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Der Mensch als Biotop von Viren – die Erde als Biotop von Menschen
Die Umwelt des Menschen hat sich ausgehend von kleinen, überschaubaren Regionen zum planetarischen Raum geweitet, in dem ökologische Grenzüberschreitungen zu Krisen und Katastrophen führen. Auch Menschen sind Umwelten. Für unterschiedliche Aktivisten, die mitunter großen Schaden anrichten. Durch ihre besondere Stellung, ihre Intelligenz und Freiheit tragen Menschen für beide Biotope Verantwortung, doch noch sind sie im Globalen nicht heimisch. Es scheint, als sei es ihre Lebensweise, die ihnen die Viren zutreibt.
Lebewesen eines Biotops (Umwelt) bilden mit Klima, Licht und Geologie eine Lebensgemeinschaft – die Biozönose, ein dichtes Geflecht, in dem sich die Elemente in ständiger Wechselwirkung befinden. Ein dynamisches Ökosystem, bei dem kleinste Nuancen alles ändern. Lebewesen sind Biotope für viele Mikroben und viele Krankheitserreger. Wie gravierend ein unüberlegtes Eingreifen des Menschen in die Erde sein kann, zeigt die immense Dauer des Aufbaus eines 1-Zentimeter dicken Erdbodens: Es bedarf 100 bis 300 Jahre.[1]
Die beiden Biotope – Mensch und Erde – wirken aufeinander. Daher sind epidemische Infektionserkrankungen verankert in der Ökologie des Lebens. Lebewesen sind mit dem, was sie charakterisiert, in ihr Biotop eingepasst, was ihnen Schutz und Sicherheit verleiht und wodurch sie bei Gefahr entschieden und schnell reagieren. Das Betreten eines neuen Biotops nimmt ihnen diese Sicherheit und verändert ihre Lebensweise und Lebensstruktur.
Keime oder Erreger wie Viren, Pilze oder Bakterien sind winzige Partikel oder Lebensformen, die von Wasser, Luft, Menschen oder Tieren auf Menschen übertragen werden und durch Infektionen Epidemien auslösen können.
Viren gibt es schon lange. Sie sind klein und einfach gebaut. Sie sind keine Lebewesen, da sie weder Stoffwechsel haben noch sich selbsttätig vermehren können. Sie gehören aber zum System des Lebendigen, denn sie können sich genetisch weiterentwickeln, haben einen Schlüssel zu einem Eingang (Rezeptor) in Wirtszellen, und sie werden von Wirten unterstützt, sich zu vermehren. Diese Replizierung kann Menschen krank machen und töten und die Ordnung einer Gemeinschaft grundlegend verändern. Viele durch Viren hervorgerufene Krankheiten haben verheerende gesundheitliche und gesellschaftliche Folgen. Arten von Viren gibt es millionenfach, doch meistens koexistieren sie mit ihrem Wirt. Viren sind Grenzgänger zwischen dem lebendigen und nichtlebendigen Sein.
Viren benutzen die inneren Wege und Wasser des Menschen, um nach Zellen zu suchen, an die sie anhaften und sich replizieren können. Die Wirkung eines Virus hängt daher vom Menschen ab, vom Zustand seines Biosystems, das er für das Virus ist.
Viren sind Meister der Invasion. Wie Einbrecher in Häuser und Hacker in Software brechen sie in Zellen ein. Die Invasion heißt Infektion. Zugang erhalten sie durch die Hilfe derjenigen Zellen, auf die sie es abgesehen haben. Ist eine Zelle erobert, programmieren die Viren mit ihrem Erbgut die Werkzeuge der Zell um und veranlassen so ihre Replikation. Dann verlassen tausende neu entstandener Viren ihren Wirt und versuchen, weitere Zellen zu infizieren. Daher sind Zellen für Viren nur vorübergehende Biotope.
Die Abwehrreaktion des Immunsystems auf befallene Zellen ist eine Entzündung. Wie Fieber, die Aktivität von Lymphozyten und die Bildung von Antikörpern. Gelingt die Abwehr nur ungenügend, kann sich eine Infektionserkrankung ausbilden, die sich durch die Infektion weiterer Menschen ausbreitet. Kommt es durch die Schwäche vieler Individuen zu einer Epidemie, werden auch die Schwachstellen einer Gesellschaft sichtbar.
