Kontakt
555-555-5555
mymail@mailservice.com


aus: Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München Wien 1993

 


Samuel Beckett und das Sitzen

 


„Eines Tages ... Du wirst irgendwo sitzen, ganz winzig, verloren im Leeren, für immer im Finstern. Wie ich. Eines Tages wirst du dir sagen: Ich bin müde, ich setze mich, und du wirst dich setzen. Dann wirst du dir sagen: Ich habe Hunger, ich steh jetzt auf und mach mir was zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen. Du wirst dir sagen: Ich hätte mich nicht setzen sollen, aber da ich mich gesetzt habe, bleibe ich noch ein wenig sitzen, dann steh ich auf und mach mir was zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen.“ Samuel Beckett

Den inneren Kämpfen des sitzenden Individuums liegen drei Motive zugrunde: individuelle, gesellschaftliche und auf die Gattung bezogene. Schopenhauer und anderen ist Leben Kampf und Leiden, das dem Mangel entspringt. Die Behauptung Schopenhauers, die auch Samuel Beckett teilt, nährt sich vom Gesetz, jedes Tier diene einem anderen zur Beute und Nahrung. Und seit langem hegt der christlich-abendländische Mensch die Hoffnung, animalische und an die Natur angepaßte Daseinsformen, insbesondere das Beutewerden, überwinden zu können, und zwingt mit einem gemeinschaftlichen Wollen die Individuen im Stuhl auf den Weg der Vergesellschaftung. Der Individualwille kann sich hiergegen behaupten, wenn er gesellschaftliche Züge und entsprechende physische und psychische Dispositionen annimmt. Die Gemeinschaft legt den Individuen durch das Sitzen ein zusätzliches Leiden auf, von dem sich diese befreien, wenn sie als Individuen willenlos werden. Da gerade das Sitzen willenlos macht, muß sich das Individuum paradoxerweise setzen, um dem von der Gesellschaft auferlegten Leiden durch das Sitzen zu entgehen. Das Individuum entgeht also den Nachstellungen durch die Gesellschaft, wenn es das eigene Wollen aufgibt und sich dem gesellschaftlichen Wollen, dem Sitzzwang beugt. Am Ende steht die Identifikation mit dem Aggressor. Der gesellschaftliche Gesamtwille findet im sitzenden Individuum, das sich zum Homo sedativus gewandelt hat, die Erfüllung seiner Aufgabe, der Individualwille seine existentielle Grenze.

Beckett thematisiert das Sitzen implizit, das Sitzen von der Seite der Literatur. Er veranschaulicht es in der Unbewegtheit und treibt Schopenhauers Die­ale eines sedativen Lebens den fortgeschrittenen Verhältnissen angemessen weiter und stellt sie deutlicher dar. In seinem Werk hat er gegenwärtige und überhistorische Elemente vereint, die sich scheinbar widersprechen. Viele Interpreten gehen davon aus, daß die Resignation des heutigen Menschen und dessen Zugerichtetheit in Vordergrund des Beckettschen Werkes stehen. Allerdings verrät Beckett in seinem Proust-Essay eine Nähe zum Gedanken Schopenhauers. das Leben sei ein Pendel zwischen Leiden und Langeweile. Und wie für Schopenhauer verdanken sich Leiden und Langeweile dem im Leben mitgegebenen Leiden aller Kreatur. Leben heißt Leiden, in weicher Form und unter welchen Bedingungen auch immer. Der Pessimismus Becketts wurzelt im Anthropologischen, nicht im Zufälligen der Gegenwart. Leiden ist das Wesen des Daseins und Langeweile dessen humane Variante.

In der Hauptfigur des ersten Romans von Beckett, Murphy, der die Gewohnheiten des bürgerlichen Berufs- und Ehelebens nicht erträgt, laufen die Verhaltensweisen und Denkmuster auseinander, die ein an die Gesellschaft angepaßtes Leben mit sich bringt. Murphy lebt mit einer Prostituierten zusammen, verläßt sie, nimmt Arbeit in einer Irrenanstalt an und kommt dort bei einem Brand ums Leben.

Zu Beginn des Romans sitzt Murphy nackt auf einem Schaukelstuhl, an den er sich mit sieben Schals bindet. „Zwei fesselten die Schienbeine an die Stuhlkufen, einer seine Oberschenkel an den Sitz, zwei die Brust und den Bauch an die Rückenlehne und einer seine Handgelenke an die hintere Querstange. Es waren nur äußerst begrenzte örtliche Bewegungen möglich. Schweiß brach ihm aus allen Poren und straffte die Gurte. Sein Atem war nicht wahrnehmbar.“

Zwar sitzt er festgeschnürt auf seinem Schaukelstuhl, aber es macht ihm Spaß. Zunächst bereitet es seinem Körper, den es beruhigt, Freude, „dann befreite es ihn auch in seinem Geiste. Denn erst wenn sein Körper beruhigt war, konnte er beginnen, in seinem Geist zu leben.“ Murphy sitzt gefesselt in seinem Stuhl, den er bis zum äußersten ins Schaukeln bringt. Danach ruht er aus und gleitet aus der Welt, in der quid pro quo feilgeboten wird, und versinkt in eine kleinere Welt, in der man das quid pro quo vergeblich sucht. Die kleine Welt, ein geistiger Raum, bildet das Ziel der Prozedur des Fesselns, Schaukelns und Sitzens.

