aus: Peters, Andrea/ Plüm, Kerstin (Hrsg.), in: Die 60er. Positionen des Designs, Köln 1999
Die Kultur
Die Menschheit wird in den 60er Jahren von emotionalen Eruptionen erfasst. Von Wellen des Umbruchs und der Erneuerung. Von kulturellen Aufbrüchen. Rebellionen und Reformen erfassen die Kulturen. Die Erschütterungen sind tiefgreifend und betreffen das Dasein des einzelnen ebenso wie die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens. Politische und wissenschaftliche, technische und ästhetische Beben. Die eruptive Kraft ist global. Nicht einzelne Länder oder Gesellschaften sind betroffen, die Menschheit als ganze wird in eine Existenz veränderter Grundlagen gestürzt und ein neues kulturelles Netz legt sich um die Erde.
Tradierte Pfade werden verlassen, neue Lebenswege gesucht. Als Ideal gilt eine gleichberechtigte, friedliche Gesellschaft, in der jeder einzelne eine politische Kraft darstellt und seinen Lebenssinn finden kann. So unterschiedlich die betroffenen Kulturen auch sind und sich im Rahmen der eigenen Geschichte entwickeln, die Ziele, auf die hin sie ihre Probleme zu lösen versuchen, weisen in die Richtung individueller Eigenständigkeit und zunehmender Gleichheit. Kämpfen die einen für größere Bewegungsfreiheit in einer bereits als freiheitlich angesehenen Nation, versuchen andere gerade ein autoritäres Regime abzustreifen. Die Kämpfe gelten der Etablierung, Einhaltung oder Erweiterung grundlegender Rechte durch die Aufhebung von Unterdrückung und die Abschaffung von Privilegien. Ideen gehen um die Erde, die jedem Menschen gehören und universell sind. Es sind kulturübergreifende Kräfte, die in den lokalen Bewegungen - den antiautoritären Hippies in den USA, den politischen Widerständlern im Prager Frühling, den Black Panthern, den Maiaufständischen in Frankreich, der Studentenbewegung in der BRD, den Frauen im Emanzipationskampf oder den Befreiungskämpfern in den Kolonien - wirken. Es ist eine Zeit, in der die Globalisierung des menschlichen Lebens eine neue Qualität erreicht und in der die Möglichkeit eines planetarischen Zeitalters sichtbar wird in der Installation von Satelliten im Weltraum und mit der Landung des Menschen auf dem Mond. Politisch und kulturell rückt die Menschheit näher zusammen. Das Gemeinsame liegt im Überschreiten der jeweiligen politischen Gegebenheiten in Richtung auf eine Universalisierung der Verhältnisse und des Menschen.
Die veränderten Werte und Lebenseinstellungen erzeugen eine Aufbruchstimmung, die in den Äußerungen der Kunst und der Architektur, der Mode, des Designs und in der Körpersprache des Menschen zum Ausdruck kommen. Das alltägliche Leben wird ritualisiert und alternative Modelle des Zusammenlebens werden erprobt. Das Symbolische und Soziale haben Vorrang vor Funktionalität und Technik. Dennoch fasziniert die Technik mit ihren Produkten, künstlichen Materialien und der Raumfahrt, und ihre Visionen finden Eingang in die Kultur. In Italien liegen die innovativen Vermögen im Design. England tritt über die Popmusik und die Kleidermode hervor, die BRD über sozial-philosophische Gesellschaftsanalysen, die USA ebenfalls über die Popmusik und über die Pop-art.
Die Triebfeder für Globalisierung und Universalisierung ist die Emotionalität des Aufbruchs, eine Dynamik der Innerlichkeit. Dass die Jugend gegen alles und jedes opponiert, ist nur der äußere Schein. Ein neues Lebensgefühl ist entstanden und mit ihm wird der Mensch neu definiert. Er wird allgemeiner aufgefasst. Nicht als ein Wesen, das sich gegebenen Verhältnissen gut anpasst, sondern als ein Wesen, das sich Unzufriedenheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit widersetzt. Die junge Generation entwirft Utopien für ein gemeinschaftliches Leben, die nicht mit den Ideen der etablierten Welt übereinstimmen. Die Ideen werden schnell international und die Bewegten wachsen zu einer globalen Kulturbewegung zusammen, zu einer Weltgemeinschaft, die in Prag, Tokio und Brazzaville, in Washington, Berlin, Peking oder Mexiko für dieselbe Sache streitet.