Die Wirkung von Sars-Cov-2 auf Menschen und Gesellschaften, die auf dem Weg sind, eine Weltgesellschaft zu bilden, hängt ab von der Ökologie zwischen Menschheit, Klima, Tier- und Pflanzenwelt. Mit dieser Ökologie stimmt die moderne Ökonomie nicht überein, die in Wachstum und Profit gründet und mit immer neuen Raumeroberungen ökologische Grenzen überschreitet. Die daraus folgenden Disbalancen sind oft nur schwer auszugleichen und auch für Menschen nur schwer zu ertragen. Das sind für die Invasion von Viren in das Biotop Mensch günstige Bedingungen: Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt zusammengedrängt in Städten; noch nie waren sich Menschen sowie Menschen und Tiere so nah wie heute; fast acht Milliarden Menschen und unzählige andere Lebewesen leben auf der Erde; Erreger sind heute genauso schnell unterwegs wie hochmobil Reisende; der Klimawandel und das Aussterben einer Tierart zwingen Viren, nach neuen Biotopen zu suchen; Zugvögel fliegen heute etwa 60 Kilometer weiter nach Norden, was den Austausch mit heimischen Vögeln und deren Ökologie beeinflusst; Menschen dringen in unbekannte Gebiete vor und treffen auf unbekannte Viren, für die ihr Immunsystem keine Antwort hat. Daher ist die Pandemie von Covid-19 eine kritische Frage nach dem Verhalten der Menschheit auf dem Planeten Erde, denn das neue Virus macht fühlbar, dass alle Menschen einer Welt angehören und die Verantwortung für die Ausbreitung des Virus mittragen.
Die erste Form der Quarantäne – Sesshaftigkeit
Quarantäne ist die Isolierung eines oder mehrerer Menschen an einem Ort. Deshalb kann man diese Ortsbindung des Menschen, seine Sesshaftigkeit, als erste Form der Quarantäne denken, mit der zugleich eine bestimmte Form der Krankheitsausbreitung in die Geschichte eintritt.
Jäger und Sammler lebten hauslos. Mit weiten Lungen, kräftigen Beinen und starkem Herzen waren sie an das permanente Unterwegssein unter freiem Himmel angepasst. Dann muss einmal die Idee entstanden sein, an einem Ort zu bleiben und sesshaft zu werden. Indem die Menschen davon träumten und sich darüber berieten, veränderten sie sich. Und zwar leiblich und mental bereits in genau die Richtung, in die sie sich veränderten, als sie wirklich anhielten.
Die Idee des Anhaltens erzeugt die Vorstellung von einem Haus, in dem Menschen unabhängig von Wetter und Jahreszeit leben, das Feuer bewahren und vor Großwild geschützt sind. Im Gegensatz zum großen All ist das Haus ein überschaubarer, Orientierung gebender Kosmos. Das Haus ist ein Oikos und das Urbild allen Wirtschaftens: Haushalten als Bewahren durch die Balance von Ein- und Ausfuhr. Mit dem Haus entstehen Besitz und Ökonomie und mit der zeitlichen Fassung durch Ernte und Tierhaltung beginnt für Sesshafte ein Leben unter Stress.
Für Häuser, Äcker, Ställe und Wege rissen Menschen den Erdboden auf – was ein Tabu war – und schufen ein neues Ökosystem. Bis dahin waren sich Menschen und Tiere noch nie so nah, was Mikroben die Möglichkeit bot, von Tieren auf Menschen und umgekehrt überzugehen (Zoonose). Das war der erste epidemiologische Übergang.
Die Sesshaftigkeit führt zu Bevölkerungswachstum und zur Differenzierung handwerklicher Fertigkeiten, was weitere Biotope wie Städte, Märkte und Handelswege nach sich zog. Für sie musste immer mehr Erdboden geöffnet, versiegelt oder in Nutzland umgearbeitet werden. In diesen Biotopen erhöhte sich die Zahl infizierbarer Individuen, eine Bedingung für eine mühelose Übertragbarkeit von Krankheitserregern und damit für Epidemien,[2] die hier entstanden.
Die Sesshaftwerdung ist ein Höhepunkt in der Evolution der Menschen. Sie leben intimer, erhöhen ihre Gemeinschaftsfähigkeit und begeben sich als Folge von Handwerk und den Umgang mit Tieren auf eine Bildungsreise, die sie auf geistige und schöpferische Höhen der Technik, Wissenschaft und Kunst geführt hat. Seit Beginn der Industrie haben sie die Erde nach und nach in Agrarland und mit technischen Produkten in eine Dingwelt verwandelt. Die Projekte wurden immer außerordentlicher – größer wie kleiner –, bis heute die Erdfläche pro Quadratmeter mit 50 Kilogramm Technik belegt ist. Gegen solche immensen Aktivitäten gelingt es nun einem winzigen Partikel, die Menschen anzuhalten, ihnen den Spaten aus der Hand zu nehmen und sie und die Vorgänge in der Gesellschaft zu verlangsamen.