 

Quid pro quo ist ein Vertauschen, das Verwechseln einer Sache mit einer anderen. Für Murphy erweist sich die Welt, die den Wahrnehmungsformen Raum und Zeit unterliegt und die der üblichen Wahrnehmung wahr erscheint, als eine Welt des Trugs. Er möchte sie mit Hilfe des Schaukelstuhls gegen eine Welt des Geistes, eine von den Anschauungsformen des Verstandes freie Welt ohne quid pro quo eintauschen. Der Gewinn der Freiheit besteht im Ablösen des Geistes von den Zudringlichkeiten der Sensationen und Reflexionen, so daß Murphy sich geistig frei und lebendig zu fühlen beginnt, wenn er sich körperlich auflöst. Während die meisten Patienten der Irrenanstalt ihn als ihresgleichen ansehen, erwecken sie in ihm »den Eindruck jener in sich selbst versunkenen Gleichgültigkeit gegenüber den Zufälligkeiten der zufälligen Welt“. Murphy vermutet, daß sie das erleben, was er für sich selbst als einziges Glück erkoren, aber selten erreicht hat. Der Gewinn einer spirituellen Welt im Schaukelstuhl. Während ihm die Heilbehandlung den Zweck zu haben schien, den Patienten wieder einen Zugang zur Welt zu verschaffen und den Abgrund zum Realen zu überbrücken, strebt Murphy umgekehrt an, sich von der Realität abzulösen. Und was die Psychiater Exil nennen, sieht er als ein Heiligtum an, und ihm scheint, als sei der Messias bei der Wiedererweckung des Lazarus »vielleicht ein einziges Mal zu weit gegangen“.

 

Im Roman Myrphy hat Beckett Körper, Geist und Sitzen eng aufeinander bezogen. Murphy sitzt nicht nur auf dem Schaukelstuhl, er sitzt dort festgeschnürt. Da das lange Sitzen der Entspannung durch Bewegung bedarf, Beckett aber gerade darauf abzielt, die Unbewegtheit des Menschen darzustellen, fixiert er Murphy nicht nur in der Sitzhaltung, sondern gesteht ihm eben nur isometrische Anspannungen der Muskulatur zu. Die sich im statischen Spannen der Muskeln sammelnde Energie kann nicht ausagiert, sondern nur unbewegt ausgepreßt werden. Aber isometrisch beanspruchte Muskeln ermüden rasch und werden bei Dauerbelastung so geschädigt, daß Umfang und Dynamik körperlicher Bewegungen beeinträchtigt werden. Das Zusammenbinden der Hände hinter dem Stuhlrücken schränkt die Atemtätigkeit ein und unterstützt darin die Wirkung der Schals, die infolge der Einschnürung von Brust und Bauch ebenfalls die Atmung reduzieren. Murphys Bewegungsspielräume sind gering, und er bedarf ausgleichender Bewegungen, die er sich im Schaukeln verschaffen muß. So hat der Schaukelstuhl die Aufgabe, die in den Haltespannungen nicht verausgabte Energie abzuführen, ohne die Sitzhaltung aufgeben zu lassen.

Beckett richtet seine Gestalt von zwei Seiten her zu. Die isometrische Anspannung schwächt die Skelettmuskulatur und führt zu einem gebrechlichen Gehen und Stehen, das durch das Sitzen infolge der Muskelverspannung und der Formung des Atmens zusätzlich erhöht wird. Beckett zeigt hier, wie der Mensch im Sitzen seine Beweglichkeit behindert, die sich allmählich zur Unbewegtheit festigt. In der zweiseitigen Zurichtung wird das Sitzen mehr und mehr zum Bedürfnis, und die Fähigkeit, ausdauernd zu sitzen, wächst. In der Transsubstantiation des Leibs in einen Körper, im Freimachen des Geistes von leiblichen Vorgängen, in der Kontrolle der Empfindungen sowie im Abbau möglicher sinnlicher Reaktionen und Regungen, in den Ab und Weg vom Leib liegen die Mittel zu einem höheren Zweck, im Heraus und Heraufarbeiten geistiger Zustände aus den Brunnen des Leibs. Es ist der Weg zu einer Form innerer Anschauungen, zu einer leiblosen, bloß körperhaften Geistigkeit. Es ist der Weg zu einer willenlosen und nicht an die Gewohnheit gebundenen Existenz. Im Glauben daran, dass solche Formungen möglich sind, erweist sich Beckett zur Zeit des ersten Romans als optimistisch. Er nimmt an, daß sich Sinnlichkeit und leibliche Funktionen so weit formen lassen, daß der Körper nur noch die Impulse und Bedürfnisse entläßt, die mit Willen und Vernunft übereinstimmen.

Daß Murphy das Wollen ausschalten kann, wenn er in seine kleine Welt eintaucht, verdankt er dem zuvor an seinem Leib inszenierten und vollstreckten Martyrium. Sein Leib wird gepreßt und fixiert, gestaucht, geschnürt und verhärtet. Beckett unterwirft ihn einer asketischen Prozedur, die eine Geistigkeit herstellt, die sich mit seiner Stimmung deckt. Der Geist hinter den martialischen Übungen stimmt mit den lebens- und leibverneinenden Idealen der protestantisch-christlichen Religiosität überein.

Es ist der Stuhl, der den Romanhelden aus einer trügerischen und unfreien in eine geistige Welt schaukelt. Im Roman erfüllt er zwei Funktionen. Er soll Menschen sitzend zeigen, um die Unbewegtheit anschaulich zu machen, und er soll entfesseln und frei machen. Beide Funktionen überlagern sich, widersprechen sich aber nur scheinbar. Der Stuhl dient Beckett zur Veranschaulichung der Unbewegtheit, eines Zustands mit hohem Sedierungsgrad.

