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aus: Gerda Breuer (Hrsg.), Bestandskatalog Stiftung Design Sammlung Schriefers



Der Stuhl

 

 


Europa

Die Mobilität des gegenwärtigen Europa hat sich an der Form des Stuhls herausgebildet. Sitzen auf einem Stuhl bedeutet aber nicht nur die äußere Leibeshaltung, die der Sitzende einnimmt, sondern ebenso seine innere, seine psychisch-physiologische Form. Die Entwicklung auf das moderne Europa hin ist ein Prozess der Sedativierung, in dem der Stuhl den Menschen ruhigstellt und auf ein hohes Kulturniveau hebt. Sitzen ist ein Versuch des Menschen, seiner inneren Ruhelosigkeit zu begegnen. Die Geschichte der Menschheit ist vielleicht zwei Millionen Jahre alt, die des Sitzens weniger als sechstausend. So ist die Erfindung des Stuhls, der zunächst ein Thron ist, eng an den Beginn der Selbstreflexion des Menschen und seine Suche nach Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Daseins geknüpft. Wer sich setzt, hält also nicht an, sondern schreitet fort in innere Räume, in Räume inneren Suchens und innerer Bildungen. Heute stehen in den westlich orientierten Kulturen Stühle in solchen Massen herum, dass sie zu befürchten geben, ohne sie brächen diese Kulturen zusammen. Dabei ist Sitzen weder natürlich noch bequem, noch dazu erfunden, die Beine zu entlasten.

Das moderne Europa beginnt mit der Entdeckung, Eroberung und Brandschatzung der mexikanischen Kultur. Heute, nach fünfhundert Jahren, sagt der mexikanische Literat Jorge Arturo Ojeda: „Amerika ist Europa.“ Und er meint beide Amerika. Vor allem Nordamerika lässt sich als eine Extension Europas ansehen, so wie die von ihm inspirierten Kulturen. Die USA und Europa unterscheiden sich, aber strukturell entfalten sie sich in denselben Spuren von Technik und bürgerlicher Gesellschaft. Lange Zeit waren die USA die Nation, die die Modernität Europas potenzierte und Europa im technischen Fortschritt den Rang streitig machte. Das betrifft auch das Sitzen. Die USA haben zwei Stühle erfunden: den Elektrischen Stuhl und den Schaukelstuhl.

 Die Griechen gliedern die Welt noch dreifach: Asien, Europa und Libyen. Bis zum achten Jahrhundert vor Christus gilt Europa als Name für das griechische Festland ohne den Peloponnes und die Inseln, vier Jahrhunderte später reicht es bereits im Norden über die Donau hinaus und im Osten bis zum Asowschen Meer. Danach zählt man auch die griechischen Inseln und den Peloponnes zum Erdteil Europa. Wie die drei Weltteile nach weiblichen Gottheiten der asiatischen Religion benannt sind, so liegen auch die Wurzeln der europäischen Kultur in Asien: im vorderen und mittleren Orient. Im engeren Sinne beginnt Europa mit dem Niedergang des Römischen Reiches im Gewand des Christentums. Unter den Merowingern bilden sich erste Keime eines mächtigen Europa, das unter Karl dem Großen Gestalt annimmt. Im mittelalterlichen Europa sind Stühle Throne. Den ungeweihten Stuhl hat das europäische Bürgertum des fünfzehnten Jahrhunderts erdacht. Während im Mythos die Göttin Europa nach ihrer Entführung durch Zeus nur aus der Ferne gesehen wird und am Ende verschwindet, hat sich die Kultur des Erdteils Europa fest auf dem gesamten Erdball etabliert. Bereits in seinem Beginn zeigt Europa sich als sesshafte Kultur, nicht als mobile.

 

Das Gestell

Gestelle sind Geräte, die der Mensch vor sich hinstellt. Sie dienen dazu, etwas aufzufangen, einzufassen, hervorzuheben oder zu schützen. Ihr Sinn liegt darin, der Natur ein von Menschen geschaffenes Zeichen entgegenzustellen, in dem sich die Menschen widerspiegeln können. Gestelle sind veräußerlichte Gedanken, Empfindungen und Ideale, sichtbare Zeichen einer kollektiven Erfahrung und Erkenntnis.

Stühle sind Gestelle. Sie tragen und halten einen Menschen. Aber der sitzende Mensch war nicht krank, so dass er getragen werden musste. Er war auffällig - fiel nach oben - und war dadurch ausgezeichnet. Ihn erwählte man. Man nannte ihn König und setzte ihn. Der Stuhl sollte an ihm arbeiten. Er sollte den Sitzenden veredeln und vergeistigen, damit dieser der Gemeinschaft eine spirituelle Mitte wurde, an der sie sich ausrichten und von der sie sich abstoßen konnte.

Der Stuhl hat eine vielfältige Geschichte. Jede Phase dieser Entfaltung hat neue Formen hervorgebracht, die Ausdruck der Entwicklungsrichtung einer Kultur sind. Die ersten Stühle sind Throne, geweihte, geheiligte Objekte: Herrscherthrone, der Heilige Stuhl oder das Chorgestühl. Spätere Stühle sind ungeweiht: Bürgerstühle, Schulgestühle oder Reisesitze. Jede Stuhlform hat den passenden Menschen und die ihm angepasste Lebensform ausgebildet: Könige und die Monarchie, Mönche und das Klosterdasein, moderne Sitzmenschen und das Elektronische Zeitalter. Der Mensch hat sich den Stuhl angepasst. Aber der Stuhl hat auch den Menschen angepasst und die abendländische Kultur maßgeblich gestaltet. Der Sitzmensch hat nicht nur äußerlich die Gestalt des Stuhls angenommen, er ist auch von innen her Stuhl geworden.

