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Interview mit... Universität Zürich



I.

Das Becken und der aufrechte Gang



1. Welche Bedeutung haben Becken und Hüfte für die evolutionsgeschichtliche Entwicklung des menschlichen Körpers und für den aufrechten Gang?

Jede Wirbeltierart hat eine ihr charakteristische Beckenform, deren Gestalt von den Aufgaben der Tiere in ihrem Lebensraum abhängt. Beim Übergang der Wirbeltiere vom Wasser auf das Land sind zur Fortbewegung große Kräfte und dadurch eine Querverbindung der längs liegenden Wirbelsäule mit den Extremitäten erforderlich. Für die vorderen Extremitäten bildet sich der Schultergürtel aus, für die hinteren der Beckengürtel, der beim Menschen zum ausgeprägten Teil der Hüfte wird.

Die Querverbindung ist bereits bei den Fischen angelegt und erfolgt über eine lose Brücke. Bei den Amphibien besteht die Brücke bereits aus einem knöchern ins Becken eingebundenen Wirbel der Wirbelsäule – die Entstehung des Kreuzbeins (Sakrums). Mit zunehmendem Körpergewicht und der Entwicklung zum Vierfußstand muss die Brücke größere Kräfte tragen und bindet daher mehrere Wirbel in die Verknöcherung ein. Das Kreuzbein ist die Brücke zwischen Wirbelsäule und der hinteren Querachse, das gelenkartig, aber mit geringem Bewegungsspielraum ins Becken eingebunden ist.

Vierbeiner haben einen stabilen Stand, da das Körpergewicht auf vier Beine verteilt ist. Das Becken schützt ihre Eingeweide von der Seite her, aber beim Menschen muss es sie tragen und bildet das Becken daher zu zwei weiten Schalen aus.

Um den Übergang vom gebeugten Gehen und Stehen auf zwei Beinen – wie es alle Affenarten praktizieren – zur vollendeten Aufrichtung mit durchgedrückten Knie- und Hüftgelenken zu vollziehen, wie es nur der Mensch vermag, muss der gesamte Hüftbereich umgestaltet werden. Das Becken weitet sich noch einmal, die Lageverhältnisse von Becken und Oberschenkelkopf ändern sich und das Kreuzbein knickt am oberen Wirbel gegen die Vertikale ab und bringt das Promontorium hervor. Das Promontorium ist eine Bedingung für die Aufrichtung des Menschen. Diese Abknickung ist der Grund für die typische Einwölbung in der Lende – die Lordose. Im Laufe der Jahre verknöchern fünf Wirbel und Bandscheiben zum Kreuzbein.

Das Abknicken des Kreuzbeins gegen die Vertikale ist erforderlich, um beim Laufen die großen vertikalen Kräfte, die auf die Wirbelsäule einwirken, in eine Schräge umzulenken und dadurch die Wirbelsäule abzufedern, um das Gehirn und die Organe zu schützen.


2. Welche Auswirkungen hat der aufrechte Gang für den menschlichen Geist und seine Entwicklung?

Zuerst musste sich zwischen Fuß und Bein der rechte Winkel ausbilden. Er ist eine Bedingung des aufrechten Gehens und Stehens. Doch obwohl seine Entstehung eine gravierende Veränderung darstellt, hat es kaum zur Entwicklung des Gehirns beigetragen. Ein Schub cerebraler Entwicklung erfolgt erst durch die Tätigkeit der freigesetzten Hände infolge der Aufrichtung, insbesondere durch deren unterschiedliche Aufgaben: Die linke Hand dient dem Rechtshänder als Schraubstock und die Rechte ist für Feinarbeiten zuständig. Dieses Zusammenspiel verursacht eine enorme Aktivität in der Zwischenregion der beiden Hirnhälften – dem Balken – und einen enormen Gewichtszuwachs des Gehirns.

Hier liegen auch die Ursachen für viele Unterschiede zwischen der linken und der rechten Hirnhälfte. So ist es nicht ganz falsch, zu sagen, dass es die Hände sind, die den Menschen machen.