Dem Optimismus, sich unbeschadet in eine Geistesverfassung zu schaukeln, stehen in Becketts Endspiel pessimistische Bilder gegenüber. Im Endspiel steht der Verfall körperlicher und seelischer Zustände im Vordergrund der Geschehnisse, die keine Hoffnungen übriglassen. Das einzige Interieur ist ein rollbarer Sessel in der Mitte des Bühnenraums, auf dem Hamm, die Hauptfigur des Stückes, sitzt. Hamm sitzt, weil seine Beine ihn nicht tragen, seine Augen ihn nicht führen können. Auch Clov, sein Diener, hat Probleme mit den Beinen. Er geht steifbeinig und kann nicht einmal sitzen. Am Rande der Szene vegetieren in Mülltonnen die Eltern Hamms, Neil und Nagg, die bei einem Unfall ihre Beine verloren haben. Beckett zeigt im Endspiel die Natur als Zerfall, nicht als Wachstum, als eine Art negatives Wachsen: „Wir verlieren unsere Haare, unsere Zähne! Unsere Frische! Unsere Ideale.“ Das Individuelle der vier Gestalten unterscheidet sich vor allem in der Art und im Grad ihrer Bewegungseinschränkungen. Es herrscht ein eifriges Tun um das Wenige, das sie haben und das sie sind. In der kargen Raumausstattung wirken die Rituale des Herrsehens und Ordnens, des Wollens und Dummfragens hilflos. Gegenstände, die ihnen zugewiesene arte nicht einnehmen, verursachen Angst und ein inneres Drängen, sie an ihre Plätze zu ketten. Clov äußert während eines unvermittelt begonnenen Aufräumens: “Ich liebe die Ordnung. Sie ist mein Traum. Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen Platz hätte, unterm letzten Staub.“ Was Clov über die Dinge sagt, sagt er auch von den Menschen. Sein Ideal wäre ein zustand, der die Welt in einem solchen Ausmaß sediert hätte, daß alle Dinge ihren Ort der Ruhe eingenommen und alles Leben und Fleisch sich in Gebein gewandelt hätte. Hier wäre er von der Angst, die das Leben bereitet, erlöst. Nachdem. Hamm sich aus dem Zentrum heraus zur Wand des Raums fahren lassen hat, muß Clov den Sessel exakt an den Ursprungsort zurückpostieren. Hamm fühlt sich zunächst zu weit rechts und zu weit links, dann zu weit hinten und zu weit vorn. Als der Sessel das vermeintliche Zentrum einnimmt, verjagt er seinen hinter dem Sessel stehenden Diener mit den Worten „Du machst mir Angst“. Angesichts einer sinnlos erscheinenden, langweiligen und leidvollen Welt wirkt das konsequente Festhalten an Gewohnheit und Oberflächlichkeit komisch und tragisch zugleich. Es sind der unerkannte Sinn und Unsinn des Lebens, der nach Beckett die Scheinaktivitäten hervorruft, die sich im Kargen absurd ausleben.

 

Hamm glaubt, an einem höheren Grad des Verfalls als alle anderen zu leiden: »Kann es überhaupt... ein Elend geben, das... erhabener ist als meines? Wahrscheinlich. Früher. Aber heute?“ Der blinde Hamm sitzt. Er sitzt stellvertretend für ein königlich-göttliches Wesen in kosmischer Mitte. Aber er ist kein König, sondern jedermann. Und als jedermann zeigt er, was aus einer Welt wird, in der jeder sitzt und sitzen muß, in der das Maß an innerer Beruhigung so groß geworden ist, daß es das Leben aus den Menschen herausgenommen hat. Hamm ist der letzte Repräsentant einer sitzenden Kultur. Das Sitzen verweist anschaulich auf den sittlichen, spirituellen und leiblichen Zusammenbruch des Homo sedativus. Zugleich zeigt Beckett das Scheitern des Menschen, wenn er das gewohnheitsmäßige Funktionieren, die Unterordnung unter den gesellschaftlichen Willen nicht transzendieren kann. So wie sich das Endspiel um Hamm als zentrale Figur bewegt, so dreht es sich um den Sessel. Aber der Stuhl wirkt nicht wie in Murphy als ein zweiseitiges Medium, das in geistige Welten hineinschaukelt, sondern als Symbol eines Verfallsprozesses, der nie endet. Der Verfall wird auf halbem Weg gehemmt, da das Wollen nicht ausreicht, ihn bis zu Ende zu führen.

Karge Bühnenbilder, in sich kreisende und irrationale Dialoge sind falsche Argumente für eine Deutung, nach der Beckett die Zurichtung und Abstraktheit der neuzeitlichen Subjekte darstellt. Diese Deutung verdeckt diejenigen Motive, die die Zurichtungen erst möglich macht. Beckett stellt weder in erster Linie die Zurichtung moderner Subjekte noch die daraus resultierende Unfähigkeit zur Kommunikation dar, sondern es geht um die hinter den Gestalten und den spartanischen Vorgängen liegenden universellen Formen, um die Ideen. Beckett thematisiert nicht das moderne Leben, er führt das Dasein in seiner allgemeinsten Form vor. Die Reduktionen im Endspiel repräsentieren das Nackte des Daseins schlechthin, die Funktionsweisen und Mechanismen des Lebens unter den Bedingungen der Kategorien des Verstandes. Beckett schaut hinter die Kulissen des gewohnheitsmäßigen und des versesselten Daseins und offenbart uns in der luftleeren Enge und kargen Dümmlichkeit eine Fratze dessen, was man gemeinhin Leben nennt.