Überall wirkt die Bewegung außerhalb der Institutionen und Parteien. Beweglichsein und Mündigkeit werden zum Lebensprinzip. Ordnung als Prinzip, als um der Ordnung willen errichtet, wird aufgelöst. Der einzelne wird zum Zentrum der Auseinandersetzung. Da er sich als ein Wesen begreift, das von inneren Motiven bewegt wird, weniger vom Konsum und von äußeren Zwängen, werden private und intime Erlebnisse thematisiert und öffentlich gemacht: Gedanken, Gefühle, Sexualität, menschliche Beziehungen. Lebenssinn soll sich im Innern des Individuums begründen lassen, nicht in der anspruchslosen Unterwerfung unter Gewohnheiten und ordnende Instanzen. Unterschätzt wird, wie sehr und warum sich die junge Generation der 60er Jahre an der inneren Welt geistiger und emotionaler Werte orientiert hat. Ihre leidenschaftliche Botschaft liegt im Engagement für das Universelle im Menschen. Unter Wahrung seiner Besonderheit.
Kultur heißt Pflege und Weitergabe von Verhaltensweisen, lebensnotwendigem Wissen und Idealen an nachfolgende Generationen. Treten Störungen im Weitergeben - dem Tradieren - auf, kommt es zu Generationskonflikten. Zum Vermittlungsstau und zur Kulturkrise. Das Wissen wird von den Jüngeren nicht angenommen und die Kultur stößt an ihre Grenze. Brauchtum, Sitte und Gewohnheit verlieren ihre Verbindlichkeit. Erhöhte Wachsamkeit und Konzentration im Alltag werden durch den Verlust des Gewohnten erforderlich, bis Selbstverständlichkeiten entstehen, die eine neue Moral begründen und die Gemeinschaft wieder zu einer kulturellen Einheit zusammenschließen.
Umsturz und Rebellion beginnen mit dem Sturz zentraler Symbole. Tische, Altäre, Throne oder Herrscherbilder werden gekippt. Mit dem Umsturz, dem ein Wandel im Zentrum der Gesellschaft vorausgeht, stellt sich ein Wechsel der Paradigmen ein, ein Wandel der Werte und Vorbilder. Jedem Umsturz liegen dem Bestehenden widersprechende und nicht integrierbare Lebensentwürfe zugrunde. In den 60er Jahren[1] gehen Aktivitäten in der Öffentlichkeit aus der jungen Generation hervor, und Studenten als zukünftige Eliten wirken das erste Mal nicht staatserhaltend. Junge Menschen werden zu einem aktiven und selbstbewussten Element des Alltags und der Politik. Die Erfahrung der eigenen Kraft schafft ein Selbstwertgefühl, das Mut und Lebenskraft gibt, eine eigene Welt und eigene symbolische Räume zu errichten.
In den zivilen Gesellschaften fällt in den 60er Jahren eine Konvention, die einen zentralen Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft bildet: das Sitzen auf Stühlen. An seine Stelle treten stuhllose Sit-ins, das Liegen und Lümmeln auf Matratzen oder das Ruhen auf alternativen Sitzmöbeln, die Haltemöbel sind. Körperlich mobil und geistig gewandt sehen die jungen Menschen das Stuhlsitzen als belastend und hemmend an und finden in variablen Körperhaltungen und entsprechenden Haltemöbeln ihren adäquaten Körperausdruck.
Das Sitzen
Das Sitzen auf Stühlen ist eine Erfindung, jedoch keine eigene Gebärde des Bürgertums. Es gründet in einer ihm ähnlichen Haltung, dem Thronen, der Herrschergeste der Priesterkönige. Die Bürger imitieren also eine vorhandene Gebärde, wodurch das Sitzen auf Stühlen lediglich zu einer vorbürgerlichen, zu einer adligen Haltung wird. Darin liegt die Ambivalenz des Stuhlsitzens. Die Erfindung ist die, dass weder der Stuhl noch der Sitzende, noch der Ort, an dem er sitzt, geweiht sind.
Sitzen beginnt als Thronen. Auf dem Thron, auf dem der König ein Opfer darbringt. Die strukturelle Basis des Throns ist ein Stein, auf dem Menschen den Göttern geopfert werden. Als Stämme dazu übergehen, anstelle des Menschen ein Tier zu töten, differenziert sich der Stein in den Altar und den Thron. Von da an wird das Tier auf dem Altar getötet und ein Stammesmitglied zum König erwählt und auf den Thron gesetzt, auf dem es sein Opfer in der Unbewegtheit seines Körpers darbringt. Der König ist ein heiliges Wesen. Er thront an geweihtem Ort auf dem geweihten Thron. Unnahbar. Erhaben. Allein. Stellvertretend für die Untertanen. Damit sie sich bewegen können, wird er stillgesetzt. Im Thronen lernt er, seinen Körper zu beherrschen und innere Vorgänge zu initiieren. Thronen ist Konzentration auf geistige Vorgänge. Der König gibt dem Stamm spirituelle Kräfte, die er in der Sitzhaltung ausbildet, und ein Symbol für das Erhabene. In der disziplinierenden Bewegungsbeschränkung und Atemhemmung der Sitzhaltung wird er zum Medium für den Kontakt mit den Göttern und zum Gedächtnis des Stammes.
