ihr Beharrungsvermögen. Sie kann sich auf Dinge, Menschen und Prozesse wie Arbeiten, Bergsteigen und Reisen beziehen. Sicher sind Zustände, die sich nicht verändern.
Formen der Optimierung und Sicherheit gibt es bereits vor der Entstehung des Menschen und sogar des Lebens. Es gibt sie als physikalische, chemische, biologische und kulturelle Formen. Dazu aber bedarf es kultur- und zugleich naturwissenschaftlicher Analysen und Vergleiche.
Westliche Kulturen sind Sicherheitskulturen. Sie wollen Risiken und Gefahren vermeiden. In ihnen soll alles überwacht und versichert sein, damit das, was ist, bleibt – oder besser wird. Besitz wird durch Tresore bewahrt, Kunstwerke werden durch Copyrights geschützt, Websites durch TLS-Zertifikate verschlüsselt, Identitäten durch Sicherheitspersonal geprüft. Alles kann Objekt der Sicherung werden: Dinge, Kunst, Besitz und Menschen (vgl. Eickhoff 2015, S. 13).
Nach den physischen Bedürfnissen Nahrung und Wasser ist im Maslowschen Bedürfnis-Schema Sicherheit das stärkste Bedürfnis der Menschen. Darunter fallen Geborgenheit, Angstfreiheit, Ordnung und Schutz, auch Mythen und Religion und die Bevorzugung des Bekannten vor dem Unbekannten. Ebenso sind Weltanschauungen, Traditionen und Gewohnheiten Formen der Sicherheit.
Biologische, soziale, psychische, wirtschaftliche und kulturelle Sicherheit schaffen unterschiedliche Formen von Immunität. Biologische Sicherheit bietet das Immunsystem gegen innere und äußere Angreifer, psychische Sicherheit bedeutet Vertrauen haben und soziale Sicherheit Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Wirtschaftliche Sicherheit ist das langfristige Garantieren von Grundbedürfnissen und kulturelle Sicherheit bedeutet Frieden.
Wie potenziell unsicher das Leben der Menschen durch Menschen ist, zeigen Militärparaden mit ihrem gewaltigen Arsenal an Waffen und Soldaten, die Existenz der Atombombe, terroristische Aktivitäten und diktatorische Staaten. Ständig kommen neue Gefahren hinzu, für die neue Sicherheitsverfahren entwickelt werden wie die IT-Sicherheit. Wer online ist, ist Cyberangriffen ausgesetzt, die enorme Schäden anrichten können, bis zur Handlungsunfähigkeit von Unternehmen und Regierungen. Operationen im Krieg können drohnenunterstützt von außerhalb des Kriegsgeschehens ohne Präsenz von Soldaten ausgeführt werden.
Doch das Leben auf der Erde war auch ohne Menschen stets unsicher. Jederzeit konnte Leben ausgelöscht werden durch astronomische Ereignisse wie Meteoriteneinschläge oder Änderungen in der chemischen Balance der Atmosphäre, durch Vulkanausbrüche, Wandel des Klimas oder durch Viren und Bakterien.
Westliche Kulturen sind aber auch Optimierungskulturen. Optimierung ist eine Maßnahme zur Verbesserung eines gegebenen Zustandes auf ein vorgegebenes Ziel hin. Sie gilt als bestmögliche Lösung für eine Aufgabe unter Beachtung wichtiger Bedingungen. Gebrauchsgüter, Werkzeuge, Skifahren und Klavierspielen lassen sich optimieren. Menschen sind Visionäre und haben Vorstellungen von Dingen und Vorgängen, und davon, wie sie sie verbessern können. Selbst Sicherheit muss von Zeit zu Zeit optimiert werden: Stärker werdende Unwetter fordern einen besseren Umgang mit der Umwelt und Benutzerzugänge sind mit einer Zwei-Faktor-Authentifizierung sicherer.
2. Kosmisches Sein – kreisen, kollidieren, einstürzen, driften
Was ist, soll bleiben. Sein Dasein sichern. Oder verbessern. Das gilt für Phänomene der Physik und der Chemie, der Biologie und der Kultur. Bezieht man Optimierung und Sicherheit also nicht allein auf Absichten der Menschen, zeigen sich bereits im Weltall und vor dem Beginn irdischen Lebens vergleichbare Vorgänge, denn alles bewegt sich auf energetisch stabile, das heißt sichere Zustände zu.
