Kenotaph 1987/91. Ein Scheingrab oder leerer Sarg zum Gedenken an einen Toten, der an einem anderen Ort begraben liegt oder noch nicht bestattet ist. Die abbrennenden Kerzen bewegen die Platte nach unten und ein schwarzer Behälter stößt durch eine Öffnung in der Platte und wird sichtbar.
aus: Timm Ulrichs macht mobil. Möbel-Skulpturen und -Installationen, Freiburg 1999
Unsere Vorfahren schnitten zunächst aus der Helligkeit
der Erdoberfläche einen nach allen Seiten abgegrenzten
Raum heraus, schufen darin ein Reich des Schattens.
Tanizaki Jun`ichiro
Timm Ulrichs geht den verborgenen Relationen der Dinge nach. Er macht sie als Architektur sichtbar. Dabei stößt er auf unerwartete Sachverhalte wie auf archaische und mythische Zusammenhänge, die einen unmittelbaren Bezug zur menschlichen Existenz haben. Seine räumlichen Bildwerke sind Erkenntnisskulpturen. Skulpturen als Behelf der Erkenntnis. Ihre räumliche Konstellation ist ein Verständnis von der Welt.
Verständnis heißt verstehen. Verstehen bedeutet verstellen, entstellen. Stehen für etwas anderes. Bedeutet, an die Stelle einer Sache eine andere zu stellen, die für die erste steht und für sie spricht. Die verstellenden Skulpturen von Timm Ulrichs verfremden, irritieren, beunruhigen. Sie stehen für etwas anderes und offenbaren eine Individualität, in der sie sich zu einer Sprache für das Verstellte bilden. In ihrer Sprache können die Skulpturen über das Wesen des Verstellten sprechen, dessen Bedeutung erweitern und Bezüge zu Ursprung, Gegenwart und Zukunft des Menschen herstellen.
Gemeinschaften arbeiten an Bildern. Nach ihnen formen sie die Menschen zu Trägern ihrer Kultur. In den Bildern sind die Normen festgeschrieben, nach denen die Menschen leben sollen und von denen aus sie die Wirklichkeit zu verstehen haben. An jedem einzelnen arbeitet die Gemeinschaft, damit er das dafür geeignete Wissen und Verhalten einübt. So fällt das in eins, was eine Gemeinschaft und was ein einzelner für Wirklichkeit hält. Der naive Blick ist also nicht unvoreingenommen, sondern konventionell. Er ist gewachsen, genormt und deshalb relativ. Das gewohnheitsmäßige Tun festigt und verfestigt die gesellschaftlichen wie die individuellen Strukturen. In der Gewohnheit liegt ein großes Reservoir verschütteten Wissens. In Zeiten des Übergangs und der Krise werden Menschen empfindsamer gegenüber der herkömmlichen Art, Mensch und Welt zu betrachten und zu verstehen. Gegen die gesellschaftlichen Normen bilden sie gelegentlich eine genaue Sprache und eigene Anschauungsweisen aus. Um das Entwickelte zu bewahren und die Einheit zu sichern, kann die Gesellschaft eine Art zu kommunizieren ausbilden, die ihre Grundlagen verdeckt und das Verdeckte in Ideologie aufhebt. Auf diese Weise wird das historische Wissen verstellt. Wie Objekte das Licht verstellen und einen Schatten werfen, wirft die Gesellschaft einen Schatten auf die Erkenntnis des Menschen.
Timm Ulrichs hat eine Sprache jenseits der Konvention gefunden, die von den Räumen, den Dingen und Körpern herrührt. Sie deckt Verschüttetes, Verdrängtes oder noch Ungewisses auf. Individuell verstellt er das, was die Gesellschaft kulturell verstellt hat. Da sie verstellt, was die Menschen im Verlauf der Geschichte verstellt und vergessen oder noch nie wahrgenommen haben, ist das Verstehen des gesellschaftlich Verdrängten ein Verstellen und die Sprache von Timm Ulrichs ein zweifaches Entstellen oder die Aufhebung einer Entstellung. In seine Arbeiten legt er das hinein, was den Menschen grundlegend in Bezug auf seine Natur und in Hinsicht auf seine Kultur betrifft. Er wählt den individuellen Standpunkt. Immer stellt er selbst das Maß dar. Sein Körper, sein Fühlen, sein Denken und sein Verhalten bilden das Zentrum seiner Arbeiten. Doch das Ungewöhnliche und Beeindruckende ist, daß es ihm gelingt, vom Besonderen, von sich und seinen Maßen auszugehen und das Besondere so weit abzutragen und zu abstrahieren, bis er es mit dem Allgemeinen verbinden und beides in einer universellen Form und Erkenntnis vereinen kann.