Doch auch die Füße haben ihre grundlegende Bedeutung, denn sie sind der Grund, auf dem der Mensch steht. Sie geben ihm Sicherheit und Balance. Die sensiblen Fußsohlen arbeiten gemeinsam mit der Tiefensensibilität und dem Gleichgewichtsorgan des Ohres die Struktur der Umwelt und die Lage des Menschen und all seiner Körperelemente im Raum in den Organismus ein. Der Mensch weiß unbewusst, in welcher Konstellation er und alle seine Gliedmaßen sich im Schwerefeld der Erde befinden. Wenn der Mensch ausrutscht, wird er automatisch sacht auf den Boden geführt – vorausgesetzt, er reflektiert seine Lage nicht.


3. Könnte man das Überlegenheitsgefühl des Menschen allen anderen Lebewesen gegenüber auf die aufrechte Körperhaltung und die damit verbundene Tatsache, dass der Kopf das höchstgelegene Körperteil ist, auf die aufrechte Haltung als Alleinstellungsmerkmal zurückführen?

Eher ist es die Erfahrung des Menschen, den Tieren im Planen und Denken sowie in der Hinterlist (techne) überlegen zu sein. Er hat es sich gemütlich an der Spitze der Nahrungskette eingerichtet. Großwild stellt für ihn keine Gefahr mehr dar. Auch das Jagen ist überflüssig geworden, seit die domestizierten Tiere in die Falle hineingeboren werden.

Bedrohlich sind heute die kleinen Wesen – Viren, Keime, Bakterien. Allerdings gehören gerade sie notwendig zum Menschen. Sie sind Teil der Verdauung und Elemente des Immunsystems, können dem Leib aber auch gefährlich werden. Es bedarf eines erstaunlichen Vermögens, all diese Milliarden Kleinst-Wesen in Balance und Neutralität zu halten.

Insofern bezieht sich das Gefühl der Überlegenheit des Menschen vor allem auf die Lebewesen, mit denen er sich in Größe, Kraft, Ästhetik und Klugheit vergleichen kann. Tatsächlich ist das aufrechte Gehen und Stehen einzigartig im Tierreich und zählt zur Exzellenz des Menschen. Dennoch ist das Gefühl der Überlegenheit unangebracht, denn ohne die anderen Lebewesen gäbe es den Menschen gar nicht.


4. Hat sich die veränderte Stellung des Beckens bei der aufrechten Körperhaltung des Menschen schwächend auf die Hüftgelenke ausgewirkt? Hat der Mensch vielleicht daher so viele Probleme mit den Hüftgelenken / verschleißen Sie daher so schnell und sind sie daher so empfindlich? 

Nein. Die Hüfte des Menschen ist infolge des aufrechten Gehens und Stehens nicht besonders anfällig für Hüfterkrankungen. Die Hüfte braucht Bewegung, Belastungswechsel und eine dem Körper angemessene Statik durch elastische Bänder und Muskeln. All das fehlt dem modernen Menschen aufgrund von Bewegungsmangel und Übergewicht.

Probleme haben Tiere. Etwa Hunde. Insbesondere große Rassen wie der Dobermann und Neufundländer. Sie leiden oft an einer Hüftdysplasie, einer Fehlentwicklung der Hüftgelenke, wenn Oberschenkelkopf und Gelenkpfanne nicht genau zusammenpassen. In der BRD leiden eine Viertelmillion Hunde unter dieser Krankheit. Die Krankheit ist zwar vererbbar, kann aber auch durch Übergewicht, Bewegungsmangel und eine falsche Ernährung verursacht sein.

Der häufige Oberschenkelhalsbruch bei älteren Frauen lädt ein zu Fehlinterpretationen. Zwar kommt er zustande, weil der Oberschenkelhalsknochen dünner wird und Frauen eine geringere Knochendichte aufweisen als Männer, doch das Grundproblem liegt in der mangelnden Elastizität der Bänder und Muskeln, die ständig Fehlhaltungen verursachen, die über Jahrzehnte zu unterschiedlichen Hüfterkrankungen beitragen. Wenn sich der Mensch ausreichend bewegt, ein ihm angemessenes Gewicht hat und sich ordentlich ernährt, werden Hüfterkrankungen seltener.