Schopenhauer sucht Wege, dem Pendeln zwischen Leiden und Langeweile zu entgehen. Wenn sich das Leiden, wie er glaubt, notwendig an den Willen zum Leben bindet, muß man, um dem Leiden zu entgehen, dem Willen entsagen und in nicht verstandesgemäßer Anschauung das Wesen der Welt zu erfassen suchen. Diese Weise der Erkenntnis erfasse eine Welt ohne Trug, ohne Liebe und Haß, eine Welt ohne Begehren, in der jedes Wollen zu Staub geworden ist. Die mit der Erkenntnis verbundene Einsicht in die Enge und Verkehrtheit der kausal aufgefaßten Welt wird zum Quietiv des Erkennenden, der die naturhafte Kette des Leidens am Beutemachen und Erbeutetwerden zer‑ bricht. Im Endspiel zerfallen die Hoffnungen, der sedierte Mensch sei willenlos, demütig und von innen her ruhig.

 

Das Sitzen scheint in Murphy und im Endspiel widersprüchlich konstruiert zu sein. In Murphy gestaltet Beckett den Stuhl zu einem Mittel, das den Körper beruhigt, den Geist frei macht und das ein in Becketts Verständnis positives Verfallen des Menschen vom Stehen über das Sitzen zum Liegen anschaulich macht. Murphy verfügt mit seiner Schaukelstuhltechnik über eine Methode, die Beckett mit Prousts Worten unwillentliche Erinnerung nennt, um in die wahre Welt, die eine spirituelle ist, einzutauchen. Im Endspiel dagegen dient der Sessel als Symbol von Herrschaft, Gewohnheit und Unbewegtheit. Hamm sitzt im Zentrum, von dem aus er herrscht und in dem er gelegentlich zu er‑ staunlichen Einsichten gelangt. Er gewinnt diese nicht über eine innere Bereitschaft zur Erkenntnis, sondern aus dem hohen Maß an Leid und Überdruß, das in der Müdigkeit die Kruste der Gewohnheit durchstoßen kann und Einsichten vermittelt. Der Stuhl, die anschauliche Gestalt der beiden Lebenspole, Langeweile und Leiden, hat die Qualität, Foltergerät zu sein und ein Schutzorgan gegen das Leiden.

 

Beckett verknüpft Schopenhauers willenlose Erkenntnis mit dem von Proust entwickelten Begriff der unwillentlichen Erinnerung und gibt ihm den Status einer ontologischen Eigenständigkeit. In einem Erlebnis nehme man die gesamte Wahrnehmung auf, bemerke aber nicht die Details. Was man wahrnimmt, aber nicht bemerkt, wird vergessen und bleibt dem willentlichen Erinnern unzugänglich. Hierin liegt das Moment der Gewohnheit. Sie untersteht dem Gesetz von Kausalität und Grund, das die persönliche Identität und die Einheit des Bewußtseins bewahrt. So wie sich für Schopenhauer der Wille in den Formen von Zeit und Raum in den Individuen objektiviert, so gilt Beckett die willentliche Erinnerung als ein dem Willen zur Selbsterhaltung unterworfenes Erinnern, das das Erinnerte präzise vor das Bewußtsein stellt. Es bleibt aber allein der unwillentlichen Erinnerung vorbehalten, die wahre Realität zu fassen. Sie ist die Form der Erinnerung, die das vergangene Erlebnis von Ordnungsformen befreit und das bis dahin Registrierte, aber nicht Bemerkte miterinnert und entzerrt. Das ohne Absicht ins Bewußtsein tretende Erlebnis wird nachträglich vollständiger erlebt und erlaubt das Erfassen außerhalb der Zeit liegender Ideen, die keine diskursiven Begriffe, sondern Bilder in der Art von Hieroglyphen, unverzerrt und durchgängig bestimmt, darstellen.

 

Beckett macht die Körper seiner Figuren zu Trägern des Geschehens und dem hinter dem Geschehen liegenden Wollen und gibt dem Stehen, Sitzen und Liegen fest umrissene Bedeutungen. Wer ohne Behelfsmittel stehen oder gehen kann, zeichnet sich durch einen starken Lebenswillen aus, dagegen erträgt der Sitzende nicht mehr uneingeschränkt das unter kausale Formen gebeugte Leben. Erst der Liegende sagt sich von den gewohnheitsmäßigen Lebensformen los. Während das aufrechte Gehen und Stehen Verkörperungen des Sich-behaupten‑Wollens sind, zeigt Beckett vor allem Menschen, die fallen. Die meisten seiner Figuren kranken an den Beinen, und wer noch gehen könnte, ist blind oder entzieht sich bewußt der aufrechten Haltung wie Murphy, Malone oder der Namenlose. Wenn das Stehen Ausdruck des Wollens und die Willenlosigkeit, die Bedingung zu wahrer Erkenntnis, sich im Sitzen, Liegen oder Kriechen ausdrückt, wird krankhaftes Stehen oder Gehen zum Zeichen beginnender Erkenntnis.

 

Auch Becketts Theater muß in Raum und Zeit spielen. Vom Vordergrund des Geschehens hebt sich eine Ordnung ab, die sich nicht auf Inhalte bezieht, so daß es unerheblich bleibt, was Personen wollen; entscheidend ist, daß sie Wollende sind. Beckett faßt das Wollen als Streben, bei dem sich der Mensch trotz aller Rätselhaftigkeit des Lebens abmüht, sich zu erhalten. Die Ordnung wird durch die Merkmale Selbsterhaltung, Schmerz, Langeweile und die Verstandeskategorien Raum, Zeit, Grund und Kausalität bestimmt. Sie stellt das menschliche Leben in seiner abstrakten Allgemeinheit dar.