Die Objekte, an denen der Mensch seine Kulturformung erfährt, sind mit den Bildern und Ideen der Gesellschaft verschmolzen. Objekte sind natürliche Gebilde oder von Menschenhand geschaffene Gegenstände. Sie motivieren das Handeln des Menschen, verlangen dafür aber, daß er sich ihnen anpaßt. Anpassung erfordert Aufmerksamkeit, Einübung und Konzentration. In der Annäherung erfolgt eine Unterordnung unter den Gegenstand, in der eine Beruhigung und Disziplinierung liegt. Die Beherrschung der Objekte einer Kultur bedeutet zugleich Anpassung an die Bilder und Ideale der Kultur. Timm Ulrichs greift auch in die sich außerhalb der Gesellschaft vollziehenden Abläufe künstlerisch ein, indem er für seine Gestaltung die Gesetzmäßigkeit der Natur der Dinge nutzt, und macht auf die Differenz von Natur und Kultur aufmerksam, indem er sie nach seinen Ideen arrangiert. Mit den Naturprozessen stehen Objekte in einer engen Kommunikation. Ihre Physik und ihre Geometrie vermögen Licht aufzuhalten oder zu Formen zu gestalten, magnetische Felder zu beeinflussen oder mechanische Kräfte zu hemmen. Er nutzt die natürlichen Qualitäten der Objekte für seine Gestaltung, verstärkt ihre Eigenschaften, um mit ihrer Hilfe eine vorgegebene Form künstlerisch hervorzubringen, oder er provoziert die Gesetze der Natur, indem er sie am Menschen, an sich selbst, arbeiten läßt. Immer sind es persönliche Produkte, die er mit Hilfe der Naturgesetze hervorbringt, aber sie weisen ebenso über das Individuelle hinaus wie über das bloß Physikalische.
Solche unsichtbaren Kräfte und Relationen in der Natur und in der Kultur machen die Skulpturen von Timm Ulrichs anschaulich. Erkenntnisskulpturen sind Objekte, die einem geistigen Plan folgen und auf das Verstehen von Zusammenhängen gerichtet sind, auf das Verstehen des Wesens einer Sache. Die Natur wird geistig durchdrungen und kultiviert, das Kultivierte noch einmal geistig angehoben.
Die Horizontale des Erdbodens ist für den Menschen eine unerläßliche Grundlage. Basis seines Handelns und Stehens, seines Verstehens und seiner Geborgenheit. Auf der Horizontalen geht der Mensch mit den Objekten um. In zwei Arbeiten zeigt Timm Ulrichs, daß diese Basis relativ ist. In „Schiefe Ebenen“ vereint er die Neigungen der Erdoberfläche mehrerer Städte gedanklich und künstlerisch an einem Ort. Das Überraschende ist, daß es die Relationen, bevor er sie anschaulich gemacht hat, entweder nicht oder nur in der Vorstellung gibt. Nur in der Abstraktion sind die Relationen möglich. In konkreten Abstraktionen, denn er erzeugt die schiefen Ebenen, stellt sie nebeneinander, setzt sie miteinander in Beziehung. Er läßt sie, was konkret wörtlich bedeutet, zusammenwachsen. Er ordnet die Dinge und ihre Qualitäten zu einer Sprache des Verborgenen und stellt in dieser Sprache eine außergewöhnliche Beziehung her. Dadurch vermag er etwas sichtbar zu machen, das in seiner naturhaften Anordnung für den Blick versteckt ist. In bezug auf die Erdoberfläche befinden sich alle Menschen in aufrechter Position in der Vertikalen. Wenn sie sich aber ohne Lageveränderung zum planetarischen Raum aufeinander zubewegten und an einem Ort träfen, würde erkennbar, daß sie sich in unterschiedlichen Neigungen zueinander befinden. Solche Relationen können aber nur gedacht oder künstlerisch erfaßt, nicht aber im Alltag wahrgenommen oder erfahren werden. Die künstlerische Ordnung veranschaulicht die Architektur des Daseins auf einer Kugel. In der Arbeit „Denkmal für Normalnull“ findet eine Übertragung des Wasserpegels von Amsterdam, der Höhe für Normalnull und die Grundhöhe für Höhenmessungen, auf einen anderen Ort statt. Ein Wasserglas wird so tief in den Boden eingelassen, bis der Wasserstand in ihm dem Pegel von Amsterdam entspricht. In einer ausgesuchten Hinsicht, in Hinsicht auf die Architektur der Erde, befindet sich Amsterdam an einem anderen Ort. So läßt sich die Vorstellung gewinnen, als läge unter den unterschiedlichen Höhen der Landschaft, der Berge und Gebirge eine ideale, eine platonische Erde. Eine Erde als ideale Kugel mit einer einzigen Höhenlinie, mit der Höhe Normalnull, in der die Hügel und Berge eingeebnet sind oder über der sie sich erheben. Indem der kontinuierliche Raum aufgehoben wird, kann das Auseinanderliegende so zusammengeführt werden, daß es miteinander kommuniziert und in einer Wahrnehmung erfaßt werden kann. Timm Ulrichs ist der Erde behilflich, Gedanken zu finden und dem Menschen gegenüber auszusprechen. Die Erde kann so ihre Geometrie und ihre Rätsel bildhaft machen. Das Prinzip, Relationen herzustellen und der Erde eine Sprache zu geben, wendet Timm Ulrichs - der sich von den von Menschenhand hergestellten Gegenständen immer wieder Möbel aussucht - auch auf seine Möbel-Skulpturen an.