II.

Das Becken und die Haltung des Menschen


5. Stehen und Liegen sind natürliche Haltungen, das Sitzen isz hingegen eine Kulturhaltung. Die unterschiedlichen Haltungen spielen eine große Rolle für das Becken?

Die Hüftregion ist die Mitte des Körpers, die für die drei Haupthaltungen des Menschen eine zentrale Rolle spielen, weil das Becken in den Positionen Stehen, Liegen und Sitzen völlig anders beansprucht wird.

Liegen ist die natürlichste Position des Menschen. Er muss sie nicht erwerben, denn er liegt oder schwimmt von Anbeginn an. Im Liegen sind Muskeln und Bänder entspannt. Da der Mensch im Liegen nicht mehr fallen kann, sind alle Notrufeinrichtungen außer Kraft. Die Hüfte als das große Element der Körpermitte erlaubt ohne Anstrengung einen weiten Bewegungsspielraum: Die Hüfte kann angehoben und gerollt, gedreht und geschoben werden.

Die aufrechte Position muss erlernt werden. Dazu sind die entsprechenden Muskeln auszubilden, zu stärken und zu koordinieren. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich der Mensch nur über labile Gelenke aufrecht halten kann – über die Gelenke des Fußes und der Knie, der Hüfte sowie der 27 Wirbelsäulengelenke und des Atlas. Stehen und Gehen wären eine nicht zu bewältigende Aufgabe, würde der Stehende nicht durch Automatismen – aufwendige Gehirnprogramme – gestützt und in der Balance gehalten. Der Hüfte als drehbares Element der Körpermitte hat die Kräfte von Rumpf und Kopf auf die Beine zu übertragen – beweglich und statisch zugleich durch die komplexe Koordination von Bändern und Muskeln. Dennoch sind das Gehen und Stehen natürliche Positionen des Menschen, denn er verfügt über viele Mechanismen – wie den Stellreflex –, die auf die Aufrichtung verweisen.

Auch Sitzen muss erlernt werden. Im Sitzen sind die gesamte Skelettmuskulatur angespannt und der Muskeltonus erhöht, die das Becken um 40 bis 50 Grad nach hinten dreht. Gegen diese Spannung arbeitet jeder Sitzende an. Kinder spüren die Spannung. Wird die Spannung bei längerem Sitzen in der Lende zu groß, bringen sie den Stuhl auf die beiden Vorderbeine und beginnen zu kippeln. Sie nutzen die Stuhlvorderbeine als Drehachse, bis im Hin- und Herschaukeln die unangenehme Spannung in der Hüfte nachlässt. Es ist die Unkenntnis der Erwachsenen, die mit „Sitz still!“ und „Lass das Kippeln!“ die Bewegung auf dem Stuhl verhindern möchten.

 

6. Sitzen ist ein Weitertreiben der Evolution?

Die Evolution der Wirbeltiere vom liegenden Fisch zum aufrecht stehenden Menschen ist von außen betrachtet eine Aufrichtung des Rumpfes um 90 Grad. Doch Becken und Kreuzbein drehen sich in diesem Aufrichtungsprozess nur um die Hälfte – um 45 Grad. Setzt sich der Mensch auf einen Stuhl, drehen sich Becken und Kreuzbein um weitere 40 bis 50 Grad und erlangen eine vertikale Position. Und damit ebenfalls eine Gesamtdrehung von 90 Grad – wie der Rumpf. Bezieht man nun die Aufrichtung des Menschen nicht auf den Rumpf, sondern auf den inneren Mechanismus – die Drehung von Kreuzbein und Becken, wäre das Sitzen eine Fortsetzung der inneren Aufrichtung (siehe Abbildung). So hätte sich der Mensch mit den Mitteln der Kultur – dem Stuhlsitzen – sich über sich hinausgetrieben vom Homo sapiens sapiens zum Homo sapiens sedens.



III.