In der christlichen Kirche wollen Bischöfe und Priester sitzen. Seit dem neunten Jahrhundert auch Mönche, die die Erlaubnis des Sitzens auf eine große Anzahl von Menschen ausdehnen. Priester und Bischöfe nutzen das Repräsentative, Mönche das Disziplinierende der Sitzhaltung. Aus dem Chorstuhl entwickelt sich der erste ungeweihte Sitz, der Profanstuhl. Ein Bürgersitz, den Patriziate, Gilden und Zünfte seit Ende des vierzehnten Jahrhunderts für ihre Vorsteher fordern, die wie die Mönche im Gotteshaus sitzen sollen. Von der Reformation an wird das Sitzen auf wohlhabende Bürger ausgedehnt, bis jeder Ungeweihte sitzen darf. Mit dem Stuhlsitzen übernimmt das Bürgertum beide Funktionen königlichen Thronens die Machtgeste und die Disziplinierung, die es für die bürgerlichen Berufe des Kaufmanns und des Ingenieurs nutzt, die Kalkulieren, Planen und abstraktes Denken voraussetzen. Endgültig verliert das Thronen seine Heiligkeit und Weihe mit dem Fall der letzten großen Monarchie in der Französischen Revolution. Die innere Verfassung und Absicht des Bürgertums, das seine Lebensformen am Adel ausrichtet, wird im Bürger Bonaparte offenbar: Nach Abschaffung der Monarchie krönt er sich selbst zum Kaiser, gibt sich den Namen Napoleon I. und setzt sich als Bürger auf den königlichen Thron. In ungeheuren Exzessen und Opfern an Menschen wird die Monarchie beseitigt, um sie mit einer Besonderheit wieder einzusetzen: Der Monarch ist Bürger. Mit der Inthronisierung Napoleons I. endet die Geschichte des Throns. Unterstützt vom Wiener Caféhaus-Stuhl, der sich in kurzer Zeit über die moderne Welt ausbreitet und in ihr das Stuhlsitzen zu einer allgemein verbindlichen Haltung macht. Das Sitzen auf Stühlen wird die exklusive Geste des Bürgertums und der Stuhl eine Ikone ziviler Gesellschaften.
Das Individuum der Massengesellschaft, das sich selbst König wird, tritt zum König in eine wesentliche Differenz. Zwar ist Thronen das Wesen des Sitzens, in dem das Opfer erhalten bleibt, doch der Abendländer kann bei jeglichem Tun an jedem Ort sitzen. Im unförmlichen Sitzen im Rahmen der Sitzgesellschaft - angelehnt, zusammengekauert, gemeinsam, kraftlos - wird eine erhöhte Geistigkeit und ein kontrolliertes Verhalten ausgebildet, aber nicht die Tiefe der Spiritualität, die der thronende König erwirbt. Das Thronen ist eine Form der Meditation und der thronende König die Vermittlung zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde. Die Entwicklung vom Thron zum Stuhl erzeugt das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft und ist ein Weg der Demokratisierung und Individualisierung, auf dem sich der Bürger nicht mit der spirituellen Kraft des Königs verbinden kann.
Die Gesellschaft veranlasst den einzelnen, sich immer wieder und immer häufiger zu setzen, denn der Mensch wird nicht als Homo sedens geboren oder setzt sich freiwillig. Er wird unter Anstrengungen und Widerständen von innen her geprägt und zum Stuhlwesen geformt. Das Stuhlsitzen diszipliniert und rationalisiert Körper und Geist und der Sitzende gewinnt Kontrolle über innere Vorgänge und erwirbt Abstraktionsfähigkeiten. Er lernt konzentriert wahrzunehmen, sich verhalten zu verhalten und mit Distanz zu fühlen. In den 60er Jahren hat die Kraft der Veränderungen diese Haltung, das bürgerliche Sitzen auf Stühlen, in den Industrienationen umgestaltet. Die Entscheidung für ein bewegtes, emotionales und weniger kontrolliertes Leben vermeidet das Stuhlsitzen und seine disziplinierenden Effekte. Statt dessen werden individuelle und unförmliche Haltungen erfunden und praktiziert, die in Haltemöbeln materialisiert sind. Das aufrechte Sitzen weicht der freien Bewegung im Raum und dem formlosen Lagern auf Matratzen, Teppichen, Kissen und Kisten, Treppenabsätzen und anderen Objekten. Alles, was Halt bietet, kann zum Ersatz für Stuhl und Sessel werden.