Das Weltall ist Potenzialität. Ein unablässiges Werden und Verändern. Ein ewiges Driften. Nichts kann an einem Ort bleiben. Physikalische und chemische Phänomene erscheinen konstruktiv wie destruktiv. Destruktiv, weil Meteoriten die Erde trafen und Leben auslöschten, Sonnen explodieren oder schwarze Löcher alles verschlingen, konstruktiv, weil die Erde und das Leben entstanden und weil Systeme wie Atomkerne, Atome oder Moleküle stabil sind und durch eine Bindungsenergie zusammengehalten werden. Diese Energie macht sie relativ sicher gegen Veränderungen. Physikalisch und chemisch sind Verbindungen stabiler, sicherer als ihre Einzelteile.
Auch die Schöpfung im christlichen Bericht ist Potenzialität. Gott sah am Ende eines jeden Tages, dass seine Schöpfung gut war, doch im Blick auf das Resultat aller Tage sah er, dass sie sehr gut war. Das Ganze erschien besser als seine Teile, optimaler, vollkommener. Als aber Gott erkannte, dass die Geschöpfe nicht vollkommen waren, strafte er sie mit der Sintflut. Noah, der Vollkommene, rettete die Schöpfung, die durch die Sintflut eine neue Chance bekam (vgl. Erbele-Küster 2021, S. 156).
3. Irdisches Sein – Leben optimieren und sicher machen
Leben ist Bewegen und Austauschen. Es muss sich behaupten und absichern. Anorganische Moleküle verbanden sich zu organischen Molekülen, aus denen die Grundbausteine des Lebens wie Aminosäuren, Nukleinsäure und die DNA hervorgingen. Die weitere chemische Evolution brachte Moleküle hervor, die des Stoffwechsels, der Reizbarkeit und der Fortpflanzung fähig waren.
Einzeller sind die ersten Lebensformen. Ungesichert lag die DNA im Zytoplasma, bis sie andere Zellen oder Zellelemente in sich hereinholten und zu Zellorganen machten, etwa zum Zellkern, der nun die DNA einfasste und sicherte. Einzeller schlossen sich zu Mehrzellern zusammen und erlangten dadurch Evolutionsvorteile, weil sie im Verband sicherer lebten. Das macht deutlich, dass Leben bereits auf Zellebene Konkurrenz kennt. Emanuele Coccia spricht im Kontext der nichtmenschlichen Zusammenhänge vom Krieg als einem sozialen Phänomen. „Der Krieg ist das soziale Band, das es der nichtmenschlichen Gesellschaft ermöglicht, sich zu verbessern und auszubreiten“ (Coccia 2018, S. 152). Tatsächlich entwickelten und differenzierten sich die Mehrzeller im Konkurrenzkampf, lernten, speicherten das Erlernte und entwickelten eine unendliche Vielfalt an Lebensformen. Dass die gut an die Umgebung angepassten Formen überlebten, kann als ein Prinzip der Optimierung und Absicherung gedeutet werden.
Mit wachsender Komplexität der Lebewesen hat sich das Zentralorgan Gehirn entwickelt. Lebewesen mit einem wenig komplexen Gehirn passen sich nur bedingt Umweltveränderungen an und sind daher als Art gefährdet, auszusterben, mit komplexem Gehirn passen sie sich neuen Bedingungen besser an und sichern ihre Art. Die Menschen haben ein so optimal ausgestattetes Gehirn, dass ihr Dasein einen hohen Sicherheitsgrad aufweist.
Doch nicht alle Arten drängen nach Verbesserung. Lebewesen wie Bakterien arbeiten nach Jahrmilliarden alten Mustern. Cyano-Bakterien haben die Fotosynthese erfunden und den dabei entstehenden Sauerstoff in die Atmosphäre gebracht. Noch heute erzeugen sie den größten Anteil an Sauerstoff in der Atmosphäre. In ihrer Art sind viele Bakterien vollkommen. Dagegen entwickelten sich Wirbeltiere vom Fisch über Amphibien, Reptilien und Vögeln zu den Säugetieren: eine Entwicklung von der Horizontalen des Fisches zur Vertikalen des Menschen, und hin zur Ausstattung mit einem vielgestaltigen Steuerungs- und Erkenntnisorgan. Diese Optimierung ermöglicht es den Menschen, alle Lebewesen zu beherrschen und die eigene Art biologisch zu festigen.