Das Becken (Hüfte) bei Männern und Frauen


7. Die Rolle von Becken und Hüfte für die Attraktivität bei Männern und Frauen?

Attraktivität und Schönheit sind durch die Kultur bestimmte Phänomene. Jede Kultur hat ihre eigene Vorstellung vom Körper – seiner Funktionen und seiner Schönheit. Das gilt auch für unterschiedliche Epochen innerhalb einer Kultur. Doch: Schönheit hat immer eine praktische Bedeutung.

Da der Mensch zur Art animal gehört, bewegen ihn auch tierische Motive wie die Suche nach einem Weibchen, das geeignet ist, seine männlichen Gene zu sichern, weshalb Männer Frauen unbewusst auf ihre Fruchtbarkeit und Gebärfähigkeit prüfen. Eine Frau, die viel Eiweiß und weibliche Hormone hat und dadurch ausreichend Fett in der Leibesmitte sammelt, verfügt über eine breite Hüfte und erscheint gesund zu sein und eine erfolgreiche Schwangerschaft zu garantieren. Die Hüfte muss nicht weit sein, sondern weit scheinen – etwa wenn sie durch eine schlanke Taille betont wird. Überhaupt ist die weibliche Taille – die Grenzregion der Hüfte – der Hauptblickfang für den Mann. Da schaut er zuerst und am längsten hin. Als attraktiv gilt der Quotient aus Taillen- durch Beckenumfang von 0,7. Das mag ein Richtwert sein, doch es spielen auch andere Faktoren wie die Proportion der Gesamterscheinung, die Proportion des Rumpfes oder die Länge der Beine eine wichtige Rolle. Dennoch ist der Quotient von 0,7 ein grober Orientierungswert, der die Frau attraktiv erscheinen lässt und genügt, sie als gesund und schön anzusehen.

Umgekehrt darf die Hüfte des Mannes nicht zu weit sein. Sie würde als weiblich, weich, schwach und als unmännlich bewertet. Vom Mann will die Frau harte, markante Gesichtszüge und eine männliche, burschikose Hüfte, beides Zeichen für das männliche Sexualhormon Testosteron.


8. Männer und Frauen nehmen ihr Becken unterschiedlich wahr?

Die Beurteilung der eigenen Hüfte ist ein ästhetisches Urteil, das gleichermaßen in kulturelle und persönliche Vorstellungen eingebunden ist. Die Leibesmitte ist ein Körperbereich, der etwas über Schönheit aussagt und damit auch etwas über Alter und Vitalität.

Die typisch weibliche Hüfte ist schön auch deshalb, weil sie dem Schein, also der Form nach, erfolgreiche Geburten suggeriert. Frauen mit einer solchen Hüfte empfinden ihre Leibesmitte als schön, zumindest als angemessen. Männer haben dasselbe Empfinden. Wenn umgekehrt ein Mann über eine solche Hüftform verfügt, wird er als weiblich und nicht selten als zu weiblich angesehen. An den Mann werden in der Natur andere Anforderungen gestellt. Er muss stark sein: sein Markenzeichen sind markante Gesichtszüge, sichtbare Muskeln und eine burschikose Hüfte. Hier wirkt noch die tierische Vergangenheit nach: Ein Rudel von Rehen erwählt ausschließlich den starken und potenten Hirsch mit tiefer Stimme, also großer Masse, symmetrischem Geweih und geeigneten Proportionen. Rehe erkennen das, denn sie geben keinem anderen Hirsch eine Chance, ein Rudel anzuführen.

Was für die weibliche Hüfte bei Frauen gilt, gilt umgekehrt für die burschikose Hüfte des Mannes. Wobei in beiden Fällen die Hüfte beurteilt wird durch den Quotienten aus Taillenumfang zu Beckenumfang.

Der Mensch kann sich vom animalischen Schönheitsideal freimachen. Er kann es anders sehen und bis ins Gegenteil verkehren, denn das Ideal der Schönheit beim Menschen ist kulturell bestimmt oder zumindest kulturell gefärbt. Dennoch schwingen immer die Funktion der Arterhaltung und der Erfolg der Fortpflanzung als Hintergrund mit. Vielleicht am stärksten dann, wenn versucht wird, sie bewusst auszuschalten.

 

 


© Hajo Eickhoff 2015





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