Die philosophischen und politischen Vorstellungen sowie die körperliche Disposition junger Menschen der 60er Jahre widersprechen der Sitzgesellschaft. Diese Dynamik ist ein inneres Design, eine innere Disposition. Design ist eine Beziehung zwischen Mensch und Technik, Natur und Künstlichkeit, Geist und Stoff. Ist die Form eines Materials, die das Wesen eines Gegenstandes erschließt, Bedürfnisse des Gebrauchs, der Ergonomie und der Ökologie befriedigt und neue Welten öffnet. Ändern sich innere Dispositionen, beginnt der Mensch, sein Umfeld neu zu gestalten. Entlang der eigenen Bedürfnisse werden so Ideen und Körperhaltungen erfunden. In den 60er Jahren treten an die Stelle traditioneller Sitze Haltemöbel, deren Design unmittelbar mit dem inneren Design der Zeit verknüpft ist.
Die Jugend verlässt die Stühle. Sie bewegt sich, bevölkert öffentliche Räume, lässt sich bei Sit-ins auf den Boden nieder oder begibt sich auf Demonstrationszüge und Sternmärsche. Der Mensch soll gehen, laufen, stehen oder bodennah lagern. Soll nomadisch leben. Es kommt auf das Handeln an, auf Aktivität und Beweglichkeit, weniger auf Posen, starre Haltungen und Disziplin. In der geistigen Beweglichkeit und der leiblichen Dynamik werden das Festsitzen und das Gesetztsein aufgegeben.
Aufbruch und Design
Das Vermeiden herkömmlichen Sitzens in den 60er Jahren hat den klassischen Stuhl zertrümmert. Es hat ihn in seine unterschiedlichen Möglichkeiten zerlegt: in die Möglichkeiten seiner Formen und seines Haltens. Stuhl und Sessel erscheinen zwar noch als Sitzmöbel, vor allem aber sind sie Haltemöbel, auf denen sich die Positionen des Liegens, Sitzens, Hockens und Lagerns einnehmen lassen. Sie verlieren ihre eindeutige Kontur und Funktion. Der Stuhl ist kein Gestell mehr. Keine Architektur. Stuhl und Sessel wandeln sich zur Skulptur.
Die Formen, das Material und die Bauart herkömmlicher Sitzmöbel werden neu erfunden. Anspruchsvoll und ausdrucksstark haben sich die jungen Möbel verbreitet und sind rasch populär geworden. In ihnen haben die Gestalter ihre individuellen Vorstellungen mit den allgemeinen Idealen der Zeit verbunden. Die Objekte sind Ausdruck eines optimistischen Lebensgefühls und Selbstbewusstseins. Die Formen von Stuhl und Sessel haben unterschiedliche Ebenen. Ihre klassische Form, die Vierbeinigkeit, wird aufgegeben. Das Haltemöbel wird bewusster gestaltet, die gute Form gesucht. Der Stuhl büßt seine Strenge ein, Sachlichkeit und Adel verlieren sich in der Farbenflut der Pop-art. Sitze sind nicht mehr ausnahmslos zum Sitzen gemacht. Auch ihre Proportionen ändern sich. Sie werden niedriger, nähern sich der Würfelform an oder lassen sich zu Wohnlandschaften gestalten. Dem radikalsten Wandel wird das Material unterworfen. Kunststoff ersetzt Holz, Textilien, Stahlrohr und Leder. Neben den neuen Entwürfen entstehen auch Sitze nach herkömmlichem Muster, doch die Stuhlobjekte der 60er Jahre haben die Vorstellung vom Stuhl revolutioniert - wie 1927 der Stahlrohrstuhl Wassily von Marcel Breuer - und das Sitzen selbst einer radikalen Wandlung unterworfen.
Der Aufbruch der 60er Jahre nimmt dem Stuhl die vier Beine. Der Sitz soll nicht mehr über vier Punkte, den vier Stuhlbeinen, also architektonisch in der Höhe gehalten werden. Auch nicht über zwei parallele Linien, den zwei Stahlkufen, die im Stahlrohrstuhl entwickelt sind. Der Stützbereich erweitert sich auf zweimal zwei Parallelen. Vier Punkte, zwei parallele Linien, eine Fläche. Die Sitze sehen aus wie aus einem Stück gearbeitet. Sie sind monoxylon. Gestützt durch ein Volumen wie bei dem Foliensessel Blow, dem Sessel Senftenberger Ei oder dem Pappsitz Spotty. Die Sitzhöhe wird niedriger, erreicht nur selten Unterschenkelhöhe. Die Sitzenden ruhen wie auf kleinen Hügeln, in Höhlen und Mulden oder wie auf dem Boden. Haltemöbel und sitzende Körper kommunizieren wechselseitig miteinander. Das Möbel drückt den Körper, während der Körper dem Möbel seine Form gibt. Unter dem Druck des menschlichen Gewichts kann es Gestalt und Lage ändern. Herkömmliche Stühle sind in ihrer Architektur Zeichen für Heiligkeit und Rationalität, für Macht und Disziplin, Halteskulpturen stehen für Emotionalität. Sie sind erzählerisch. Buntes und phantasievolles Spielzeug für Erwachsene. Sie deuten gleichermaßen auf archaische wie futuristische Bilder. Der menschliche Körper, der von ihnen gestützt wird, verweist auf Haltungen, die Kulturen an anderen Orten der Erde noch praktizieren. Die Skulpturen vermitteln etwas von Mobilität und Provisorium und verbinden die Kulturen ideell miteinander.