Der Thron ist mit geweihten Insignien einer Kultur ausgestattet, der Stuhl dagegen ist ein Massenprodukt, an dem die einst Bedeutung tragenden Elemente verschwunden sind oder rein ästhetische Funktion erfüllen. Dennoch gibt es kaum einen Gegenstand, der in den vergangenen hundert Jahren Anlass zu so vielfältigen Formschöpfungen gewesen ist, wie der Stuhl. Im Aufwand der Gestaltungen erkennen wir die magische Bedeutung des Stuhls wieder.

 

Die unbestuhlte Welt

Der Mensch beginnt nackt und ungestellt. Er lebt unter freiem Himmel und beschafft sich seine Nahrung mit den Händen. Der Körper und seine Organe dienen ihm als Werkzeuge. Körperfremde Geräte kennt er nur im zufälligen und vorübergehenden Gebrauch. Jagend und sammelnd durchstreifen die Menschen weite Räume. Ihr Leben ist gekennzeichnet durch eine ungezügelte Mobilität. Wenn sie nach langen Wanderungen ausruhen, lagern sie auf dem Boden, liegend, hockend oder kauernd. Die Besonderheit des Menschen im Tierreich kommt im Wanderleben zum Ausdruck: im aufrechten Gehen und Stehen und im unmittelbaren Lagern auf dem Erdboden. Sind das aufrechte Stehen und Gehen Positionen der Tatkraft, ist das Liegen die Position der Ruhe. Alle Haltungen dazwischen sind ein Zusammenspiel aus Ruhe und Aktivität, in denen der Mensch rasten, essen, spezielle Arbeiten verrichten, mit anderen kommunizieren oder seinen Gedanken nachgehen kann.

Im Jäger- und Sammlertum ist die Naturbeherrschung am wenigsten spezialisiert und die Menschen haben das mimetische Wissen von der Natur und ihren Möglichkeiten am allgemeinsten entwickelt. Die Wandervölker spezialisieren nicht einzelne Sinne, sondern entwickeln die Funktion und die Bedeutung der einzelnen Sinne im Zusammenspiel aller Sinnesorgane. Die Ureinwohner Australiens, die Aborigines, haben ihr Wissen über Pflanzen und die Fähigkeit, Tierfährten und Wasser aufzuspüren, so weit ausgebildet, dass sie sich in ödesten Landstrichen behaupten können. Beharrlich prägen sie ihren Kindern unzählige Vorschriften ein, damit sie ihre Sinne üben und sich früh an der Nahrungssuche beteiligen können. Machen die Jungen Wurfübungen und sammeln danach das Dutzend geworfener Steine wieder ein, müssen sie diese nicht suchen: Ihre Orientierung hat eine solche Gegenwärtigkeit erlangt, dass ihr Geist und ihre Sinne auch außerhalb von ihnen, bei den Dingen sind. Erspähen sie Beute, die für sie zu groß oder zu schnell ist, sind sie in der Lage, wie angewurzelt über lange Zeit in der einmal eingenommenen Haltung zu verharren, bis ältere und erfahrene Stammesmitglieder aufmerksam werden und die Jagd fortsetzen. Die Mädchen können mit fünf Jahren sämtliche Arten von Larven, Eidechsen und Ameisen unterscheiden. Der umfassenden Ausbildung der Sinne entspricht, dass Aborigines nichts verschmähen, was zu essen möglich ist, und für das, was wir Wahrheit nennen, keinen Begriff hervorgebracht haben.

Von einer solchen Integration von Sinn und Natur, von Kosmos und Mensch setzen sich die sesshaft werdenden Stämme ab, spezialisieren ihre Sinne und bilden ein systematisches und differenzierbares Wissen aus. Mit der Sesshaftwerdung halten die Menschen ihren Lauf an und beginnen, im Haus und seiner näheren Umgebung zu leben. Der kurzzeitige Aufenthalt an einem Ort und das immer erneute Verlassen von Jagdgründen wird in ein Aneignen des Bodens umgeformt. Die weiten Räume werden begrenzt und be­setzt, nicht mehr durchwandert. In der Anpassung des Menschen an das Haus müssen die langen Wanderwege nach und nach zu kleinen Gesten des Einrichtens und Arbeitens umgeordnet werden. Das Ruhen auf einem vom Erdboden abgehobenen Gestell erfordert eine ungewöhnliche Körperhaltung: das Sitzen auf einem Gestell, das man zunächst nur einem besonderen Menschen zumutete.

 

Der Thron

Der Stuhl beginnt als Thron und der sitzende Mensch als König. Der thronende König ist neben seinen magischen und logischen Funktionen eine Metapher für das Bleiben an einem Ort. Die Metapher haben sich die Menschen für die Einschränkung des Wanderlebens und für die zunehmende Bindung an das Haus geschaffen. Der König auf dem Thron ist ein extremes, aber passendes Zeichen für das Anhalten und Bleiben, das Bild für die Immobilität einer Kultur, die sesshaft geworden ist. Er ist zugleich das Bild für die Möglichkeit, dass der Mensch seinen Bewegungsradius nicht nur auf das Haus reduziert, sondern auf den engen Ort des Stuhls.