 

Unterhalb dieser Ebene befindet sich eine Ordnung, die das zeigt was die Daseinsform betrifft. Sie hat die Merkmale: festgesetzt, vegetativ gehemmt, sedativ, präzise Logik, fehlende Entschlußkraft, Gebein. Diese Merkmale sind zugleich die Elemente einer formalen Ordnung des Sitzens.

 

Schon der Roman Murphy liefert Einblicke in Zusammenhänge, die im Endspiel ihren Abschluß finden. Während Beckett in Murphy aus der Perspektive eines Sitzenden einen Sitzenden beschreibt, negiert das Endspiel diese Möglichkeit. Murphy überläßt sich im Sitzen auf dem Schaukelstuhl der freien Assoziation der unwillentlichen Erinnerung und flieht aus der raunz-zeitlichen in eine imaginäre Welt. Die sieben Schals machen ihn zu einer lebenden Mumie, dem Bild innerer Beruhigtheit. Da er die Hände hinter dem Rücken festbindet, besteht die Gefahr, daß der Stuhl umkippt und den Kopf von Murphy, den kein helfender Arm abschirmen könnte, schwer verletzt. Er provoziert die Gefahr, verursacht das Kippen des Stuhls, fällt und bleibt, in sitzender Haltung gefesselt, umgestürzt auf dem blutenden Kopf liegen. Nachdem ihm die Gurte gelöst werden, liegt er „wie gekreuzigt, ausgestreckt auf dem Boden“. Im Ereignis des Unfalls und im Bild des gekippten Stuhls zeigt sich der Sinn für Murphys Sitzhaltung und sein Verschnürtsein. Er erinnert an afrikanische Könige, die mitten im Busch auf einem umgestürzten Stuhl thronen. Gefesselt auf dem Thron, mit einem Fußtritt umgekippt, übt der König seine Funktion als Oberhaupt aus. Beckett hat in Muyhy das Bild dieser Könige mit dem des gekreuzigten Christus verdichtet. Die Entschädigung, die Murphy für das leibliche Opfer erhält, liegt im Triumph über den Leib und in der erfolgreichen Gewöhnung ans Sitzen: „Das Gefühl der Sitzfläche eines Stuhles, die mit seinem sich niederlassenden Hintern schließlich zusammentraf, war so herrlich, daß er sich sofort wieder erhob und sich von neuem hinsetzte, ganz langsam und mit äußerster Konzentration. Solche Zärtlichkeiten wurden Murphy nicht so oft zuteil, als daß er es sich leisten konnte, ihnen gleichgültig zu begegnen.“

 

Nach der Romantrilogie schreibt Beckett keine Romane mehr. Gestalten, die sich weder leiblich noch geistig zu bewegen vermögen, nur noch Struktur sind, geben keinen Stoff für eine Geschichte ab. Der Bewegungsraum der Personen wird nach dem Roman Der Namenlose in die Ebene gekippt und bietet nur noch eine Folie für urräumliche, zweidimensionale Muster. Becketts Leben verläuft in der Zeit, die er „Verschanzung im Zimmer“ genannt hat, in ähnlichen Bahnen.

 

Im Endspiel wird eine Ordnung des Sitzens künstlerisch entfaltet. Nicht weil das Stück um eine sitzende Figur kreist, sondern weildie Ordnung des Stückes mit der Ordnung des Sitzens zusammenfällt.

 

Thema und Motiv im Endspiel sind die Darstellung der unterschiedlichen Arten der Festsetzung und Unbewegtheit. Hamm sagt zu Clov: „Eines Tages ... Du wirst irgendwo sitzen, ganz winzig, verloren im Leeren, für immer im Finstern. Wie ich. Eines Tages wirst du dir sagen: Ich bin müde, ich setze mich, und du wirst dich setzen. Dann wirst du dir sagen: Ich habe Hunger, ich steh jetzt auf und mach mir was zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen. Du wirst dir sagen: Ich hätte mich nicht setzen sollen, aber da ich mich gesetzt habe, bleib ich noch ein wenig sitzen, dann steh ich auf und mach mir zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen und du wirst dir nichts zu essen machen.“

 

Hamm kennzeichnet hier ein strukturelles Merkmal des Sitzens, die Neigung, sitzen zu bleiben. Er kann deshalb Clovs Einwand damit parieren, daß er vergessen habe, daß Clov nicht sitzen könne: „Dann wirst du dich eben legen, als wenn das was wäre. Oder du wirst ganz einfach anhalten und stehen bleiben, wie jetzt. Eines Tages sagst du dir: Ich bin müde, ich halte an. Ganz gleich wie!“

 

