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Online-Vortrag Hochschule Coburg, 9. Dezember 2021

im Rahmen eines Seminars von Professor Dr. Christian Holtorf




Pressetext von Christian Holtorf: Der Mensch als Biotop von Viren – die Erde als Biotop von Menschen:

Globalisierung und Infektionskrankheiten


Epidemische Infektionserkrankungen sind in der Ökologie des Lebens verankert. Das behauptet der Berliner Philosoph und Kulturwissenschaftler Dr. Hajo Eickhoff. Er hat den Zusammenhang zwischen Pandemie, Ökologie und Globalisierung untersucht. Seine Ergebnisse stellt er auf Einladung der Hochschule nun in Coburg vor. 

    Warum konnte sich der Corona-Virus so konsequent über den Globus verbreitet? Wie hängt „Sars-Cov-2“ mit unserer Lebensweise zusammen? Was können wir jenseits von Impfschutz und Distanzregeln aus der Pandemie lernen? Eickhoff behauptet, dass alle Menschen die Verantwortung für die Ausbreitung des Virus mittragen müssen. Der Virus zeige, so Eickhoff, dass wir eine Innenpolitik der Welt brauchen, die das Verhalten der Menschheit auf dem Planeten Erde in den Blick nimmt.

    „Unsere Lebensweisen vor der Krise waren nicht alternativlos“, sagt der Berliner Philosoph. Er betrachtet die Menschheitsgeschichte im Spiegel der Infektionskrankheiten und stellt fest: „Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt zusammengedrängt in Städten. Noch nie waren sich die fast acht Milliarden Menschen und unzählige andere Lebewesen auf der Erde so nah wie heute. Erreger sind heute genauso schnell unterwegs wie hochmobil Reisende.“ 

    Der Digitalvortrag findet auf Einladung des Coburger Wissenschaftsforschers Professor Christian Holtorf statt. Er möchte Eickhoffs Thesen zu Gesundheit und Ethik mit seinen Studierenden und allen interessierten Coburgerinnen und Coburgern diskutieren. Die Teilnahme ist über den Zoom-Link ... möglich.

    Wann: 9. Dezember, 13.00 - 14.30 Uhr

    Wer: Dr. Hajo Eickhoff, Philosoph und Kulturwissenschaftler, Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Ethik, Design, Gesundheitsphilosophie und Kulturgeschichte.​




Weltverhalten und Pandemie

  

I. Gründe

 

Wissenschaften beschäftigen sich mit physikalischen, chemischen, biologischen und kulturellen Phänomenen, und suchen nach Ursachen. Philosophie fragt nach dem Sein und den Gründen, Kunstgeschichte befragt Kunstwerke nach ihren Formen in Raum und Zeit, um sie zu verstehen, und die Gesundheitswissenschaft fragt nach physischen, psychischen und sozialen Bedingungen von Gesundheit oder nach Ursachen für das Entstehen von Krankheiten – das ist die Ätiologie, in der Medizin und der Epidemiologie von großer Bedeutung.

 

Sechs einfache und doch überraschende Sätze

 

1. Eine Pandemie beginnt mit einer einzigen Infektion.

2. Eine Pandemie kann auf jeder Ebene durch Mutation neu beginnen.

3. Pandemien gibt es erst ab 1889.

4. Erreger sind heute so schnell unterwegs wie Waren und Menschen.

5. Pandemien gibt es nur bei Menschen.

6. Pandemien stammen bisher nur von Viren.

 

 

II. Die Zelle

 

Viren zielen auf die kleinste Lebenseinheit des Lebens – die Zelle. Leben beginnt mit einer einzigen Zelle. Ihr Wesen ist Kommunikation und Entwicklung: Einverleibung, Umbau, Speicherung und Ausscheidung, da jede neu angeeignete Fähigkeit bewahrt wird. Das Entstehen der ersten Zelle aus anorganischen Substanzen dauerte Jahrmilliarden. Ebenso lange brauchten sie, um sich zu Zweizellern zusammenschließen zu können. Einzeller entwickeln sich immer weiter. Sie kooperieren oder bekämpfen sich. Etwa wenn sie sich Bakterien einverleiben und diese nicht verdauen, sondern zu Mitochondrien umarbeiten. Dieses gerichtete Suchen ist ein praktischer Erkenntnissinn: Eine Amöbe kann eine andere Amöbe als Beute erkennen und verfolgen, während die Verfolgte den Angriff erkennt und flieht.

 

Zellen schließen sich zu immer komplexeren Zellsystemen wie Organen zusammen, die zu Pflanzen und Tieren werden. Sie koordinieren ihre Aufgaben durch einen unablässigen Austausch mit nahezu allen anderen Zellen. Ein permanentes milliardenfaches Telefonieren, so dass sich Leben und Überleben auf Zellebene abspielen. Aus wenigen Zellen des Anfangs haben sich alle Pflanzen- und Tierarten entwickelt.