4. Sichern von Kultur
Bei Menschen sind Reiz und Reaktion entkoppelt. Sie können innehalten und Absichten hegen, müssen nicht auf Reize antworten und können dadurch ihrem Leben eine eigene Form geben. Ihre geschickten Hände, Verstand, Gedächtnis und Bewusstsein sorgten von Anbeginn an für ständige Erweiterungen ihres Wissens und ihrer Fertigkeiten, die sie auf nachfolgende Generationen übertrugen. Sie entdeckten das Feuer, stellten einfache Werkzeuge her und ernährten sich von dem, was sich ihnen bot.
Ein Einschnitt im Verbesserungsprozess war die Sesshaftwerdung. Vor etwa zwölftausend Jahren hielten die ersten Menschen an und gaben ihr Dasein als Jäger und Sammler auf. Sie bauten Häuser und betrieben Ackerbau und Tierhaltung, was ein biologischer, sozialer, geistiger und ökonomischer Vorgang war, dem eine Revolutionierung der Lebensweise folgte: Im engeren Sinn entstand Kultur – als Bodenpflege (culturare). Es begann die Lebensmittelproduktion und eine immense Produktion von Dingen wie Gebrauchsgütern, Werkzeugen und Materialien für Häuser, Wege und Vorratslager.
Produktionsüberschüsse wurden für den Handel genutzt, der Handelswege und Märkte entstehen ließ. Da aufgrund einer regelmäßigen Ernte, des gesicherten Fleischvorrats und des Handels die Bevölkerung wuchs und sich der Wohlstand steigerte, war die Sesshaftwerdung eine ökonomische Optimierung.
Der fixe Ort des Hauses, der Besitz und der Reichtum machte es möglich, die Region um das Haus herum zu erkunden und den Einflussbereich auszuweiten. Mit der Sesshaftwerdung brach die Besiedelung der Erde an und mit ihr eine beständige Dezimierung der Humusschicht.
5. Erweitern und Absichern des Wissens
Wissen beginnt mit Einzellern. Amöben erkennen sich wechselseitig als Beute und Jäger. Eine Amöbenerkenntnis. Schließen sich Einzeller zu Vielzellern zusammen, weitet und verfeinert sich ihr Wissen dadurch, dass alle Zellen miteinander im Austausch stehen und ihre einzelnen und kollektiven Erfahrungen speichern. Trotz der Entwicklung des Gehirns und der Bildung eines Bewusstseins bleibt ein Teil des Wissens unbewusst, denn die inneren Strukturen arbeiten autonom. Dennoch ist die Ausbildung des Bewusstseins ein Optimierungsvorgang, der durch die Sprache des Menschen gefördert und gesichert wird.
Wissenschaft ist eine Fortsetzung der Optimierung persönlichen Wissens. Sie beginnt mit allgemeinen Betrachtungen dessen, was als Welt erscheint – das ist die Philosophie. Daraus sind nach und nach die Einzelwissenschaften hervorgegangen, etwa, wenn sich ein Wissensbereich so vertieft und geweitet hatte, dass er den Rahmen der Philosophie sprengte. Zwar findet der Wissensfortschritt sowohl an geistigen wie an materiellen Phänomenen statt, doch der Fortschritt des Wissens und der Gesellschaft wird vornehmlich am Stand der Technologie und der Naturwissenschaften bemessen. Es geht dabei eher um die ökonomische Verwertbarkeit oder die Naturbeherrschung als um das gute Leben. Die großen Fördergelder werden für Projekte vergeben, denen eine praktische, also technische Relevanz zugesprochen wird, und Geisteswissenschaftler werden nur selten zu brisanten Fragen der Zeit und der Zukunft konsultiert. Dabei würde das Wissen über Ressourcenknappheit oder Klimawandel längst ausreichen, um Vorbereitungen zu treffen, die Menschen vor den auf sie zukommenden Gefahren in Sicherheit zu bringen.