Die Müdigkeit, bevor man endgültig anhält, läßt sich in Becketts Texten auch physiologisch deuten. Im Endspiel leiden alle an ihren Beinen. Deshalb muß jeder über einen festen Ort verfügen. Hamm sitzt im Sessel fest, Neil und Nagg vegetieren beinlos in urnenförmigen Mülltonnen, und Clov kann sich zwar bewegen, aber auch seine Beine sind krank, und er wird, einer Prophezeiung Hamms zufolge, wie dieser enden. Das Sitzen äußert sich in den Theaterstücken Becketts als Struktur des Festhaltens und Festgehaltenwerdens, und Seele und Leib werden von den Festsetzungen gleichermaßen ergriffen. Was in Murphy möglich war, erweist sich im Endspiel als vergebliche Mühe, da das Aufbauen einer geistigen Ordnung über das Zurückhalten der Affekte im Sitzen scheitert. Das Endspiel führt vor, daß das hohe Maß an Sediertheit keinen Weg zu wirklicher Beruhigung darstellt. In seiner unablässigen Forderung: „Gib mir mein Beruhigungsmittel« drückt Hamm aus, daß das Sitzen zwar beruhigt, aber erneut eine Unruhe erzeugt, die weiterer Beruhigungsmittel bedarf. Trotz permanenten Wollens sind die konstruktiven Lebenskräfte zu schwach. Die Körper sind nicht nur äußerlich krank - beinlos, blind oder lahm, sondern der Antrieb zum Leben fehlt. Becketts Personen leiden unter dem Phänomen der Depersonalisation. Der Zustand von Clovs Beinen verschlechtert sich, die Sehkraft seiner Augen läßt nach, einmal weiß er nicht, wo er seinen Kopf, ein andermal nicht, wo er seine Sinne hat. Bei Hamm erfaßt sie gelegentlich den gesamten Organismus. “Ich bin nie dagewesen.“ Die Beckett­schen Figuren leiden unter seelischen Störungen, insbesondere dem Überdruß und dem Mangel an Entschlußkraft. Clous stereotyper Satz „Ich werde dich verlassen“ hält das Endspiel zusammen, aber Clov hat nicht die Kraft zu gehen. Er stellt seinen Gehorsam in Frage, bleibt unsicher und stellt den Zweifel selbst in Frage: „Tu dies, tu das, ich tu's. Ich weigere mich nie. Warum?“ Gewohnheit und das Sitzen haben Clov destruktiv gemacht, aber bis zur Selbstaufgabe gezähmt und gelähmt. Auch Hamm verfügt über keine Entschlußkräfte. „Ich könnte vielleicht an meiner Geschichte weitermachen.“ Könnte und vielleicht, zwei Möglichkeitsformen des Zögerns, der Unsicherheit und der Angst. Und ebenso wie bei Clov haben Wollen und Nichtkönnen allgemeine Dimensionen: „Was soll ich nur machen? ... Warum tötest du mich nicht?“ Während die Figuren auf der Ebene des Handelns durchaus Wollende sind, sind sie strukturell solche, die nicht mehr wollen können, und decken sich mit den Qualitäten, die das Sitzen ausbildet. Murphy bedient sich des Sitzens in genießender Absicht und mit positiver Wirkung, aber die berufsmäßigen Sitzer sind bei Beckett Schriftsteller. Molloy oder Moran, die als Schreibende an ihren Tischen sitzen, verlieren im Verlauf des Romans ihre leibliche und seelische Identität. Am Ende kriecht Molloy wie ein Reptil und zieht sich mit Krücken, wie Haken verwendet, liegend voran. Pozzo, der einzige, der in Warten auf Godot sitzt, nimmt auf seinem tragbaren Klappstuhl Platz, um aus selbstverfaßten Stücken vorzulesen. In Hamm, der sich im Schreiben versucht und sich nur sitzend halten kann, gelangen die konstruktiven Elemente der sitzenden Lebensform ans Ende. Sie zeigt sich als Ermüdung und als in sich kreisende Entschlußlosigkeit. Hamm verfügt schon über die Einsicht, dass das Sitzen die Entschlußkräfte untergräbt, und kann ihm nicht nur Sympathie abgewinnen. „Friede unsern ... Ärschen!“ ist seine knappe Formel für diese Einsicht.

 

Seit Warten auf Godot schränkt Beckett die Bewegungsmöglichkeiten seiner Akteure zunehmend ein, bis das Endspiel das Setzen zur Einsperrung verdichtet. Der Aktionsraum verengt sich zu einer Zelle, die die Struktur eines Stuhls annimmt. Die Zelle bildet die kleinste räumliche Einheit eines unter körperlichen Aspekten betrachteten Individuums; der Stuhl ist der unräumliche Ort, an dem der Leib geformt wird, um die Flucht aus der Gegenwart zu ermöglichen und in innere Räume einzutreten; der Stuhl bildet die kleinste mögliche unräumliche Einheit eines unter unkörperlichen Aspekten betrachteten Individuums, eine Ordnung innerer Räume. Der Homo sedens kommt in den späten Stücken Becketts nur als tragische Figur vor. Die vegetativen Prozesse sind blockiert, die rationalen Qualitäten durch zu große Verfeinerung hoffnungslos in sich verstrickt, ohne das Vermögen, Bewegungen wollend nach außen zu initiieren. Im Stuhl als Zelle, dem kleinstmöglichen leiblichen wie seelischen Fluchtpunkt des Menschen, liegen di Maße für das solo ipse des Individuums, der extremsten Form bürgerlichen Daseins.

 

Da Beckett die Räume begrenzt, erscheinen Flucht und Verwandlung nicht mehr möglich. Er zeigt eine abstrakte Ordnung, die Sitzen, Nichtkönnen und Unbewegtheit veranschaulicht, und deutet das Wollen des Menschen als eine vergebliche Anstrengung zur Flucht.