 

Mikroorganismen arbeiten auf und in Lebewesen. Sie wehren Gefahr durch Eindringlinge ab und sind bei nahezu allen Körperfunktionen beteiligt. Menschen sind von mehr Bakterien besiedelt als sie Zellen haben. Doch Bakterien, Pilze, anorganische Gifte und Viren können Lebewesen auch schädigen.

 

 

III. Herkunft von Viren

 

Viren sind Grenzgänger zwischen Leben und Nichtleben. Sie brauchen funktionsfähige fremde Zellen, um sich zu vermehren. Zugang verschaffen sie sich durch die Beschaffenheit ihrer Oberfläche.

 

Corona-, Influenza- Und Ebolaviren stammen von Wildvögeln wie Möwen und Fledertieren ab. Warum Vögel? Vögel benötigen für Flug viel Energie, was viele freie Radikale freisetzt. Im Laufe der Evolution haben sie gelernt, diese Radikale abzuwehren. Wenn gefährliche Kleinstlebewesen Menschen infizieren, reagieren diese mit Entzündung – Fieber und Anschwellung durch die Produktion von Antigenen und die Vermehrung von Interferonen. Bei Wildvögeln und Fledertieren ist das Protein Interferon-Alpha permanent ein aktiver Teil des Immunsystems, es muss nicht erst wie bei Menschen bei Virenangriffen analysiert und dann eingesetzt werden. Wenn Viren von Lebewesen mit einem so starken Immunsystem Menschen infizieren, ist deren Immunsystem überfordert.

 

Infektionskrankheiten durch den Übergang von Tieren auf Menschen heißen Zoonosen. Sie machen Zweidrittel aller Infektionskrankheiten aus. Infizierte können dann weitere Menschen anstecken. Anthroponosen sind Infektionserkrankungen, bei denen Mikroorganismen nur von einem Menschen auf andere Menschen übergehen, wie bei Pocken, Lepra, Cholera oder Typhus.

 

 

IV. Sars-CoV-2

 

Viren sind Grenzgänger zwischen Leben und Nichtleben. Sie brauchen funktionsfähige fremde Zellen, um sich zu vermehren. Zugang verschaffen sie sich durch die Beschaffenheit ihrer Oberfläche.

 

Sars-CoV-2 ist rund, stachelig und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Sein Erbgut ist eine einstrangige RNA und sein Kapsid ein Lipid-Beutel mit Spikes. Die Spikes eignen sich nur für eine Proteinart – den Rezeptor ACE2. Weist ein Wirt dieses Protein auf seiner Oberfläche auf, kann sich das Virus anbinden und die RNA in die Wirtszelle schleusen, wo es seine Vervielfältigung auslöst. Danach verlassen die neuen Viren die Zelle und greifen weitere Zellen an.

 

Der Unterschied zu Sars-CoV besteht in einer längeren Inkubationszeit und in einer festeren Bindung an den Rezeptor. Sars-CoV-2 breitet sich rasanter aus, weil seine Primärinfektion in den Schleimhäuten von Nase und Rachen erfolgt. Erst dann taucht es in die Lunge ab. Die Primärinfektion von Sars-CoV erfolgt in der Lunge: Um andere Menschen zu infizieren, mussten Viren tief aus der Lunge gehustet werden.

 

Beim Einatmen gelangt Sauerstoff in Lungenbläschen – hauchdünne Wände, die an hauchdünne Wände der Blutgefäße anlagern. In diesem Berührungsraum findet der Gasaustausch statt. Genau hier spielen sich die Dramen ab, die Sars-CoV-2 oft inszeniert. Gelangen Viren in die Lungenbläschen und erobern Zellen, blockieren sie Rezeptoren, die Wasserhaushalt der Lunge regulieren. Die Lunge erzeugt zu viel Flüssigkeit, die aus dem Gewebe in die Lungenbläschen drängt, den Gasaustausch behindert und Atemnot verursacht.

 

Sars-CoV-2 hat Krisen der Gesundheit, Sozialität, Wirtschaft sowie des Denkens und der Existenz hervorgerufen. Zurückgeworfen auf sich und ihre Familien haben Menschen Einschränkungen ihrer Rechte erfahren, doch es gibt auch Chancen, denn viele Menschen sind aufmerksamer, sensibler, nachdenklicher geworden.

 

Das Corona-Virus zeigt, wie eng und global wir miteinander verkehren, wie sie über unsere Verhältnisse leben und dass die Pandemie eine Folge unseres grenzüberschreitenden Umgangs miteinander und mit der Erde ist. Wie die Frage nach dem Wohin mit dem Abfall offenbart: Wohin mit radioaktiven Substanzen, der Gülle, dem Plastik? Abfall lässt uns erkennen, dass wir eine Kreislaufwirtschaft brauchen.

 

 

V. Sesshaftwerdung und die Öffnung des Bodens

 

Menschen zogen Millionen von Jahre umher, nahmen, was Natur bot. Sie produzierten nichts. Bis eines Tages die Idee entstand, anzuhalten, an einem Ort zu bleiben und sesshaft zu werden. Die Sesshaftwerdung zeichnet sich durch drei wesentliche Eigenschaften aus.