Das Anthropozän und globale Infektionskrankheiten
Der Mensch ist ein Globalisierungswesen. Seine Besonderheit liegt darin, dass er Verstand und ein gutes Gedächtnis hat, geschickte Hände, ein potentes Gehirn und Selbstbewusstsein sowie Intelligenz und Kommunikationsfreude. So erweitert er stetig Wissen und Fertigkeiten, die er an nachfolgende Generationen weitergibt, die ihrerseits auf diesem erhöhten Niveau beginnen und es weiterentwickeln, um es wiederum nachfolgenden Generationen weiterzugeben, und so fort. Das ist die lange Geschichte der Kultur, in der die Sesshaftwerdung einen wichtigen Einschnitt darstellt, der einen Bevölkerungswachstum und einen Produktüberschuss bewirkt, weshalb nach und nach aus kleinen Gemeinschaften immer größere Einheiten wie Stadt, Reich und Kontinent werden, verbunden durch Land-, See- und Luftwege, bis sich die Menschen immer mehr zu einer Weltgemeinschaft vereinen, die in die Phase der Globalität mündet.
So hat sich der Mensch die Erde nutzbar gemacht und greift seit zwei Jahrhunderten so massiv in ihre biologischen, ozeanischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse ein, dass es plausibel erschien, als 2016 auf einem internationalen Geologen-Kongress ein neues geologisches Erdzeitalter ausgerufen wurde – das Anthropozän –, benannt nach den Wirkungen des Menschen auf der Erde, die noch in hunderttausend Jahren nachweisbar sein werden. Die Art des Wirtschaftens seit der Industrialisierung mit seinem Zwang zum Wachstum, seinen immensen globalen Warenströmen (Konsum) und Menschenströmen (Tourismus) verursacht Umweltverschmutzung, Klimawandel, Ressourcenverschwendung, krankmachende Arbeitsbedingungen, Verkehrstote und Produktionsauslagerungen in Billiglohnländer, die Menschen und Erde nicht vertragen. Sie hinterlassen die Phänomene des Anthropozäns wie Müllberge, Bodenversiegelungen, verseuchte Böden, nicht abbaubare Materialien, Kanal- und Rohrsysteme und Bergwerke sowie einen erhöhten Anteil von Stickstoff und Kohlenstoffisotopen in der Atmosphäre.
Jede Infektionskrankheit hat ihre Hochzeit
In seinem siebenbändigen Werk Epidemien beschreibt Hippokrates Infektionskrankheiten wie Influenza, Typhus, Lepra und Malaria. Seit dieser Zeit sind Epidemien beständige Begleiter der Menschheit.
Infiziert werden Menschenkörper und Gesellschaftskörper. Jede Art von Viren, Bakterien und Mikroben nimmt sich einen besonderen Teil des Körpers vor, um ihn zur Vervielfältigung zu nutzen oder in anderer Weise zu beeinträchtigen. Die Pest greift das Lymphsystem an und Cholera den Darm, die Pocken verwüsten die Haut und Influenza und Corona die Atemwege.
Bakterien und Viren sind erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt. Bis dahin waren Gründe für Infektionskrankheiten unbekannt. Günstige Heilungsverläufe hängen von gesunder Ernährung und Sauberkeit ab. Europa beginnt erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Beseitigung von Ausscheidungen menschlicher und tierischer Körper sowie anderer Arten von Abfall. Infektionserkrankungen brauchen bestimmte Bedingungen und haben daher eine Hochzeit.
Die Hochzeit der Pest in Europa ist das Mittelalter. Das Bakterium Yersinia pestis breitet sich auf Handelswegen von Asien nach Europa aus. In den fünf Jahren zwischen 1346 und 1351 erlagen ihm etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Die Krankheit überträgt sich von Tieren oder von Menschen auf Menschen durch Tröpfchen. Das Bakterium greift Lymphknoten an und kann auf das Blut übergreifen und Vergiftungen verursachen. Heute nehmen Impfstoffe der Erkrankung das Tödliche.