Das revolutionäre Material für die Sitzmöbel der 60er Jahre ist Kunststoff. Ein synthetisches Material, das dem Geist des Menschen, nicht der Natur entspringt. Aus dem Polypropylen, 1952 von Giulio Natta und Karl Ziegler entdeckt, die 1963 dafür den Nobelpreis erhalten, sind Gestalter in der Lage, widerstandsfähige, leichte und billige Stühle zu produzieren. Mussten Plastiksitz und Plastikrücklehne zunächst auf ein tragendes Stahlgerüst montiert werden, war es bald möglich, Stühle nur aus Kunststoff in einem Arbeitsvorgang zu fertigen. Der Kunststoff greift in die Gestaltungsmöglichkeiten der Haltemöbel ein. Polypropylen macht tragende Konstruktionen möglich, Polystyrol stützt den Sitz durch das kompakte Volumen und weiche, plastische Materialien federn Sessel ab und schaffen variable Konturen. Das synthetische Material ist global: Seine Herstellung ist unabhängig vom Klima, vom Ort und von der Kultur. Ein billiger, leichter Stoff ohne Struktur, dessen Eigenschaften durch die Gestaltung miterzeugt wird. Durch die Plastizität hat Kunststoff etwas mit dem Selbstverständnis der Zeit zu tun: Der Mensch wird aufgefasst als ein Wesen, das seine Eigenschaften danach erhält, wie es sich selbst und die Gesellschaft gestaltet.
Die Sitzebene besteht aus Kunststoff. Oft wird mit ihm auch der Raum unter dem Sitz ausgefüllt. Die Sitzebene und der Raum unter dem Sitz gelten als mit Kräften ausgestattet, die Kosmos und Gemeinschaft zusammenbinden und das kosmische Gedächtnis der Gemeinschaft bewahren. Mit dem Kunststoff gehen die Kräfte endgültig verloren. Die Haltemöbel der 60er Jahre haben den Sitz von seiner Würde und Bedeutungsschwere entlastet und das kollektive Gedächtnis und das Heilige in die eigene Innerlichkeit gelegt. Was dem Bürgertum nicht gelang. Sie sind für den emotionalen, politischen und nach Freiheit strebenden Menschen entworfen. Keine Form kann so gewagt sein, dass sie verworfen wird, kein Material so ausgefallen, dass es keine Verwendung findet. Die Emotionalität, die Freude am Erzählen und die Lust an herausfordernden Aufgaben haben neuartige und ungewöhnliche Formen kreiert. Im Sessel „La mama“ von 1969 verbindet Gaetano Pesce das Weibliche unmittelbar mit dem Sitzen. Der Sessel ist die Skulptur einer modern gestalteten steinzeitlichen Göttin, der Großen Mutter. Der Körper mit den überzeichneten weiblichen Attributen verweist auf den Thron und seinen Ursprung, die Ahnenfrau der Sippe, die weibliche Gottheit, auf die sich der König setzt. Ihr Schoß ist der Thron, der das Thronen des Königs zu einem Akt von Inspiration, Schöpfung und Wiedergeburt macht. „La mama“ ist natürlich ein Sitz, aber auch eine Skulptur, die die Geschichte des Throns erzählt.