 

Becketts Lebensideale decken sich mit der christlichen Askese und der Moral, in der Nachfolge Jesu Christi zu leben. Die Konsequenz, die er aus dem Leiden an der Welt und der Monotonie des Lebens zieht, fällt mit den Quellen zusammen, denen Leid und Monotonie entspringen. Der Mensch, von Geburt an schuldig, erlebt seine Verdammnis in der zeitlichen Existenz und findet Erlösung nur in der Rücknahme der leiblichen Geburt. Schopenhauer und der Orthopäde Schreber teilen mit Beckett die Vorstellung, Weisheit bestehe „nicht in der Befriedigung, sondern im Abtöten des Verlangens“.

 

Da das Band zwischen Ich und Objekt nicht mehr bestehe, schafft sich Beckett als Künstler – allein dieser erkenne die wahrhafte Welt – eine subjektive Welt, die man nur aus dem zusätzlich auferlegten Leid aufbauen könne. Schopenhauers Verneinung des Willens und Becketts Unbewegtheit sind dasselbe Mittel zur Aufhebung des Leidens an der Welt: allerdings ein doppeltes Leiden. Beide sind moderne Asketen, Mönche der Moderne. Da Beckett Zeit gleichermaßen als Mittel zur Verdammnis wie zur Erlösung gilt und das erhöhte Leid die Schuld schneller abträgt, erweist er sich wie Schopenhauer als Beschleuniger auf dem Weg in eine mumienhafte Starre und gesteigerte Spiritualität. Erst sterben, dann leben, heißt die Weisheit beider Pessimisten. Aber es drängt sie lediglich zu der Konsequenz, die das Sitzen dem Menschen auferlegt. Im Sitzen erhöht sich das Leiden, das Sitzen macht den Sitzenden namenlos und lenkt ihn ins Nichts. An diese Schwelle, die Schwelle zum Wahnsinn, führt der Stuhl den Menschen heran. Im Zustand des fortgeschrittenen Verfalls vegetativer Prozesse wird es erforderlich, eine geistige Ordnung um und in sich auszubreiten, um im Prozeß wachsender Sedierung minimale Orientierung zu bewahren.

 

Selbsterhaltung, Langeweile und Schmerz, die Angstmacher des in die Zeit gebetteten Ungeheuers Leben, treiben den Menschen in eine lange Flucht und in eine mehr und mehr von den Sinnen abgezogene Welt. Was die Sinne vermitteln, wird in der Geschichte des Körpers immer zugerichteter, ärmer, einseitiger. Auch die Sinne stumpfen ab, und indem der Leib verkümmert und verfällt, fällt auch die Außenwelt. In der daraus folgenden Irritation sucht der Mensch Wege ins Innen, von wo aus die Außenwelt nur noch als Wahnwelt konstruiert werden kann. Becketts Räume haben. zu Schrebers interstellarer Vision eine große Nähe, wenn auch geschrumpft zum kleineren Ort der Wüste.

 

Unwillentliche Erinnerung oder willentliche Kontemplation sind zwei Namen dafür, daß man dem Leib zu Leibe rücken will. Das Leben wird als unerträgliche Last erlebt, die nur im Lachen und in der Komik und damit im Unterlaufen eines zu heftigen Wollens ertragen werden kann. Die Flucht in die Unbewegt­heit bildet ein Hauptmotiv für die heutige Künstlichkeit und unser Einrichten des Lebens im Tode und des Todes im Leben. Sie wird zum Schlüssel für ein Verständnis von Beckett. Der Stuhl wird dabei das Bild und Werkzeug dieser kurzschlüssigen Prozedur.

 

Es ist der Bürger, eine innere Form des Menschen, die sich aus Lebensangst, verlorengegangener Hoffnung und Haltlosigkeit aus der Gegenwart heraus in äußere Burgen flüchtet. Der Bürger, der scheinbar allgemeine Mensch, erweist sich als hochspezialisierte Form. Unter den Menschen stellt er das flüchtigste Wesen dar. Als gewöhnliche Ziele auf seiner Flucht gelten ihm Burgen wie Stadt und Stuhl. Seine letzte Burg, sein eigentliches Ziel, das vollkommenste aller bergenden Gefäße ist ihm der Himmel. Doch nicht einmal dieses vollkommenen Schutz gewährende Gefäß vermag dem geängstigten Wesen die Angst zu nehmen, denn selbst im Himmel, der den Christen ein Thron ist, bedarf es seines speziellen Werkzeugs, des Stuhls. In dem Gefäß im Gefäß, in dem doppelten Fassen läßt sich die menschliche Angst ermessen. Die Angst zum Leben kann so groß werden, daß mau es sich erst nach dem Tod glaubt zutrauen zu können. Aber die Angst in der Flucht wird umgedeutet und entsprechend genutzt. Die in der Sedierung des Menschen liegende Verfeinerung des Geistes macht den Menschen kontrollierbarer und damit perfekter. Diese Kontrollierbarkeit erhält eine besondere Auszeichnung, den Status des Guten und des Besseren. Deshalb wird das Maß der Sedierung als Maßstab für die Vollkommenheit des Menschen genommen. Wer seine Unruhe zügeln kann, gilt als beherrscht, als vollkommen und gut.