Die Hochzeit der Pocken in Europa ist das 18. Jahrhundert. Es war selten, wenn jemand nicht vom Pocken-Virus Orthopoxvirus variolae infiziert war.[3] Durch kleine Tropfen übertragen traten Fieber und Schüttelfrost auf. Die gesamte Haut ist von Eiterbläschen und ihren Verkrustungen übersät. Die Opfer werden oft blind, taub oder gelähmt. Ein Drittel der Erkrankten stirbt, die anderen bleiben meist durch Narben gezeichnet. Das Virus zielt auf die Haut. Es ist das Zeitalter der Aufklärung, historisch eine Zeit der Unsicherheit.
Amadeus Mozart, Friedrich der Große, Joseph Haydn, Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller litten an Pocken. Es heißt, Kaiserin Maria Theresia ließ alle Spiegel im Schloss verhängen, um nicht ihr entstelltes Gesicht sehen zu müssen.[4] Impfungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts haben die Pocken zurückgedrängt, bis die WHO, nach einer weltweiten Impfpflicht, 1980 die Welt für pockenfrei erklärt. Pockenviren existieren nur noch im Center for Disease Control and Prevention in Atlanta und im Laboratorium VECTOR in der Nähe von Nowosibirsk.
Die Hochzeit der Cholera in Europa ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Verursacht durch unreines Trinkwasser. Epidemisch trat sie zuerst 1817 auf, dann 1831 in Moskau, Warschau und Paris, 1852 bis 1860 in Russland und 1892 in Hamburg. Das Cholera-Bakterium Vibrio cholerae findet seinen Wirt in Darmzellen. Es verursacht eine Dehydrierung durch starken Durchfall. Das Bakterium grassiert in schnell wachsenden Städten mit dem Beginn der Industrialisierung. Großstädte trennten Trink- und Abwasser noch nicht, weshalb Industrialisierung, rasches Städtewachstum, unsauberes Trinkwasser, Armut und die Enge der Lebensräume Ursachen für Cholera sind. Grundlegende Veränderungen der Kanalisation und der Trinkwasserversorgung machen diese Erkrankung in westlichen Ländern selten. Da es geeignete Therapien mit Antibiotika und prophylaktische Impfungen gibt, verlaufen Erkrankungen nur noch selten tödlich.
Die Hochzeit der Influenza-Viren ist das 20. und 21. Jahrhundert und die der Corona-Viren könnte das 21. Jahrhundert werden. Die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts ist durch Sars-Cov (Severe acute rispiratory Syndrom) verursacht. Die Erreger dringen durch Tröpfchen und Aerosole in die Atemwege ein. Corona-Pandemien wie SARS-CoV (2002), Schweinegrippe (2009), MERS-CoV (2012) und Sars-CoV-2 (2019) können jederzeit wieder ausbrechen. Indem Influenza- und Coronaviren auf den Atem zielen, nehmen sie den Menschen das Lebensmittel, das sie sich bereits selbst durch ihre Lebensweise durch Autoabgase, gewaltige Rinderherden, das Verbrennen fossiler Stoffe und die Entwaldung der Erde nehmen.
Influenza-Viren und Sars-CoV-2
Influenza- und Corona-Viren machen Dreiviertel der neuen Erreger aus. Sie sind die Erreger unserer Zeit. Mühelos bewegen sie sich zwischen Tier- und Menschenpopulationen und mutieren außerordentlich schnell. Da Epidemien verursacht durch Influenza- und Corona-Viren auf die Nutzung und den Verzehr von Tieren zurückgehen, und sich diese Nutzung stetig ausweitet, lag das Eintreten einer Pandemie in der Luft.
Influenza-Viren verbreiten sich jedes Jahr neu. Sie kommen im Winter, weil sie sich in der trockenen Luft länger halten und weil sie Varianten mitbringen, die auch dadurch zustande kommen, dass Viren Teile ihrer RNA austauschen und sich zu einem neuen Virus verbinden können. RNA ist eine einstrangige Nukleinsäure, die in der Zelle die genetische Information der DNA transportiert und umsetzt in Proteine, die die vielfältigen Arbeiten in der Zelle verrichten. Bei Viren ist die RNA zugleich die gesamte Erbanlage. Die Quelle (Reservoir) aller Influenza-Viren sind wilde Wasservögel. Enten, Gänse, Seeschwalben und Möwen tragen sämtliche Typen dieser Viren in sich, ohne daran zu erkranken.