Der thronartige Sessel Tomotom von Bernhard Holdawan von 1966 ist ein ähnliches Zitat der Throngeschichte. Er zeigt das Neuartige aber in anderer Form und anderem Material. Er besteht aus geschichtetem Leimholz. Er verbindet moderne, naturhafte und archaische Elemente miteinander. Die Isolation des Sitzenden macht den Sessel zu einem Mönchsstuhl. Er scheint wie aus einem Stück, einem Baumstamm herausgearbeitet, von dem nur der monoxylone Block und die Rinde als Seitenwände und Rückwand übrig sind. In den hoch aufgebauten Wänden, die bis über den Kopf reichen, erscheint er als Chefsessel. Er erinnert aber auch an Königsthrone aus Tansania und Zaire. Ebenso ruft er Erinnerungen an den ägyptischen Pharao bei seiner Inthronisierung wach. Die Armlehnen und die Rückenlehne des Tomotom sind miteinander zu einer geschlossenen Wand verschmolzen, die den Sitzenden von drei Seiten einfasst und schützt, wie den Pharao. Dort tritt von hinten der Priester an ihn heran, legt beide Arme seitlich an seinen Körper und beruft ihn in sein Amt. Die Inthronisation durch das göttliche Prinzip, und die Funktion der Berufung und des Schutzes sind in der Rundung des Sessels verdichtet und bringen Ruhe für die innere Sammlung und geistige Konzentration. Der Sessel vereint in sich die Elemente der Geschichte von Thron und Sitzen. Die präzise Ausführung und die einfache Form machen den Sessel zu einem Objekt der Gegenwart. Ein adliger, königlicher Sitz, ein Thron. Aber der Tomotom ist kein Stuhl für den Bürger. Kompetent bringt er das Verhältnis von Thron, Stuhl und Sitzgestus zu Bewusstsein und transzendiert den bürgerlichen Stuhl.
Der Bofingerstuhl von Helmut Bätzner aus dem Jahr 1966 ist der erste aus einem Stück gefertigte Kunststoffsitz. Ein Stuhl aus formgepresstem, fiberglasverstärktem Polyester. Der Herstellungsvorgang dauert vier Minuten und das Produkt muss nicht nachbehandelt werden. Der Stuhl wird nicht gebaut, sondern modelliert. Von der Maschine. Seine Form ist mitbestimmt durch das Material und die Funktionen des Stuhls: Die vertikale Faltung der Stuhlbeine dient der Verstärkung der Standfestigkeit und die Beinschrägstellung der Führung und Auflage für die zu stapelnden Stühle. Die Gesamtform hat alle Elemente eines traditionellen Stuhls, doch sonst ist an ihm alles unkonventionell: die kräftigen Farben, seine Formen im Detail und das Material. Gemessen an einem herkömmlichen Stuhl wirkt er neuartig, leicht und futuristisch. Der ein Jahr später entstandene dreibeinige Stuhl Floris von Günter Beltzig löst die klare Form auf. Er wirkt durch seine komplexe Gestalt, die von Hand hergestellt werden muss, überraschend und fremdartig. Durch die Gestalt lässt sich auf das Material rückschließen: Für solche ornamentalen und floralen Formen ist Kunststoff besser als andere Stoffe geeignet. Floris ist ein charakteristischer Stuhl für den Mut, die Spontaneität und die Phantasie der jungen Generation der 60er Jahre.
Das Design in Italien war schon früh mit gesellschaftlichen, politischen und philosophischen Fragen verbunden. Wie das Radical Design, das an den Grundlagen für ein menschliches Sein arbeitet. Am stärksten nehmen die italienischen Designer die neuen Materialien und bunten Farben auf und gehen mit ihnen am innovativsten um. Der erste in Italien im Druckziehverfahren hergestellte Kunststoffstuhl stammt von Joe Cesare Colombo von 1965/67, dem Meister des Plastikdesigns. Sein berühmter Stuhl Universale, das Modell 4867, ist bis heute ein Vorbild. Material und Funktionen bestimmen die Öffnung in der Rücklehne, die dem Herausnehmen des Stuhls aus der Gussform dient, die Verengung des Sitzes vor den Hinterbeinen, der den Stuhl stapelbar macht, die Abflachung der Beine an den Seiten, die die Reihung des Stuhls erlaubt. Sitz und Stuhlbeine müssen aus Verfahrensgründen für sich gefertigt werden. Ein klassischer Stuhl mit allen Merkmalen des Designs der Zeit.
Pastille ist Stuhl und Schaukelstuhl. Ein niederer, monoxyloner Sitz, gedacht für die Wohnung und den Außenbereich. Für seine klare und kühne organische Form, archaisch und zukünftig zugleich, hat Eero Aarnio 1968 den internationalen Designpreis erhalten. Aus fiberglasverstärktem Polyester ist er in seiner Reduktion und Konzentration der Elemente unscheinbar. Aber der Sitzende wird herausgehoben, sichtbar gemacht. Die Fläche des Sitzes ist starr, die Rundung seiner Bodenauflage macht ihn jedoch beweglich, zum Schaukelstuhl. Anders als der Sacco - im selben Jahr von Gatti, Paolini und Teodoro entworfen -, der eine endlos veränderbare Haltefläche bietet, aber fest auf dem Boden steht. Schaukelt der Sitzende im Pastille ohne Kraftaufwand, muss er im Sacco für jede Änderung der Körperhaltung Kraft aufwenden. Unablässig sucht er eine Haltung, in der er für länger verharren kann, ohne sie zu finden. Über längere Zeit kann der Mensch nicht körpergerecht sitzen. Der Sacco suggeriert eine Körperangemessenheit, die er nicht hat. Denn ein variabler Sitz ist weniger ergonomisch als ein starrer, da sich der Sitzende nicht auf der Horizontalen ausrichten kann. Die Designer haben dem Sacco eine potentielle Form gegeben und den Besetzer zum Mitgestalter gemacht, da er dem Möbel durch die eigene Lage und Körperhaltung die endgültige Form gibt. Der Sacco bricht radikal mit der Tradition des Stuhlsitzens.