 

So ist der Homo sedativus der Name für das menschliche Wesen, das am Ende der Sedierung steht. Seine vegetativen Bedürfnisse drängen nur noch zu dem, was den Vorstellungen gemäß ist, während sich seine Vorstellungen ganz an die eigenen Impulse angeschmiegt haben. In ihm fallen die Richtung der Triebe, die intellektuellen Maßstäbe und das Wollen ununterscheidbar in eins. Homo sedativus ist der Name für ein selbstgesteuertes und kontrolliertes Wesen, das leiblich und geistig über eine befriedete Ordnung verfügt, die darauf hinarbeitet, die Umwelt den eigenen Gesetzen gemäß zu gestalten. Die Zellstruktur der Ordnung entfaltet sich längs der Spuren des Profanen und des Sakralen: KOSMOS BEZIRK THRON – HUS STUBE STUHL. Der Kosmos verkleinert sein Maß, um von ihm ausgehende Impulse zu vervielfältigen. Per Knopfdruck sind wir in der Zelle Stuhl im Nu überall, im gesamten Kosmos. Und insofern Sedierungen Ordnungsweisen des Setzens sind, ist der Stuhl eine Ablagerung des Gesäßes. Aber auch der Kosmos als Instanz der Ordnung hat sich im Stuhl sedimentiert. Als sakraler Raum ist er geschrumpft, hat sich verdichtet und dem gewöhnlichen Stuhl alte Schichten und Bilder eingegraben. Stühle sind Zeichen für Freiheit und Perfektion sowie für das Sklerotische am Menschen. Homo sedativus ist der Name für die semiotische Seite der Geschichte von All und Mensch: das Bild ihrer gebrochenen wechselseitigen Vervollkommnungen.

 

Die Macht des Homo sedativus liegt darin, die Welt nach selbstfabrizierten Formeln zu beherrschen. Nach den Regeln, nach denen er seinen Leib sitzend bezwingt, richtet er die Welt zu, indem er Natur in geistig geformte Welten überführt. Unser perfektes Wissen ruht in den exakten Wissenschaften. Aber Naturwissenschaft ist nicht Wissenschaft von der Natur, sondern ist austreibende (exigere) Wissenschaft, die austreibt, was sie nicht bemessen will, nämlich Natur. Da ihr Natur nur geistig geprägte Natur bedeutet, ist sie Geisteswissenschaft, aber befrachtet mit dem Geist der Naturwissenschaft. Diese geistige Welt wird ein Meer innerer Bildsamkeiten, von denen die Weltbilder die vollkommensten sind, da sie Natur zu Theater und Theorie umrüsten. Die im Zuschauen (Theater) liegende Kraft hat die Kette von Jäger und Beute sprengen können und den Menschen Gott gleich gemacht. Aber die Befriedigung des Innen und die Bemächtigung des Außen gehen nicht auf, sondern bereiten Angst und Enge, an denen das Projekt der Sedierung und Vervollkommnung des Menschen scheitert. Die Angst, Impulse nicht kontrollieren zu können und preisgeben zu müssen, macht die Form des Sitzenden zu einer paranoiden und autistischen Ordnung: der Grund dafür, daß der Homo sedativus die Spezies wird, die sich unter den Fuß beugt, den sie sich auf den Nacken setzt. Zwar kommt man nicht über die äußere Gestalt, über Gesten und Gebärden, an den ausdrucksarm Dasitzenden heran, aber die Verfolger sind nicht abgeschüttelt. Wenn der Aufenthaltsort der Beute die Gestalt des Verfolgers bestimmt, kann der Verfolger des Sitzenden nur ein Sitzender sein, einer, der aufgrund eigener Introspektionen und psychologischer Verfahren die Zeichen des gebärdelos Sitzenden zu deuten vermag und den Sitzenden, der er selbst ist, weiter ins Innen hineintreibt. In der Gestalt des Homo sedativus erweist sich der Bürger als Flüchtling, in dessen Flüchtigkeit die Wurzeln zu allen Formen des Fortschritts und der Perfektion liegen. Fortschreiten, Fliehen und Vervollkommnen bedeuten in diesem Kontext dasselbe, und jede Besserung verengt sich zu neuer Flucht. Flucht meint hier allerdings unräumliche, zeitliche Bewegungen, da der Sitzende unerfahren ist und nicht fährt, nichts wagt und nur noch fliehen kann. Daher die Ziellosigkeit des heutigen Menschen, der sich gejagt, verfolgt getrieben fühlt. Er flüchtet und nutzt in der Flucht jede Chance zur Verwandlung, so daß seine Bewegung, dem jeweiligen Gelände angepaßt, zu zufälliger, das heißt zielloser Bewegung wird. Der Verfolger zerfällt in die beiden Gestalten des Bürgers und des christlichen Gottes. Auf der Ebene des Alltäglichen stellt der Bürger mit dem psychologischen Blick dem Innen seines sitzenden Bruders nach. Dagegen heißt Gott diejenige Instanz im Bürger, der es gelingt, potentiell jede Falte und jeden Schlupfwinkel der Seele aufzuspüren, auszuleuchten und die Menschen in Gute und Böse zu scheiden. Während. die Macht des Homo sedativus also darin besteht, daß er das Leben kontrollieren und restlos überschauen kann, bestehen Illusion und Ohnmacht darin, daß sich nur das bereits auf Ordnung angelegte Leben rigiden Gesetzen beugt und Übersicht und strenge Kontrolle lediglich das Lebendige aus dem Leben austreiben.

Das Perfekte wird im harmonischen Zusammenspiel von Wollen, Triebhaftigkeit und Vernunft gesehen. Ein Zusammenspiel, das man in der Sitzhaltung einüben möchte. Beckett hat Variationen über dieses Thema verfaßt und mit dem Mythos aufgeräumt, der Homo sedativus liefere den Beweis, eine aufgeklärte Welt könne dem Pendelschlag zwischen Langeweile und Leiden entrinnen.


©

 Hajo Eickhoff 1993




Share by:
google-site-verification: googleb24ea1bbee374379.html