Da das Roden der Wälder voranschreitet und Wildtiere aus ihren Ökosystemen vertrieben werden, treffen Tiere immer häufiger und intensiver mit Menschen zusammen und begünstigen das Übertragen neuer Viren. Auch dadurch, dass die Mehrzahl der Menschen zusammengedrängt in Städten lebt und die hygienischen Verhältnisse oft unzureichend sind, verbreiten sich Viren. Dazu kommt, dass weltweit Menschen auf der Flucht vor Krieg, Armut, Naturkatastrophen und politischer oder religiöser Verfolgung sind, oft gesundheitlich angeschlagen, was sie anfällig für Infektionskrankheiten macht. Auch die lückenlosen Transportnetze des internationalen Personen- und Warenaustausches tragen zur Verbreitung bei. In weniger als zwei Tagen kommen Erreger an jeden Ort der Erde. Wie der Klimawandel: Aktuell breitet sich die Nutria mit etlichen Erregern im Gepäck in Europa aus – auch wegen der milden Winter.
Influenza-Viren finden in der Agrarindustrie mit ihrer Massentierhaltung gute Bedingungen für ihre Ausbreitung. Die Welttierschutzgesellschaft WSPA, die WHO und Wissenschaftler weltweit verweisen seit Jahrzehnten darauf, dass Massentierhaltung und Virus-Pandemien miteinander zusammenhängen. Treffen Influenza-Viren auf solche Großfarmen, gibt es keinen Schutz für die Tiere: so können die Viren auf mehr als hunderttausend infizierbare Tiere an einem Ort treffen, immer aber auf erschöpfte Tiere – durch Krankheit, Verletzungen, Stress und das beständige Verfüttern von Antibiotika. Von solchen Farmen sind in den vergangenen Jahrzenten zahlreiche Epidemien und Pandemien ausgegangen.
Sars-CoV-2 ist rund und stachelig. Ein interessanter Athlet, ausgestattet nur mit dem Allernötigsten: Sein Erbgut, eine RNA, ist in einen Lipid-Beutel eingepackt, auf dem Stacheln angeordnet sind, mit denen es sich an Zellen eines Wirts bindet. Ausgerechnet die Wirtszelle selbst gibt dem Virus Einlass. Über den Rezeptor ACE2 des Wirts kann das Virus sein Erbgut in die Zelle schleusen, und sich mit Hilfe der Zellwerkzeuge replizieren.
Sars-CoV-2 unterscheidet sich erheblich von anderen Coronaviren: Es hat eine längere Inkubationszeit, bindet sich fester an den Rezeptor der Wirtszelle, breitet sich rasanter aus, weil seine Primärinfektion in den Schleimhäuten von Nase und Rachen erfolgt. Erst danach taucht es in die Lunge ab, kann aber auch den gesamten Körper befallen. Die Primärinfektion seines Vorgängers, Sars-CoV erfolgt in der Lunge: Um andere zu infizieren, muss es tief aus der Lunge herausgehustet werden.
Die Lunge ist ein feines Geflecht. Gelangt Sauerstoff in die Lungenbläschen mit ihren hauchdünnen Wänden, die an hauchdünne Wände der Blutgefäße anlagern, findet in diesem Berührungsraum der Gasaustausch statt. Zwischen Lungenbläschen und Blutgefäßen spielen sich die Dramen ab, die Sars-CoV-2 so oft inszeniert. Gelangen Viren in die Lungenbläschen und erobern Lungenbläschenzellen, blockiert sie Rezeptoren, an die sie sich anheften, und die zuständig für die Regulierung des Wasserhaushalts der Lunge sind. Die Lunge wird so wasserdurchlässig, erzeugt mehr Flüssigkeit, die aus dem Gewebe in die Lungenbläschen drängt, den Gasaustausch behindert und Atemnot und Erstickung verursachen kann.
Das hochinfektiöse Virus hat das Jahr 2020 zu einem globalen An- und Innehalten gemacht. Seine Heftigkeit hat unterschiedliche Krisen hervorgerufen: die Krise der Gesundheit, der Sozialität, der Wirtschaft, des Denkens und der Existenz. Zurückgeworfen auf sich und ihre Familien haben Menschen Einschränkungen und vorübergehende Einbußen ihrer Rechte erfahren, doch die Quarantäne hat sie auch aufmerksamer, empfindlicher und nachdenklicher gemacht.