6. Optimierungsprozess Arbeit –
Jagd, Ackerbau, Handwerk, Fließbandarbeit
Die Sesshaftwerdung machte Jäger und Sammler zu Bauern. Aus dem Bauernstand entwickelten sich Handwerker und Händler, die sich bald vom Land absetzten und im fruchtbaren Halbmond Städte gründeten. Als Ausdruck gewachsener Prosperität entstanden die ersten Großreiche. Den Höhepunkt bildete das Römische Reich, dessen gesamtes Gebiet auf einem rechtwinkligen Straßenraster gründete und den Transport von Waren, Waffen und Menschen optimierte. Als sich christliche Nonnen und Mönche in die Einöde begaben und die Güter ihres Lebens effizient produzierten, prosperierten die Klöster. Die Insassen arbeiteten unaufhörlich und konsumierten wenig, so dass sie um die Klöster herum mit Händlern und Bauern Märkte etablierten, und Klöster zu großen Wirtschaftszentren machten. Im 13. Jahrhundert hatten sich auch Handel und Handwerk in europäischen Städten so weit entwickelt, dass Banken Großprojekte wie das Verschiffen von Waren ermöglichen mussten. Vor allem aber etablierten sich Versicherungen, um die Risiken von Handelsunternehmungen zu begrenzen.
In der Epoche der Renaissance wandelte sich das Handwerk zur Manufaktur und im 19. Jahrhundert zur Industrie. In der Zeit galten Menschen als Wesen, die sich erst zu dem entwickeln mussten, was sie sein könnten. Das Individuum galt als frei, war aber zur Selbstverbesserung mittels Bildung und Übung aufgerufen. Es war frei auch für den Arbeitsmarkt. Es war diese Freiheit, die Kapitalisten und Unternehmer interessierte, denn sie strebten nach permanenter Verbesserung der Produktion und der Produkte. Die Geschichte der Arbeit ist eine Geschichte zunehmender Arbeitsteilung. Berufe spezialisierten sich und innerhalb der Berufe wurden Arbeitsschritte immer kleinteiliger, bis Maschinen eingesetzt werden konnten. Es war gerade die Arbeitsteilung, die die Arbeit optimierte. Die Maschinen und Apparate mit ihrer Geschwindigkeit, Ausdauer und Präzision und dem Ausstoß immenser Warenmengen wurden zu Idolen, die das Alltagsleben veränderten, das zugleich beeinflusst wurde durch die, Tag für Tag immer gleiche, monotone, entfremdete und leere Arbeit. Das Leben selbst wurde fremd und leer, und es blieb eine Ambivalenz von Bewunderung und Leere, die weder Geborgenheit noch Sicherheit gab.
Wachstum, Beschleunigung und Optimierung schritten in allen Lebensbereichen voran auf Kosten von Rohstoffen. Die Erde wurde zu einem bloßen Objekt, dem man beliebig Material entnehmen und unauflösbare Stoffe als Abfall zurückgeben konnte. Die Produkte der Digitalisierung haben den Trend fortgesetzt. Die Entfremdung bei der Arbeit wurde zu einem existenziellen Gefühl der Fremdheit, so dass Menschen auch ihrer Umwelt fremd, aber auch gleichgültig gegenüberstanden. Es ist dieses Erstaunen, dass in einer Krise plötzlich diese immense Technosphäre wahrnehmbar wird. Diese Masse aller von Menschen hergestellten Produkte, die größer ist als die Masse aller lebenden Wesen. „Während die Biomasse durch Entwaldung und Zerstörung von Böden und Meeren und Artensterben weiter sinkt, wächst die menschengemachte Masse immer schneller an“ (Welzer 2021, S. 12). Die Bedrohung des Lebendigen zeigt, dass unaufhörliches Optimieren im Sinne einer Kapitalisierung nicht zur Sicherheit führt, denn stetes Wachstum bei begrenzten Ressourcen muss aus logischen wie aus sachlichen Gründen an seine Grenzen kommen und schließlich auch scheitern.
7. Optimierungskultur und Sicherheit
7.1 Optimierungspotenzial Enhancement
Enhancement dient der Optimierung verbesserungswürdiger Eigenschaften von Menschen. Für mehr Leistung und mehr Schönheit erschöpfen sie sich im Sport oder nehmen Dopingmittel, lassen sich durch Psychopharmaka stimulieren, nehmen bei Prüfungen Ritalin oder werden chirurgisch in Form gebracht. Hinter solchen Selbstoptimierungen von Körper und Geist stecken die Optimierung der Persönlichkeit sowie das Bemühen, der systematischen Optimierung des Alltagslebens standhalten zu können (vgl. Rosa 2013, S. 550).