Durften manche Könige den Thron nie verlassen, müssen andere wie versteinert auf dem Thron sitzen, wie noch der Kaiser Japans im zwanzigsten Jahrhundert. Am Abend vor der ersten Thronbesteigung war es erlaubt, künftige Herrscher zu beschimpfen, zu demütigen, zu martern oder zu verkrüppeln. Die Immobilität des Königs und sein Gefangensein am Ort des Throns ist eine Form der Gewalt. Diese dunkle Seite des Königs ist seine Opferung. Und so hat sich der Thron aus dem Opferstein entwickelt, auf dem einst eine Gemeinschaft einen Menschen zur Besänftigung der Götter tötete. Mit der Erfindung, stellvertretend für den Menschen ein Tier zu töten, zerfällt der Stein in zwei Elemente: in den Altar oder Opfertisch und in den Thron oder Opferstuhl. Auf dem Altar opfert man fortan ein Tier, auf dem Thron einen Menschen, den König. Im Angehaltensein und Gesetztwerden wird der Körper des Gesetzten in all seinen Funktionen und Lebensäußerungen begrenzt oder sogar verstümmelt. In der gewaltsamen Beschränkung und der sich darin einstellenden Vergeistigung liegt die Funktion des Königs: Der ungewöhnliche Zugriff auf seinen Körper soll bewirken, dass er den Körper verliert und spirituelle Kräfte gewinnt.

 Der König soll nicht Körperwesen sein, sondern Geistwesen. Noch heute sagt man, dass der König keine Füße habe. Er soll nicht räumlich ausschreiten, sein Fortschreiten liegt im geistigen Erkennen und im Beherrschen der Welt aus dem Sitz heraus. Solange der König unbewegt verharre, bleibe auch der Kosmos in seiner produktiven Unbewegtheit. In der Vergeistigung soll sich der Thronende den Göttern angleichen und seine Kräfte nutzbringend an die Gemeinschaft weitergeben. Der thronende König ist Priester, Weiser, Gottmensch, Richter, weltlicher Machthaber. Er gibt den Menschen einen fest umrissenen Ort, um den herum sie sich bewegen können. Je unbewegter der König thront, desto bewegter seine Untertanen. Der thronende König ist das Vorbild für eine disziplinierte Lebensform und der Lebenssinn einer Gemeinschaft.

 

Das Kreuz

Das Kreuz Christi ist ein Thron. Die extreme Gestalt des Throns, wie Christus die äußerste Gestalt eines Königs ist. Christus ist das Sinnbild für ein Leben im Angesicht der Spiritualität und des Ideals. In ihm kommt das Prinzip des Königs in seiner reinen Form zum Ausdruck. Dieser König der Christen verfügt nicht über Ländereien und materielle Reichtümer. Er ist König und gebietet über spirituelle Reiche. Im Leiden Christi erkennen wir die Ordnung des Königs wieder und im Kreuz den Thron. Könige tötet man nicht mehr auf dem Opferstein. Doch es kommt noch vor, dass man sie tötet, etwa wenn sich eine Herrschaft negativ auf das Wohl der Untertanen auswirkt, oder wenn die Assyrer ihren König der Vergehen der Untertanen wegen töteten. Auch Christus stirbt am Kreuz für die Sünden anderer.

Wie es Brauch ist, weltliche Könige am Vorabend der Inthronisierung zu martern, so wird Christus gegeißelt, beschimpft, gedemütigt. Sein Thron hat zwei Formen: das Kreuz und den Himmelsthron. Das Kreuz steht für das körperliche Leid, der Himmelsthron für die körperlose, geistige Herrschaft. Die endgültige Inthronisierung Christi ist die Himmelfahrt. Am Kreuz, dem weltliche Thron Christi, stirbt er sein weltliches Leben und gelangt auf den Thron des Herrn, das neue Paradies. Am Tod Christi offenbart sich die Bestimmung des Königs. Er opfert seinen Leib für die Überwindung der Sünden der Menschheit; sein Leib stirbt, aber seine moralische Kraft hat Menschen inspiriert, die in seinem Sinn eine Religion gegründet haben, die das Leben auf der Erde grundlegend gewandelt hat. Christus ist ein unkörperliches Daseinsprinzip. Er überwindet im Tod den Leib durch die Kraft seiner Moral und lebt in einem geistigen Sinn, in der Kultur, weiter.

Die geistigen Qualitäten Christi haben den Menschen einen neuen Lebenssinn gegeben. Christus lehrt, dass Kreuz und Thron nicht einem gebühren, dem König, sondern all denen, die, wie er, ein spirituelles, Gott gefälliges Leben führen. Christus ist Visionär, und die Aufgabe der Gläubigen ist es, ihr Leben an seiner Vision auszurichten. Das Heil besteht darin, Kreuz und Thron auf sich zu nehmen und sich zu setzen. Christus ist ein Mittler zwischen dem thronenden König und dem zukünftigen sitzenden Bürger. Im christlichen Leben taucht der Mensch ein in eine asketische und moralische, in eine gehorsame und abstrakte Lebensweise.