Das Corona-Virus ist in jeden Ort und sozialen Winkel der Erde eingedrungen und zeigt, wie global die Menschen miteinander verkehren. Sie macht auch sichtbar, dass die Menschen über ihre Verhältnisse leben und die Pandemie eine Folge des grenzüberschreitenden Umgangs mit dem Planeten ist. Wie es in der ungelösten Frage nach dem Wohin mit dem Abfall offenbar wird: Wohin mit den radioaktiven Substanzen, der Gülle oder dem Plastik? Es ist der Abfall, der uns die Kreisläufe auf der Erde erkennen lässt, und der uns lehrt, zu recyceln.
Nicht jedes Gebiet der Erde eignet sich zur Unterwerfung durch Menschen und nicht jedes Lebewesen eignet sich für den Menschen zum Verzehr. Wildtiere können mit manchen Viren leben, die aber den Menschen töten. Wildtiermärkte und viele Wälder sollten für Menschen Tabu sein. Wenn Tiere und Pflanzen, das Unbelebte und die Kultur des Menschen in ihrer Vielfalt und Vitalität erhalten bleiben sollen, sind die Menschen gezwungen, ihre Grenzen neu abzustecken.
Resilienzarbeit
Seit jeher begleiten Geschichten und Mythen Epidemien. So wollen sich die Menschen Angst und Unsicherheit nehmen in einer unsicher gewordenen Welt. Heute sind Mythenerzähler oder Verschwörungsideologen diejenigen, die das Sars-CoV-2 ignorieren oder für ungefährlich halten und dadurch seine Ausbreitung befördern können. Es werde Panik zugunsten der Pharmaindustrie und einer Impfpflicht erzeugt oder um das Einschränken demokratischer Grundrechte plausibel zu machen. Die Schuld für die eigene Angst wird vom Virus auf Personen, Institutionen oder überirdische Mächte verschoben und spaltet die Gesellschaft.
Eine konstruktive Form des Erzählens bietet dagegen Il Decamerone von Giovanni Boccaccio. Im Jahr 1348 herrscht in Florenz die Pest. Zehn Frauen und Männer verlassen die Stadt des Elends und des Todes und begeben sich für vierzehn Tage auf ein Landgut. Sie erzählen sich an zehn Tagen hundert Geschichten über Unheil und Glück, Wagemut und Liebe. Erzählen wird zum Gegenspieler des Pestbakteriums. In festen Tagesabläufen gestalten die zehn Personen ihr Leben neu. Sie essen und trinken gut, erzählen und tanzen in angenehmer Umgebung und machen sich in einer existenziell kritischen Zeit das Leben so angenehm als möglich. Sie bleiben zuversichtlich und verbessern, nach Boccaccio, ihre Überlebenschancen, weil Erzählen psychische, physische und moralische Abwehrkräfte stärkt und weil gegen ein starkes Immunsystem – die Resilienz – Pestbakterien weniger ausrichten können. Durch das Erzählen, dem wesentlichen Bindemittel einer Gemeinschaft, kehren die Zehn nach vierzehn Tagen moralisch gestärkt zurück nach Florenz. Boccaccio hat ein Werk der Lebens- und Überlebensklugheit verfasst: In freiwilliger Quarantäne schaffen sich die Akteure einen Denk-, Fühl- und Handlungsbezirk, in dem sie achtsam sind und respektvoll miteinander umgehen und so ihrem Leben Sinn, Wichtigkeit und Zukunft geben.
Sars-Cov-2 als Katalysator gesellschaftlicher Erneuerungen
Mein persönliches Zukunftsparadox: Zukunft Realität werden lassen, bevor sie eintritt. Nicht passiv warten, sondern praktisch realisieren im Moment. Es entspricht meiner Idee, dass Menschen, als sie überlegten, sesshaft zu werden, sich bereits leiblich, mental, psychisch und sozial in die Richtung veränderten, in die sie sich dann als Sesshafte tatsächlich verändert haben. Vergleichbar der Idee der Re-Gnose von Matthias Horx: „Wirklichkeit entsteht durch eine Vision, die auf uns zurückwirkt.“[5]
Die Corona-Krise offenbart die Schwächen der Systeme aus moderner Wirtschaft und Politik, Gesellschaft und Kultur, macht aber auch auf zwei Wege in die Zukunft aufmerksam: das Zurückdrängen der Phänomene, die zum Anthropozän führen und Solidarität. Die Corona-Krise hat zukünftige Handlungsmöglichkeiten vorweggenommen: Politik trifft wieder politische Entscheidungen, Solidarität ist gewachsen, Unternehmen denken um und ziehen ökologische Konzepte aus der Schublade. Gesundheits- und Vorsorgesysteme werden ernster genommen und die Form globaler Verkehrs-, Kommunikations- und Transportstrukturen stehen vielfach zur Disposition.