 

1. Menschen lebten eng mit Tieren zusammen. Daher kam es immer wieder vor, dass Erreger von Tieren auf Menschen übersprangen, ihn infizieren. Die Infektion einer einzigen Person ist nicht tragisch, doch je mehr Menschen eng zusammenleben, desto größer war die Möglichkeit, dass eine große Zahl Menschen infiziert wurde und eine Epidemie auslöste. Deshalb heißt die Zeit der Sesshaftwerdung den Paläobiologen Epidemiologischer Übergang, da nun Epidemien möglich wurden.

 

2. Der Erdboden wurde trotz Verbot geöffnet. Mutter Erde durfte nicht verletzt werden. Das hatte Gründe, denn die obere Erdschicht ist eine Grundlage allen Lebens. Vor dem Leben auf der Landmasse wurde diese Schicht von Kleinstlebewesen gelockert, durchwässert, durchlüftet und mit Mineralien angereichert. Dadurch fand kommendes Leben geeignete Lebensräume und Nahrung. Diese Bodenschicht, der Humus, ist das Biotop kleinster Lebewesen.

 

3. Die Dingproduktion begann. Die Öffnung des Bodens machte sie möglich. Hände entnahmen ihm Materie und formten sie zu Gebrauchsgütern, Werkzeugen und zu Elementen der Infrastruktur – zu Produkten. Hände führten (ducere) Materie hervor (pro).

 

 

VI. Anthropozän

 

Unaufhörlich entwickelt sich das Leben durch Mutation und Variation. Seine Vielfalt entsteht im ununterbrochenen Jagen und Verteidigen, Kooperieren, Ausruhen und Speichern. Dringen Menschen in ein ihnen unbekanntes Biotop wie den Urwald ein, können Mikroorganismen in ihn eindringen, für die sein Immunsystem keine Antwort hat. Sie können ihn infizieren und eine Pandemie auslösen.

 

Da die Erde ein Biotop aller Menschen, der Humus ein Biotop für unendlich viele Kleinstlebewesen und der Mensch ein Biotop für Mikroorganismen ist, sind epidemische wie pandemische Infektionserkrankungen verankert in der Ökologie der Erde. Wie gravierend ein unüberlegtes Eingreifen in die Erde ist, zeigt sich darin, dass es 300 Jahre zum Aufbau einer ein-zentimeter dicken Humusschicht braucht.

 

Ohne einen feuchten, kräftigen und mineralhaltigen Humus gäbe es kein Leben. Mit der Öffnung des Bodens und dem Herausnehmen von Materie aus dem Boden und dem Formen von Stoff entstehen Dinge, Gegenstände und Produkte. Wenn Menschen diese Bodenschicht öffnen, versiegeln, die Produkte auf den Boden stellen, vergiften und Siedlungen durch eine Infrastruktur miteinander verbinden, verliert der Boden an Struktur und Fruchtbarkeit, was zur Dezimierung von Kleinstlebewesen und in der Folge von größeren Pflanzen und Reptilien, Vögeln und Säugetieren führt – das ist das Artensterben.

 

Die Weltbevölkerung wächst, Wissen und Technik werden revolutioniert, Eingriffe des Menschen sprengen Grenzen und die Erde wird vollgestellt mit Infrastruktur und Technik. Luft, Wasser und Boden werden verschmutzt und das Klima wandelt sich. Mit der Industrie werden all diese Eingriffe so potenziert, dass der Mensch zur Naturkraft wird und bleibende Veränderungen des Planeten verursacht – das Zeitalter des Anthropozäns bricht an.

 

Begleitet wird diese Zeit von Flucht vor Krieg, Armut, Naturkatastrophen und politischer oder religiöser Verfolgung, was Flüchtlinge gesundheitlich angreift und sie anfällig für Infektionskrankheiten macht. 

 

 

VII. Ohne Pandemien leben

 

Zehn Anregungen für eine Zukunft ohne Pandemie

 

1. Wirksam gegen Pandemie: gefährlichen Viren aus dem Weg gehen.

2. Politik muss das Weltgemeinwohl sichern.

3. Verantwortung für Zukunft – wie Biologen Epidemiologen, Umweltforscher.

4. Das ist Teil eines Frühwarnsystems auf Weltebene.

 

5. Zoonosen werden Anthroponosen, die leichter zu bekämpfen sind.

6. Internet neu ordnen – Hassreden, Verschwörungsideen unterlaufen.

7. Weltbildung erarbeiten, denn Bildung ist Basis nachhaltigen Tuns.

8. Selbstkritik üben, keine Sündenböcke suchen.

9. Zukünftiges vor ihrer Realisierung verwirklichen – Regnose.

 

10. Umdenken: (Corona)-Fahrradwege schaffen, achtsam miteinander umgehen, nachhaltig konsumieren, eine Kreislaufwirtschaft sichern, gewaltfrei kommunizieren, Vertrauen lernen, Grenzen des Verhaltens und Handelns neu abstecken.

 


© Hajo Eickhoff 2021



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