Im Sessel Blow von 1967 entmaterialisieren De Pas, D´Urbino, Lomazzi und Scolari den Sitz. Ein materieloser Sessel. Aufblasbar und transparent, zusammengeschweißt aus PVC-Folie, besteht er vor allem aus Luft. Sein stoffliches Material beansprucht kaum Volumen, braucht aber, um seine optische Qualität entfalten zu können, viel Raum. Seine Transparenz und seine Aufblasbarkeit veranschaulichen Wagemut und Freiheit, Flexibilität und Leichtigkeit. Die auf ihm Sitzenden scheinen zu schweben. Er kann als Realisierung einer Bauhausidee verstanden werden.[2] Er ist futuristisch, ein Zeichen für den planetarischen Raum und das Schweben wie in der Raumfahrt. Der Sessel, weit entfernt vom klassischen Sitz, ist zusammenfaltbar, leicht, verbraucht nur wenig Rohstoff und kann überallhin mitgenommen werden. Das macht seine nomadischen Qualitäten aus. Wohnen wird zum Aufenthalt. „Throw aways“ hießen erschwingliche Objekte wie der Blow, der Neuartigkeit und Kühnheit mit Ungebundensein verbindet. Indem er selbstbewusst als Zeichen des low designs gestaltet ist und auf ihm verschiedene Haltungen möglich sind, entlastet er das Sitzen ebenso von seiner hohen Bedeutung wie den Stuhl.
Der endgültige Zerfall des Stuhls ist die Wohnlandschaft. Der Stuhl verschwindet und wird ersetzt durch variable Polsterelemente auf dem Boden, die sich zu weiten Raumflächen und höhlenartigen Gebilden kombinieren lassen. Die Grundhaltung ist die Horizontale: Teppiche zum liegen, geformte Polster, die das Liegen variieren, hügelartige Erhebungen aus Schaumstoff, die den Rücken heben, Hüfte oder Beine stützen, oder ganze Bergketten aus sitzartigen Elementen. Das liegende Wohnen soll Nähe, Kommunikationsbereitschaft und Vertrauen schaffen. Eine Bewegung zum Ursprung, die kompromisslos die Bürgerlichkeit und den Besitzanspruch aufhebt.
Traditionelle Formen der Sitze werden aufgelöst. Wie die Formen der Politik, der Weltanschauung und der Wissenschaft, der Kunst und der Alltagsetikette. Sie werden in Bewegung gebracht. Das Verkrustete und Bürokratische, das Starre und Institutionelle, das Fixierte und das Gesetz, das Formale und der Funktionalismus, das Gesetzte - konzentriert in der klassischen Stuhlform - werden von den Designern der Popkultur verflüssigt. Sie zerstören den etablierten und gewohnten Blick auf den Stuhl und die starre Sitzhaltung.
Stärker als je zuvor wird die Körperhaltung bewusst wahrgenommen und inszeniert. In den variablen Körperhaltungen, die die Haltemöbel ermöglichen, gewinnt der Mensch als freies Individuum, als bewegliches und politisches Subjekt Geltung. Haltemöbel sind überraschende und visionäre Objekte. Der Beweglichkeit entsprechend sollen sie Wegwerfprodukte sein. Wie der Billigsessel Throw-away von Willie Landels, der es bereits im Namen trägt. Design für wenig Geld. Gedacht für den Gebrauch einer kurzen Wohnperiode. Der bürgerliche Besitz gilt nichts und die Reduktion eines gestalteten Objekts auf Design, Kunst oder Ästhetik wird fragwürdig. Die Möbel besitzen Komik und produzieren Freude, erzählen Geschichten und schreien bunt und grell nach Aufmerksamkeit, können aber schon im nächsten Moment auf der Müllhalde landen. Sie eröffnen einen neuen Bedeutungshorizont, in dem Gegenwärtigkeit, Emotionalität und das Kommunizieren eine große Rolle spielen. Wer im Augenblick leben will, unterwirft sich nicht der Disziplinierung durch das Stuhlsitzen.