Politik hat einen Paradigmenwechsel vollzogen. Sie hat die Herausforderung angenommen und Entscheidungen zum Wohl der Allgemeinheit und gegen die Wirtschaft getroffen. Das ist bemerkenswert, denn Unternehmen sind seit langem international ausgerichtet, Politik eher national. Nun richtet sie sich auf das Ganze, verliert aber auch das Besondere nicht aus den Augen. Adäquat bei einer weltweiten Infektion wäre eine Innenpolitik der Welt – eine Weltinnenpolitik, die in einer weltweiten Kooperation gründete. Politik hat richtig gehandelt und die Symptome kuriert, doch der nachfolgende Schritt muss die politische Beschäftigung mit den Ursachen der Pandemie sein: Urbanisierung, Agrarindustrie, Klimawandel, Entwaldung, zerstörte Ökosysteme, internationale Großtransporte sowie Flucht und Migration. Menschen gehören nicht in jeden Winkel des Planeten, auch deshalb nicht, weil ihnen ein geeignetes Immunsystem fehlt. Immerhin werden zurzeit Programme erdacht, die in diese Richtung zielen: Förderung von Handwerk und Anbau regionaler Produkte, Reduktion von Plastik, Verwendungsbegrenzung von Gülle, Kontrolle von Lieferketten und Verantwortlichkeit für das Verhalten von Sub-Sub-Unternehmen. Auch an einem Gesetz zur Rettung des Tierwohls wird gearbeitet. Künftige Aufgaben der Politik bestehen auch darin, die Gesundheit der durch Straßenverkehr, Migration, Armut und Klimawandel belasteten Menschen zu schützen, so, wie sie sich um Leben und Gesundheit der Covid-19-Erkrankten bemüht und durch Hilfsprogramme Branchen in der Krise gestützt hat.
Solidarität als eine Grundlage menschlichen Zusammenlebens wird in der Corona-Krise praktiziert. Viele Menschen gehen wieder respektvoll miteinander um, helfen einander – getragen von einem Wirgefühl mit den Maßgaben gegenseitiger Rücksicht, Gewaltfreier Kommunikation, Toleranz und ein erfolgreicher Umgang mit Unsicherheiten und Widersprüchen (Negativ Capability). Das sich so einstellende Gefühl der Kohärenz ist hilfreich bei der Bewältigung von Schwierigkeiten aller Art. Menschen praktizieren in der Quarantäne, was in den vergangenen Jahrzehnten zu kurz kam – Fürsorge, Hilfsbereitschaft, gegenseitige Verantwortung und Reduzierung übermäßigen Konsums. Mit der Folge, dass weniger Straßen- und Luftverkehr stattfindet, die Luft verbessert ist und Menschen in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, die in einer solchen Krise ihre Arbeit verrichten und doch ständig der Gefahr der Ansteckung ausgeliefert sind wie Pfleger und Ärzte, Verkäufer, Kitaangestellte, Fahrer und Lehrer.
Wirtschaft erprobt unter globalen Bedingungen bereits weltweit neue Formen, indem sie Produktion und Vertrieb, Gemeinschaft, Verantwortung und Ressourcenerhalt zusammenbindet. Nicht Profit und Wachstum, nicht überdimensionierte Containertransporte, Auslagerung der Produktion, Massenproduktion und lange Lieferketten – das macht die weltweiten Systeme instabil –, sondern die Erweiterung des Globalen durch das Regionale, denn die Dezentralisierung von Produktion und Vertrieb spart Ressourcen und Energie, stabilisiert Klima und Umwelt und schafft Transparenz.