 

Das Chorgestühl

Das Sitzen der Mönche im mittelalterlichen Chorgestühl vervielfältigt das Thronen. Aber die ersten, die im Rahmen der christlichen Kirche Platz nehmen, sind Bischöfe und Päpste. Wie Könige thronen sie auf geweihten Sitzen. Nach einer Ordensregel des Heiligen Benedikt sollen sich auch die Mönche setzen, zu bestimmten Abschnitten der Messe. Sie sollen die Empfehlung Christi realisieren, dass viele Menschen sitzen. Und mit der Erfindung des Chorgestühls um die Jahrtausendwende ist es soweit, dass erstmals nicht nur weltliche Machthaber oder kirchliche Oberhäupter, sondern auch Mönche auf Stühlen sitzen. Das Kloster, eine geistige Enklave, verbindet zwei Lebensformen miteinander: die Abgeschlossenheit zur Begrenzung der Sinne und das Leben in der Gemeinschaft, der vita communis.

Das Chorgestühl ist ein komplexer Mechanismus zur körperlichen und geistigen Formung. In der Komposition vieler Sitze zu einem einheitlichen Gebilde ist es ein Bindeglied zwischen dem Sitzen einzelner und dem Sitzen vieler, zwischen dem Sitzen auf geweihten und dem Sitzen auf ungeweihten Stühlen. Das Grundelement des Chorgestühls, der Chorstuhl, weist eine Besonderheit auf: den Klappsitz. Benedikt hatte gefordert, dass die Mönche an einem eng begrenzten Ort stehen, knien und sitzen können sollen. Mit Hilfe des Klappsitzes lässt sich diese Forderung erfüllen. Wenn der Sitz heruntergeklappt ist, kann der Mönch sitzen. Ist der Sitz hochgeklappt, kann der Mönch stehen und knien, oder sich auf der verbreiterten Vorderkante des Sitzes niederlassen und eine Stehsitzhaltung einnehmen. Die Schulterringe ermöglichen eine fünfte Haltung: das Abstützen mit den Armen beim Stehen. So bietet der Chorstuhl eine Vielzahl von Haltungsmöglichkeiten, die dem Gottesdienst eine feste Ordnung von spiritueller Konzentration, Körperhaltung und Versenkung auferlegen. Die Isolierung des Mönches im Chorstuhl und die meditative Sammlung sollen ihm auf dem inneren Weg zu Gott eine Stütze sein. Auf diesem Weg soll die Konzentration auf die geistige Bildung der Mönche erhöht und die Pflege der Wissenschaften gefördert werden.

Der Anblick Sitzender im Chor festigt die Gewöhnung der Mönche an das Sitzen. Auch die Gemeinde weiß davon, obwohl sie keinen Einblick in den Chor hat. Vor allem die Stellvertreter des Bürgertums haben die sitzenden Mönche im Gedächtnis, die ihnen Anreiz und Ansporn sind, es ihnen gleichzutun. Thronen Könige, Päpste und Bischöfe allein, gehört das Sitzen im Chor zu einem alltäglichen, von einer großen Anzahl von Mönchen vollzogenen Ritual.

In der Vervielfältigung des Sitzens durch das Kloster liegt die Vorbereitung auf das Sitzen im bürgerlichen Alltag. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert gibt es die ersten nicht geweihten Stühle. Obwohl sie in der Kirche entstehen. Diese Profanstühle sind im Abendland die ersten Stühle überhaupt. Sie sind Sitzgelegenheiten, die Zünfte, Patriziate und Gilden ihren Vorstehern an den Kirchenwänden aufstellen dürfen. Indem die Vorsteher Platz nehmen, erweitert sich erneut das Spektrum derer, die sitzen dürfen. Der Chorstuhl ist Vorbild für den Profanstuhl, der Mönch ist Mittler zwischen dem weitsichtigen Christus und den sitzenden Bürgern.

 

Der Stuhl

Mit dem Stuhlsitzen, dem religiösen, sozialen und politischen Kulminationspunkt, beginnt das moderne Europa. Europa ist die einzige Kultur, die aus ihrer eigenen Geschichte heraus das Sitzen auf Stühlen ausgebildet hat. Es ist das Bestreben der Europäer, das Sitzen zur zentralen Haltung und Geste des Menschen zu machen. Die Bürger geben sich auf dem Stuhl eine neue Identität. Die Identität selbstbewusster Menschen, die sich dem asketischen und rationalen Leben verschrieben haben. Ein bewusstes Leben gegen Klerus und Adel. Die Bürger fangen an, die Welt mit dem Geist zu durchdringen, und sich von solchen Wahrnehmungen und Erfahrungen abzuwenden, an denen alle Sinne beteiligt sind.

Die wohlhabenden Bürger beginnen in der Neuzeit damit, Stühle zu bauen und sich im Alltag wie Könige zu setzen. Zunächst haben sie sich zu Repräsentationszwecken gesetzt, rasch aber folgt das Sitzen reicher Kaufleute und Händler bei den Tätigkeiten des Rechnens und der Buchführung in den Kontoren. Die körperliche Arbeit der Kaufleute, ihre Arbeitslogik, ist eine streng geordnete Folge von Handlungen im Umgang mit Waren und Zahlen. Ihre geistige Arbeit folgt derselben Logik: streng geordnete Folgen von Gedanken im Rechnen und im Gliedern der Bücher. Mit diesen Aufgaben beginnt die Karriere der Sitzberufe, und die Bürger haben mit der Geste des Sitzens die Distanz zu den Mächtigen der Gesellschaft verringert. Sie haben sich aber zugleich von den unteren Schichten abgesetzt, die über keine Stühle verfügen. Infolge ihres wirtschaftlichen Aufstiegs haben die Bürger eine neue Sozialordnung erkämpft. Sie setzen sich, um sich wie Könige und Mönche in eine geistige Verfassung zu bringen, die eine Basis für ihre Bürgerlichkeit werden soll.