Die Sitze der 60er Jahre sind keine Opferstühle mehr. Darin überschreiten sie am nachhaltigsten und eindringlichsten die bürgerliche Gesellschaft. Was Disziplin ist, wird neu ausgelegt. Disziplin um der Disziplin und Ordnung um der Ordnung willen haben im Weltbild der jungen Generation keinen Platz. Sie versucht, Abstraktion mit Emotionalität in einer gestalterischen Form der Objekte und einer einzigen Lebensform zu vereinen.
In politischen Kämpfen und Revolutionen hat das Bürgertum das Recht erkämpft, sich auf Stühle setzen zu dürfen. Aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts ist es, die feudalen und frühbürgerlichen Reste dieses Prozesses zu beseitigen und die nicht vollendete Emanzipation und rechtliche Gleichstellung der Menschen zu realisieren oder darauf aufmerksam zu machen, dass der Mensch immer noch im Zustand der Bürgerlichkeit und in den mit ihm verbundenen Grenzen verharrt. Denn dass alle Menschen dadurch gleich geworden wären, dass sie sich auf Stühle setzen dürfen, hat sich nicht ereignet. Das ausgebliebene Ereignis wird in den 60er Jahren durch die Idee der Gleichheit des inneren Menschen thematisiert.
Der Aufbruch der 60er Jahre hat eine Kultur hervorgebracht - nur vage, nur im Moment des Entstehens, nur für kurze Zeit -, die ein Abschluss der Vergangenheit und ein Maß für die Zukunft sein sollte. Elemente einer Lebensweise sind entwickelt und praktiziert worden, die die bürgerliche Gesellschaft transzendiert haben. Der Mensch gilt nicht als Wesen, das allein von der Technik, dem Außen des Menschen, und seiner Ratio bestimmt wird, sondern wesentlich auch von inneren Qualitäten. Der Einsatz für eigene Werte und Lebensformen hat das Verständnis für das Politische geschärft, das im Moment des Aufbruchs aktiv wird: als innovative Gestaltung gemeinschaftlichen Lebens. In nachfolgenden Entwicklungen und Stilen haben sich Innovationen erhalten, die ihre aufbrechende und rebellische Kraft aber eingebüßt haben. Die Rebellen, ins bürgerliche Leben zurückgekehrt, haben bewusst gemacht, was möglich ist: eine Gesellschaft jenseits der Ideologie, jenseits des Bildungsstandes und der Klassen.
Die 60er Jahren haben aber auch die Jugend als neue Käuferschicht entdeckt, dem Markt geöffnet und so den Konsum angekurbelt. Nur halbherzig haben Gestalter, Produzenten und Nutzer der Haltemöbel ökologische Konsequenzen bedacht. Vor allem aber haben sie nicht die integrative Kraft der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft und ihre Tendenz zur Einverleibung scheinbar nicht integrierbarer Elemente erkannt. In der Entwicklung der Sitzmöbel war Kunststoff ein Bruch, eine Revolution. Euphorisch begrüßt hat sich die Entwicklung bald umgekehrt und vieles, was ein Zeichen des Aufbruchs war, hat der Markt zersetzt oder ist Zeichen für neue Probleme geworden. So wie der Plastikgartenstuhl für wenig Geld - ein Wegwerfprodukt -, der sich seit Mitte der achtziger Jahre über die Erde ausbreitet und das Bild aller Kulturen prägt, der armen Länder stärker als der Industrienationen. Ein Billigstuhl. Ein Emblem für das einundzwanzigste Jahrhundert. Eine ästhetische Zumutung. Aber low design. In wenigen Jahren wurden eine Milliarde Exemplare verkauft. Ökologisch ist Kunststoff problematisch. Die Umwelt belastend ersetzt er Naturstoffe. Und auch das Ruhen auf Haltemöbeln ist unergonomisch wie das Stuhlsitzen selbst. Proklamationen wie Selbsterfahrung und Individualisierung, low design und Wegwerferzeugnis ebenso wie die Praxis der aus dem Bauch heraus entwickelten Haltemöbel haben sich in der Praxis einer marktorientierten Gesellschaft oft als naiv, oft als Irrweg erwiesen.
[1] Betrachtet werden die in den Aktivitäten, Handlungen und Ereignisse der 60er Jahre für einen Moment sichtbar gewordenen Gedanken und Ideale. Nicht die Akteure mit ihren unbeholfenen und oft den Idealen widersprechenden Handlungen. Sie waren nur Teil einer umfassenden Bewegung. Rainer Langhans, Mitgründer der Kommune 1 in Berlin, hat vermutet, dass sie „Werkzeuge, merkwürdige Medien der Ausgießung eines Heiligen Geistes“ waren.
[2] Ein sechsteiliger Filmstreifen von Marcel Breuer über die Geschichte des Sitzens: Vom Thron zum Sitzen auf einer Luftsäule.
© Hajo Eickhoff 1999
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