Beim Neuro-Enhancement sind es gesunde Menschen, die durch pharmakologische und technische Eingriffe ins Gehirn optimiert werden, die sie zu posthumanen Menschen machen. Für Nick Bostrom ist ein geistig und leiblich vollkommen gesunder, produktiver Mensch, der rasch und präzise Schlüsse zieht, der über ein gutes Erinnerungsvermögen verfügt und das Leben genießt und angemessen auf Situationen reagiert, bereits ein posthumaner Mensch, da diese Eigenschaften nur durch Sonden oder Micro-Chips zu erreichen sind, also durch Neuro-Enhancement (vgl. Bostrom 2018, S. 146-147). Weder das Individuum noch die Spezies Mensch sind vor der modernen Technik sicher.
7.2 Schattenseiten menschlicher Optimierung
Die Technosphäre ist ein Bild des Wachstumsmythos moderner Gesellschaften und hält Schattenseiten der permanenten Optimierungsprozesse bereit: Optimierung und Sicherheit verfehlen ihre Ziele auch aufgrund nichtintendierter Nebeneffekte: Das Roden des Bodens zerstört den Humus, das Abholzen der Wälder mindert den Sauerstoff in der Atmosphäre, durch Plastikmüll in den Meeren nehmen Fische Mikroplastik auf, die ihn in viele Lebensformen hineinbringen, radioaktive Stoffe bleiben für Hunderttausende von Jahren eine Gefahr, das Schmelzen der Gletscher und die Veränderung des Klimas lassen Meere ansteigen, während Wetterkatastrophen sich immer häufiger ereignen. Und Weltraumschrott überhandnimmt: Tausende Satelliten und über hundert Millionen Schrottsplitter kreisen um die Erde und bedrohen das Leben.
7.3 Sicherheits- und Optimierungspersönlichkeit
Seit 200 Jahren ersetzen Maschinen und Apparate Menschen. Präzise, schnell und ausdauernd sind sie Konkurrenten geworden für Menschen, die im Zuge der systematischen Verbesserungen und der Beschleunigung von Prozessen nun auch untereinander stärkere Konkurrenten geworden sind – eine Basis für Selbstoptimierung. Dennoch ist es den auf Optimierung und Sicherheit ausgerichteten Gesellschaften bisher nicht gelungen, Katastrophen zu vermeiden: Wetterkapriolen, Überschwemmungen, Gletscherschmelzen, Pandemien und im Jahr 2022 der Beginn eines Krieges in Europa bereiten Sorgen und Angst, dämpfen Optimismus und schüren Hass in kommerziellen sozialen Medien und Gewalt auf der Straße. Solche Krisenzeiten haben Gesellschaften politisch und sozial polarisiert und viele Menschen verunsichert und krank gemacht, und erzeugen mehr und mehr Angst vor sozialem und ökonomischem Abstieg. Es ist die Erschöpfung durch den permanenten Optimierungszwang, die es möglich macht, dass Menschen gedankenlos an der Ausbeutung der Tier- und Pflanzenwelt sowie der Menschheit mitwirken. Kognitiv und emotional überfordert verlieren viele das Gefühl der Sicherheit.
8. Nichtstun, Liegenlassen, Aufschieben
Die Optimierung des Lebens hat viel Gutes in die Welt getragen. In Detailbereichen des Lebens ist vieles besser und sicherer geworden: weniger Verkehrstote und mehr Meinungsfreiheit, weniger Analphabetismus, ein Zurückgehen der Kindersterblichkeit, ein Ausbau der Frauenrechte und eine geringere Kriminalität. Ein Smartphone ist ein Medium, das Dutzende Werkzeuge und Funktionen in einem einzigen Gerät vereint. Es hat einen langen Weg der Optimierung hinter sich, birgt in sich Geräte wie Kamera, Computer und Telefon, erleichtert und beschleunigt viele Funktionen und spart enorm an Material. Andererseits hat es auf seinem Weg durch den Verbrauch vieler Zwischenprodukte enorme Ressourcen verbraucht.