Gesundheit ist eine Basis gesellschaftlichen Wohls und persönlichen Wohlbefindens. Das sind Zustände der Zufriedenheit, die bei Pandemien auf dem Spiel stehen. Was viele vor Corona als Stress, Beschleunigung und Fremdheit am Arbeitsplatz erlebten, hat sich im Homeoffice vielfach in Angemessenheit und Langsamkeit verkehrt. Es zeigt: Die Lebensweisen vor der Krise waren nicht alternativlos. Wie Geschäftsreisen, denn Konferenzen und Meetings ließen sich erfolgreich auch online durchführen. Auch Schule fand online statt. Wohlbefinden fördernde und Leben erhaltende Tätigkeiten sind Aufgaben der Medizin und der Pflege, elementare Prinzipien des Zusammenlebens, die nicht den Regeln des Marktes unterliegen dürfen. In diese Branchen ist weiter zu investieren, um das Wohl alter und kranker Menschen zu erhalten, und um Infektionserkrankungen früh erkennen, Viren erfolgreich erforschen und Erkrankte besser behandeln zu können. Über das Erzählen gegen das Virus, durch Kunst und Kultur und mit Gelassenheit können wir mit dem Corona-Virus in Kontakt treten, das jedem zu sagen scheint: Gib Dir eine Haltung, die dich von innen trägt. Kinder kennen sich noch damit aus. Auch scheinen sie durch Sars-CoV-2 nicht so leicht infizierbar zu sein wie Erwachsene. Einer der Gründe könnte Lachen sein, das vielfältig das Immunsystem stärkt: Kinder lachen etwa 400 Mal am Tag, Erwachsene 15 Mal.
Globalität ist eine zukünftige Etappe der Menschheit. Ihr Eintritt wird durch Corona beschleunigt, denn vieles, was sich in der Krise verändert, war schon zuvor bekannt. Daher ist das Virus kein Unfall, sondern Folge unserer Art und Weise, wie wir mit uns und mit dem Planeten umgehen. Wir müssen endlich spüren und annehmen, dass es für alle nur eine Erde gibt, mit der wir verantwortungsvoll umzugehen haben. Viele spüren, dass es ihr eigenes Haus ist, und dass sie es sind, die es einrichten und pflegen müssen. Daher ist Globalität eine weltweite Kooperation mit dem Sinn der Gemeinschaftlichkeit und Gerechtigkeit sowie des fairen Handels und friedfertigen Umgangs der Menschen miteinander. Da der Mensch der Globalität als Mensch in der Gemeinschaft gedacht wird, kommt zum Prozess weltweiter sozialer Regelungen die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt hinzu: Schon das heutige Maß an Globalisierung hat ein Bewusstsein für das Soziale und für den Zustand des Planeten geschaffen.
Perspektiven haben sich wie von selbst eingestellt: Das Virus hat Menschen geweckt: sie entdecken ihre Hilfsbereitschaft, der Smog in den Städten ist geringer, Millionäre fordern höhere Steuern für sich, die Wohlhabenden, um Corona-Schäden zu finanzieren, Pfleger und Ärzte erhalten die ihnen angemessene Anerkennung, Schulen verbessern die Arbeit mit digitalen Medien, Fußgänger und Fahrradfahrer werden im Straßenverkehr gestärkt – kurzfristig angelegte Wege für Radfahrer, die Pop-Up-Radwege, heißen auch Corona-Radwege – und viele stellen sich die Frage, was ihnen im Leben wirklich wichtig ist.
Athleten des Minimalismus müssen wir nicht sein, könnten aber prüfen, wie gut uns maßloser Konsum, unablässige Verfügbarkeit, dinglicher Reichtum, Karriere und Eile wirklich tun. Zukunft haben bedeutet, dass der Rest des Konsumierten (der Abfall) der Erde zuführbar bleibt. Philosophie beginnt mit der kritischen Selbstbetrachtung und so könnten wir mit New-Work-Begründer Fritjof Bergmann radikal nach dem Sinn unseres Handelns fragen. Nicht, was will ich, oder was will ich wirklich, sondern die Frage muss lauten: „Was will ich wirklich, wirklich?“ Viele Begrenzungen werden sich nicht als Enge erweisen, sondern als Konzentration und erhöhter Genuss, und sich ins Freie öffnen. Wir ahnten es längst und so könnte jeder das Wagnis eingehen, sich und allen anderen gegenüber als großer Mensch zu handeln.
Literatur
Internet Umwelt Bundesamt/ Für Mensch und Umwelt: Themen/ Boden-Landwirtschaft/ Kleine Bodenkunde/ Entwicklung des Bodens
Hassett, Brenna, Warum wir sesshaft wurden und uns seither bekriegen, wenn wir nicht gerade an tödlichen Krankheiten sterben, Darmstadt 2018
Horx, Matthias, Die Zukunft nach Corona, Berlin 2020
Vasold, Manfred, Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa, Stuttgart 2018
[1] Umwelt Bundesamt
[2] Hassett, S. 214
[3] Vasold, S. 154
[4] Vasold, S. 154
[5] Horx, S. 72
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