Bis zur Reformation sind die Kirchenabschnitte für die Gemeinde unbestuhlt, wie die mittelalterlichen Häuser. In den Stuben kauert man auf Truhen, Gesimsen und Treppenabsätzen, gelegentlich auf niederen Bänken. Das Bürgertum bekämpft das Vorrecht, dass nur Herrscher sitzen dürfen und kritisiert das abgeschlossene und als elitär empfundene Sitzen der Mönche im Chor. In der Zeit der Reformation reißen Bürger die Wände und Schranken des Chores nieder und zerschlagen und verbrennen viele Chorgestühle. Zum einen ist nun der Weg frei für das Sitzen auf Stühlen im bürgerlichen Alltag, andererseits werden die Räume der Kirchen mit Bänken für die Gemeinde ausgestattet. Im Privatbereich soll das als zufällige und unzivile Ordnung angesehene häusliche Leben durch den Stuhl sowie durch Stuhl und Tisch geordnet und normiert werden. Das häusliche und kirchliche Leben soll sich an den Gegebenheiten des Sitzens ausrichten.

Der Stuhl gibt den Bürgern eine neue Haltung im sozialen Raum, und die Sitzhaltung vergrößert und schematisiert die Abstände zwischen den Menschen. Stühle sind Instrumente, die das Handeln und Verhalten neu gestalten und neue Vorstellungen von Intimität hervorbringen. Aber sie untergraben auch das vitale Wollen zugunsten einer effektiveren Lebensweise. Die Übersicht und Sicher­heit im Territorium Stuhl und die Gleich­heit der Sitz- und Versamm­lungssituation werden be­stim­mend für die Art, in der sich Bür­ger versammeln. Das Sit­zen auf Stühlen erzeugt gesittete Verkehrsformen. Die konzentrierte Körperhaltung wird unterstützt von einer Philosophie, die das Denken und Handeln an der Unbewegtheit auf dem Stuhl ausrichtet und in logische und zielstrebige Abfolgen einbindet. Die Sitzkörper und die Arbeit haben dieselbe Ordnung wie die bürgerliche Philosophie und die neuzeitliche Logik. Der berufliche Gewinn durch das Sitzen liegt in der neuen Übersicht des Lebens und in den angestrebten beruflichen Fertigkeiten wie Rechnen und Buchführen, wie Lesen und Schreiben, Fertigkeiten, die auf Stühlen ausgeübt werden und die das Sitzen befördert.

Ist das Sitzen bis zur Französischen Revolution Privileg, ist die Einführung des Sitzens auf Stühlen in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts abgeschlossen und der abendländische Mensch will bei jedem Tun und an allen Orten seinen Stuhl. Dazu muss ein in großen Stückzahlen herstellbarer Stuhl entwickelt werden. Dies ist die Geburtsstunde des Wiener Caféhaus-Stuhls von Michael Thonet. Die Form des Stuhls hat keine Vorbilder. Er ist leicht, kostet wenig und ist gut zu versenden. Er ist ein Bild für die Demokratisierung des Throns und bringt die geistigen und philosophischen Ansprüche des Bürgertums zum Ausdruck. Das Caféhaus wird zum Forum bürgerlicher Bekenntnisse, auf dem die Bürger ihre Lebensart und ihre Selbständigkeit in politisch-philosophischen Diskussionen bekunden. Die Cafés sind die ersten öffentlichen Orte eines geistigen Austauschs. Hier werden bürgerliche Utopien und freiheitliche Gedanken entworfen, sitzend. Sie werden die geistigen Mittelpunkte des kulturellen Wien, von wo aus der Caféhaus-Stuhl einen unvergleichlichen Siegeszug um die Welt antritt. Der Stuhl wird zum Boten eines neuen Menschentyps, des Homo sedens.

 

Das Schulgestühl

Das Sitzen in der Schule macht das Sitzen zum Bestandteil der biologisch-kulturellen Entwicklung des Menschen. Mit der Einführung der Schulpflicht dürfen auch Kinder sitzen. Zwar müssen sie sitzen, aber es ist erforderlich, dass sie erst sitzen dürfen, bevor sie sitzen müssen. Mit dem Sitzzwang für Schüler hat sich das Sitzen auf Stühlen endgültig etabliert und der Mensch - gleichgültig welcher Herkunft oder welchen Berufs, welchen Geschlechts oder Alters, darf sich auf Stühle setzen. Stuhlsitzen wird Alltag. Die Schule ist die bürgerliche Einrichtung, die das Kind ins Sitzen einübt. Institutionalisiert werden muss das Sitzen, da der Mensch lange Zeit benötigt, bis er seine Energien zügeln kann und in der inneren Verfassung ist, ruhig auf einem Stuhl verharren und sich auf unkörperliche Dinge konzentrieren zu können. Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein ist das Schulgestühl in seinem Bauprinzip identisch mit dem Chorgestühl: Seitenwände, ein Klappsitz und die Rückseite des Gestühls als Tisch für die nachfolgende Stuhlreihe. Überhaupt finden Wissensaneignung und Bildung im Abendland auf Klappsitzen statt: in Opernhäusern und Hörsälen, in Akademien und Theatern, in Universitäten und Kinos.