Dagegen fällt auf das Ganze bezogen die Bilanz für die Sicherheit durch das unablässige Optimieren nüchterner aus. Das Sterben von Tier- und Pflanzenarten ist immens, viele Menschen werden durch den Klimawandel ihre Wohnräume verlieren, und nicht einmal die Art Homo sapiens scheint gesichert.
Ein Großteil gegenwärtiger Krisen ist menschengemacht, daher kann man vermuten, dass Menschen diese auch beseitigen oder mindern könnten. Dazu müssten sie aber rasch kluge politische und nachhaltige Maßnahmen ergreifen: Sie müssten den Irrweg von Wachstum, Effizienz und Verbesserungszwang verlassen, dürften nicht die ungleiche Verteilung der Ressourcen geopolitisch ausnutzen und müssten vom unerbittlichen Wettbewerb der Personen, Unternehmen und Staaten lassen. Da die Spezies Mensch dadurch entstand, dass sich bei ihr Reiz und Reaktion trennten und sie das Vermögen gewannen, innezuhalten, könnten sie das nun bewusst tun, indem Sie die Reize prüfen, bevor sie reagieren. Sie könnten Reaktionen aufschieben und fragen, welchen Gewinn eine Reaktion für die gefährdete Welt bringt.
Ein politisches und nachhaltiges Handeln wäre danach ein Handeln, dass aus der Ruhe und kritischen Reflexion erfolgt. Es kann mit der Konvention brechen oder notwendige Perspektiven eröffnen, und eine wirkliche Verbesserung wäre ein Bruch mit den bisherigen Optimierungspraktiken. Jenny Odell spricht vom Nichtstun als einer Entprogrammierung und als einer „Stärkung für diejenigen, die sich zu zerfahren fühlen, um sinnvoll zu handeln“ (Odell 2021, S. 51). So könnten Ruhe, kritische Reflexion und Konventionsbruch eine neue Form der Selbstoptimierung sein, die Wege zurück zu sich und zu den Fragen führen, was im Leben wirklich wichtig ist, wofür wir auf der Welt sind oder sein wollen.
Soll das Gute, das in den Optimierungsbestrebungen im Laufe der Jahrtausende entstand, beibehalten und entwickelt werden, ohne das Dasein der Lebewesen auf der Erde zu gefährden, muss die Wirtschaft in Kreisläufe gebracht und gehalten werden. Die Kreislaufwirtschaft ist die einzige Form der Produktion, die langfristig sicher ist. Dazu müssen die Produkte so hergestellt werden, dass sie kreislauffähig sind und bleiben. Zudem: Wechselseitiges Vertrauen erweist sich als sicherste Form der Kommunikation von Personen und Gesellschaften, das hierarchiefreie kreisläufige Verhältnis der Geschlechter als die sicherste Form der Machtverteilung, und Teilnahme der sicherste Kreislauf von Respekt und Anerkennung.
Wir brauchen ein Bewusstsein vom Einfachen. Das sind notwendige Lebensgründe: worauf (Boden), worin (Atmosphäre) und mit wem (Pflanzen, Tiere und Menschen) wir leben. Es geht um das Naheliegende – um dasjenige, das durch Wettbewerb, Optimierung und Sicherheitszwänge verdeckt wird. Diese Gründe auch sinnlich wahrnehmbar und ihre Bedeutung und Schönheit erkennbar zu machen sowie ihren Erhalt zu pflegen ist eine globale, gesellschaftliche und persönliche Aufgabe, die in eine bessere Zukunft führen könnte.
Literatur
Bostrom, Nick. 2018. Die Zukunft der Menschheit. Berlin: Suhrkamp.
Coccia, Emanuele. (2018). Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung. München: Carl Hanser Verlag.
Eickhoff, Hajo. 2015. Unsicherheitsabsorption und Resilienz. Strategien zur Bewältigung von Unsicherheit. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 24/1, S. 13-25.
Erbele-Küster, Dorothea. 2021. „Und siehe – es ist sehr gut“ (Genesis 1,31). Eine ästhetisch-ethische Vision und ihre Aussagekraft angesichts des Imperfekten und der Korrumpiertheit. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 30/1, S. 150-159.
Odell, Jenny. 2021. Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. München: C.H.Beck.
Rosa, Hartmut. 2013. Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp.
Welzer, Harald. 2021. Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. Berlin: S. Fischer.
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