 Das Leben der Schüler ist eingefasst zwischen zwei Räumen unterschiedlicher Ordnung: zwischen Klassenzimmer und Schulhof. Beide Räume sind ein sichtbarer Ausdruck für die Lebensweise von Kindern im modernen Europa. Im Unterricht wird auf eine Disziplinierung und Vergeistigung hingearbeitet, die durch die Pausen auf dem Schulhof unterbrochen werden. Es ist ein Rhythmus zwischen Sitzen und Toben, zwischen geistiger Konzentration und Spiel, der das Kind in ein Schema zwängt. Das, was stillgesetzt im Unterricht zurückgehalten wird, darf im eingefassten Raum, dem Schulhof, wieder verausgabt werden. Die Lust auf dem Schulhof ergibt sich durch die Abfuhr der im Klassenzimmer kontrolliert zurückgehaltenen Energie. Doch es bleibt ein unabführbarer Rest, der sich zu großen Bewegungshemmungen ausweitet: Das Kind gewöhnt sich an das Stuhlsitzen und die Unbewegtheit und entwickelt immer weniger Kraft und Lust, sich zu bewegen. Bis Erlasse den Gang zum Schulhof erzwingen müssen.

Wer die Disziplinierung verfehlt und unruhig sitzt und unkonzentriert arbeitet, muss das Sitzen nachholen. Entweder für den betreffenden Tag und dann nachsitzen, oder für ein ganzes Schuljahr und dann sitzenbleiben, zwei Namen für ein gescheitertes Einüben ins Stuhlsitzen.

 Am Kind wird früh praktiziert, was Könige erdulden und was Mönche, Kaufleute und Händler in der Pionierphase des Sitzens erst als Erwachsene lernen konnten. In der Sitzgesellschaft lernt der Mensch von Kindesbeinen an, sitzend die Sinne zu kontrollieren. So lernt schon das Kind, sich auf die Verfolgung eines Gedankens, die Ordnung eines abstrakten Stoffes zu konzentrieren, ohne sich von anderen Sinnesreizen ablenken zu lassen. Die Vergeistigung setzt eine besondere Verkörperlichung voraus: ein Zurück- und Innehalten vitaler Funktionen, vor allem des Atems.

Wer die Schule erfolgreich verlässt, ist gut auf die Arbeitswelt in einer Sitzgesellschaft vorbereitet. Hier soll fortgesetzt werden, was der Mensch in der Schule erworben hat. In der Sitzgesellschaft hat sich das Sitzen auf Stühlen bis in alle Schichten und nahezu bis in alle Tätigkeitsbereiche hinein etabliert. Wer die Schule erfolgreich verlässt, hat das Gesetztwerden in ein Sitzenwollen umgewandelt. Dabei sind wir dadurch unterstützt worden, dass wir das Denken, Wahrnehmen und Empfinden ganz an den Stuhl gebunden und Sitzbedürfnisse und Sitzwerte ausgebildet haben. Und je länger wir das Stuhlsitzen erlernt haben, desto weniger ist unser Körper für das Stehen und Gehen, für das Knien, Hocken und Kauern geeignet. Was Kinder - selbst in einer Sitzgesellschaft - noch vermögen, beherrschen Erwachsene nicht mehr. Erst durch die Disziplinierung des Schülers im Sitzen gelingt es den Menschen, eine kulturelle Identität auszubilden, die sie als Sitzwesen auszeichnet. Allein die Kinder Europas werden in der systematisch betriebenen Einübung ins Sitzen eins mit dem Gerät, auf das sie gesetzt werden, an dem sie sich bilden und Homo sedens werden.

 

Der Massenstuhl

Die Sitzgesellschaft macht das Leben auf Stühlen zur Norm und das Stuhlsitzen zur grundlegenden Körperhaltung. Das Sitzen prägt nicht nur den einzelnen, die ganze Gesellschaft ist vom Sitzen und vom Leben auf Stühlen durchdrungen. Die Sitzgesellschaft formt die Menschen zu Stuhlwesen. Sie stellt den Menschen den Rahmen bereit, der ihnen garantiert, immer dort, wo sie anhalten, einen Stuhl zur Verfügung zu haben und jederzeit und überall sitzen zu können. Wir finden Stühle deshalb nicht nur in Schulen und an Arbeitsplätzen, sondern auch an den Orten der Freizeit: in Fußballstadien oder auf Bahnhöfen, in Parkanlagen oder in Flugzeugen. Sitzmenschen sind Dauersitzende, die immer und überall sitzen wollen und die sich nirgends sicherer fühlen als im Stuhl, nirgends sicherer als an Orten, an denen Stühle stehen. Das gesellschaftliche Leben ist so auf das Sitzen abgestimmt, dass wir alles tun können, ohne den Stuhl verlassen zu müssen. Deshalb tritt eine Sitzgesellschaft sichtbar in Erscheinung in einer unermesslichen Fülle an Stühlen.

 Stühle sind Pfeiler unseres Wohnens. Sie sind die kleinste Wohneinheit des Sitzmenschen. Der Mensch gibt nicht nur seine natürliche Fortbewegungsart auf, er hört überhaupt auf, sich zu bewegen, er gibt nicht nur seine aufrechte Haltung auf, um die er Jahrtausende gerungen hat, er nimmt eine völlig künstliche Haltung ein. Indem das Wohnen im Stuhl zur Existenzweise des Menschen wird, setzt sich auch die Natur und nimmt im sitzenden Menschen Platz. Wo sich der Mensch doch erheben muss, helfen ihm unterschiedliche Verkehrseinrichtungen, Fußwege zu verkürzen: Automobile, Züge, Flugzeuge. Mögen etwa Autos Medien des Transports, Mittel der Beschleunigung oder Symbole für den Status sein, in jedem Fall sind sie Sitze, überdacht, bieder, bewohnbar.

Stühle sind Pfeiler unserer Physis. Im Sitzen auf Stühlen werden die Funktionen des Organismus stufenweise eingeschläfert. Die mangelnde Stimulation reduziert die Beweglichkeit auf ein Minimum. Die Muskeln verhärten chronisch, die Atemtätigkeit wird herabgesetzt und am Ende kann der Körper bei großer Aktivität nicht mehr ausreichend mit Energie versorgt werden. In solchen Vorgängen wird der Mensch an die Sitzhaltung, den geringen Energieumsatz, das Kontrollieren der Emotionen, an die filigrane handwerkliche Arbeit oder das geistige Durchdringen der Welt angepasst.

Stühle sind Pfeiler unserer Freizeit und der Arbeitswelt. Für jedes Bedürfnis und jede Tätigkeit gibt es passende Sitze. Entsprechend lassen sie sich gliedern: in den unspezifischen Gebrauchsstuhl für die Zwecke des Alltags, in den Designerstuhl und den ergonomischen Stuhl. Alltagsstühle sind Vierbeiner. Designerstühle verlassen die Konvention und halten den Sitz durch vier Beine, zwei Kufen oder flächig durch ein Volumen in der Höhe. Arbeitsstühle werden zunehmend nach ergonomischen Vorstellungen gestaltet. Der Sitz wird durch eine Säule gehalten, die sich nach unten in fünf Arme ausformt, die jeweils auf einem Rad ruhen und den Stuhl rollbar machen. Das Innere der Stühle ist verborgen. Es birgt komplizierte Mechaniken zur Synchronisierung von Sitzfläche und Rückenlehne und zur individuellen Einstellung des Stuhls. In der Gegenwart existieren alle historischen Stuhlformen.

Stühle sind Pfeiler der Architektur unseres Körpers. Und Urelemente aller Bauten des Menschen. Wer Häuser oder Städte entwirft, nimmt den Stuhl als Basis. Daher das große Interesse der Designer und Architekten an der Gestaltung von Stühlen. Der Architekt Peter Smithson glaubt, dass man beim Entwerfen eines Stuhls „eine Gesellschaft und eine Stadt im kleinen“ formt. Das architektonische Prinzip des Stuhls: eine horizontale Ebene und vier vertikale Stützen. Sein moralisches Prinzip bedarf einer komplexeren Ordnung: eine Rückenlehne sowie spezifische Ausformungen der Einzelelemente. Der Sitzende ist nicht nur unbewegt, seine Haltung bedarf einer geeigneten Architektur. Die Stuhlarchitektur unterstützt die geschwächte Architektur des Sitzenden, seine Gebrochenheit in zwei rechten Winkeln. Die Funktion des Stuhls liegt darin, den Entkörperungsversuch des Menschen architektonisch zu stützen und dem Restkörper eine feste Gestalt zu geben. Stuhl und Haus sind je ein Kosmos im Kleinen. Im Haus lebt der Mensch wie im großen Kosmos. Von hier aus erschließt er die Erde und schafft sich eine Orientierung in der Horizontalen. Im Stuhl aber kann der Mensch den Kosmos nicht nur besser handhaben, Stühle sind ein Stück Architektur, die der Mensch sogar unmittelbar mit dem Körper besetzen kann. Im Sitzen ist die Statik des Stehens gebrochen und die Stütze vom Erdboden auf den Sitz und von den Füßen auf das Gesäß verlagert. Orientierung geben Stühle den Menschen in der Vertikalen, indem sie alle Orte des Alls auf sich beziehen und den Menschen das Spirituelle des Himmels aufschließen. Das Besondere der Stuhlarchitektur ist die Verbindung von Innen und Außen. Stühle haben keine Wände. In ihrer Außenansicht geben Stühle ihr Gestaltungsprinzip preis: Nichts, das die innere Ordnung verdeckt. Und hierin liegen Reiz und Ansporn für Designer und Architekten. Wo das innere Gestaltungsprinzip verdeckt wird, wie bei ergonomischen Stühlen, entwickelt sich bei Architekten nur schwer ein Designinteresse.

 Stühle sind Pfeiler unserer sozialen Architektur. Den Verkehr mit unserer Umwelt wickeln wir von den begrenzten Räumen des Stuhls aus ab. Stühle fassen uns in imaginäre Rahmen, die sich zwischen uns und andere schieben. Sie halten uns gegenseitig auf Distanz und gestalten die Privatsphäre modernen Lebens. Menschen, die sich versammeln, sind in unserer Kultur immer bestuhlt. Wir versammeln uns in der immer gleichen Haltung. Als Sitzende leben wir in der Ferne zu den Dingen und in der Distanz zu anderen. Doch obwohl wir vereinzelt leben, schließen uns die Uniformität der Sitzversammlungen und die Sitzanordnung im Alltag sozial mit anderen Sitzenden zusammen. Und obwohl in der Sitzgesellschaft fast alle auf Stühlen sitzen, gliedern Stühle die Sitzgesellschaft in ein abgestuftes und geordnetes Gefüge sozialer Unterschiede. Die soziale Ordnung leitet sich aus der ideellen Zeitdauer ab, die Menschen auf Stühlen zugebracht haben, und aus dem Umstand, dass eine überdurchschnittlich lange Sitzzeit in der Kindheit und Jugend meist ein hohes Bildungsniveau bedeutet. Langzeitsitzer haben im Beruf ein Anrecht auf einen Stuhl hoher Qualität und Auszeichnung. Das sind Stühle, die mit ihrem Namen zugleich ein Amt oder einen hohen gesellschaftlichen Wert bezeichnen: Throne, Bischofsstühle, Richterstühle, der Heilige Stuhl oder Lehrstühle.

 Die innere Befriedung, die der Mensch im Sitzen gesucht hat, ist nicht aufgegangen. Infolge ständigen Sitzens auf Stühlen führt der moderne Mensch nur scheinbar ein befriedetes Leben. Das sitzende Individuum kommt mit seiner Ruhigstellung nicht zurecht und der Sitzgesellschaft sind die Gründe ihres Aufbruchs, der Sinn ihres emsigen, pausenlosen Tuns, ihres Bemühens um Innovation und neue technische Methoden und Produkte abhanden gekommen. Angesichts des gewaltigen Aufwands, den die Menschen treiben, sich, Werkzeuge und Erzeugnisse zu verbessern, ist die Besserung ihrer existentiellen Probleme unerheblich. Der materielle Reichtum und der immense Konsum der Sitzgesellschaften haben sich nicht als befriedigender Ersatz für eine missglückte innere Befriedung erwiesen. Der moderne Mensch hat sich von einer technischen Ersatzwelt abhängig gemacht, ohne dass es ihm gelungen ist, sich entweder mit ihr geistig auszusöhnen oder nach neuen, nützlichen und sinnvollen Wegen zu suchen. Vieles ist gleich wertig geworden und das Verhältnis von Authentizität und Ersatz hat sich egalisiert. Alles ist gleich gültig, was zur Aufhebung der Werte führt und Desinteresse und Gewalt zur Folge hat. Frei werden destruktive Potentiale, wenn die Gesellschaft die Menschen nicht mehr initiieren und an ihre Werte binden kann. Die Verklammerung befriedender oder sedativer Kräfte mit destruktiven Impulsen ist eng an die sitzende Lebensweise gebunden.

Europäer verbringen die meiste Zeit ihres Lebens auf Stühlen, so dass viele am Tage nur noch ein paar hundert Meter zu Fuß gehen. Je weniger die Menschen ausschreiten, desto wichtiger erscheint ihnen das, was wir Fortschritt nennen: der Ersatz für den Mangel an Bewegung. Kein Mensch könnte zu Fuß den Mars erreichen. Aber wir können vor Monitoren sitzen und sehen, wie Geräte für uns die Oberfläche des Mars abtasten und die Daten an die Erde übermitteln. Wir haben Geräte erdacht, die die unermessliche Entfernung überbrücken. Unser technischer und kultureller Fortschritt ist gebunden an unser körperloses und geistiges Arbeiten und an Objekte, die wir als Ersatz dafür auf den Weg schicken, um körperliche und sensible Arbeit für uns zu verrichten. Wir opfern Körper und Sinnesreize, um die Welt aus dem Sitz heraus zu ordnen und zu beherrschen, wie Könige, wenn sie sitzend in geistige Regionen vordringen. Je unbewegter eine Gesellschaft verharrt, desto mächtiger und tiefer ihre Eingriffe in die Natur. Zugleich haben die Bewegungseinschränkungen im Sitzen, die schädigende Haltung sowie die hohe geistige Konzentration den Menschen hohe physische und psychische Belastungen aufgebürdet und ihnen Ermüdung und Rückenleiden, Apathie und Erschöpfung gebracht.

Die Sitzgesellschaft ist stolz, die Welt so eingerichtet zu haben, dass sich die Menschen nicht mehr bewegen müssen. Sie idealisiert das unkörperliche Handeln und bringt in dem Ideal der Unbewegtheit eine Weltanschauung zum Ausdruck, die in der Utopie einer, nicht an die Sinne gebundenen, Existenz ihre Grundlage hat. Hierin offenbaren sich die Visionen des Christentums. Der Mensch soll sitzen und mit gewaltigen Kräften des Geistes die Welt ordnen und einrichten. Die Apokalypse, das abschließende Buch der Bibel, bietet den Sitzkulturen die Bilder für eine gesellschaftliche Perspektive. Ihre Vision ist das Versprechen an die Gläubigen, bis in alle Ewigkeit auf dem Thron zur Rechten des Herrn zu sitzen: unbeugsam und starr, rechtwinklig und rechtgläubig. Für die Realisierung der Vision treiben die Sitzgesellschaften einen enormen Aufwand, bringen ein hohes Maß an geistigen und materiellen Kräften auf. Ruhe findet der Homo sedens, der sedierte Mensch erst, wenn alles gesetzt ist. Wenn sich selbst Stehen und Gehen zum Sitzen gewandelt haben, wie Fernando Pessoa sagt: „Ich gehe über die Straße wie ein Sitzender.“




© Hajo Eickhoff 2015





 

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