Die Möbel-Skulpturen von Timm Ulrichs sind Erkenntnismöbel. Möbel helfen dem Menschen, sich in der Welt einzurichten. Im Möbel entläßt der Mensch eine Idee oder eine Vorstellung nach außen, indem er sie in einen Gegenstand übersetzt und materialisiert. Möbel sind Hilfsmittel. Diener und Herren. Timm Ulrichs öffnet die Funktion und die Bedeutung des Möbels, indem er es zur Skulptur macht. In seinen Möbel-Skulpturen treten Möbel aus ihrer Kontingenz heraus und in ihr Wesen ein.
Natur kennt keine Möbel. Möbel sind Erfindungen von Menschen für Menschen. Zum Menschsein gehören sie nur nebenbei, nur als Möglichkeit. Noch heute gibt es Stämme und Gemeinschaften, in denen sich die Menschen keiner Möbel bedienen. Sie gehen unvermittelt auf die Welt zu. Ohne Hilfsmittel. Ohne Unterschied. Ohne Erkenntnis. Aber mit einem spirituellen Wissen über das Sein. Die Menschen der westlichen Kulturen dagegen sehen ihre Aufgabe im Verfertigen von Gerätschaften und Möbeln. Sie wollen vermittelt auf die Welt zugehen. Gewappnet mit Geräten und Apparaturen. Wo sich heute Fabrikanlagen, riesige Freizeitkomplexe, Hochhauskonglomerate und gigantische Städte ausbreiten, gab es einst Wiesen und Seen, standen Bäume, lagen ausgedehnte Wälder. In diese Natur und naturhafte Landschaft hat der Mensch zuerst das Haus gestellt. Stehen mehrere Häuser beieinander, werden Einschnitte zwischen ihnen gelassen, die zu Wegen, Straßen, Plätzen werden, zu Lebensräumen eines Dorfes oder einer Stadt. Erst stellt der Mensch das Haus auf natürlichen Boden, dann möbliert er den künstlichen Ort des Hauses mit Bett, Truhe, Stuhl und Tisch, später möbliert er auch den Stadtraum. So werden nach und nach Natur und Naturraum mit Gütern, die der Mensch hervorbringt, vollgestellt. Die dinghaften Produkte des Menschen wie Werkzeuge, Apparate oder Möbel bilden eine Opposition zum unabhängig vom Menschen Bestehenden. Der Ursprung des Wortes Möbel fällt in eine Zeit, in der die Könige mit dem gesamten Hofstaat von Schloß zu Schloß zogen und ihre Haushaltsgegenstände wie Truhen, Tische, Betten und Stühle - die Mobilia - mitschleppen ließen, da die Schlösser leer standen.
Jedes Möbel formt Seele, Körper und Geist und bringt eine charakteristische innere und äußere Haltung des Menschen hervor. Andererseits sind in den Möbeln archaische Brauchtümer und ein historisches Wissen aufbewahrt. Auf beides nimmt Timm Ulrichs in der klaren Ästhetik seiner Möbel-Skulpturen Bezug. Die Möbel sind vor allem Tisch und Stuhl. Beide haben für den Menschen eine fundamentale Bedeutung. Bis in die Gegenwart hinein bilden der Altar als Tisch und der Thron und Papstsitz als Stuhl die geweihte Mitte von Gemeinschaften. Tisch und Stuhl werden von Timm Ulrichs für sich gestaltet oder miteinander kombiniert. In vielen Arbeiten sind sie der Form nach unterschieden, erscheinen aber ihrem Gehalt nach als identisch. Für den modernen Menschen sind sie bestimmende Geräte und stellen als archaische Gegenstände ein grundlegendes Element für den Ursprung der modernen Gesellschaft dar. Erstaunlicherweise haben beide, Stuhl und Tisch, ihre Herkunft aus dem Opferstein. Auf ihm tötete einst eine Gemeinschaft einen Menschen, um mit den Göttern einig zu werden. Mit der Idee, anstelle des Menschen ein Tier zu töten, fällt der Stein in die Elemente Tisch und Stuhl auseinander: in den Altar, den Opfertisch, und den Thron, den Opferstuhl. Auf dem Tisch (ara), der erhöht (alta) wird, also auf dem Altar, dem alta ara, wird fortan stellvertretend für den Menschen das Tier getötet, der Thron wird zum Gestell, das den König aufnimmt. Im Verlauf ihrer Geschichte haben sich Thron und Altar unabhängig voneinander entwickelt, bis sie in der modernen Welt als Tisch und Stuhl zu einer systematischen Einheit verschmelzen: zum Gebrauch bei der Arbeit, in der Freizeit und bei der Mahlzeit. Das sitzend am Tisch eingenommene Mahl erinnert noch an das gemeinsame Verspeisen des Opfertieres. In der sitzenden Arbeit am Tisch ist die innere, die geistige Arbeit des Königs symbolisch enthalten, der nicht mehr getötet wird, sondern das Opfer in seiner Körperhaltung auf dem Thron erbringt, in der er für die Götter und den Stamm spirituelle Arbeit verrichtet. Opfer leitet sich von operari her und bedeutet, den Göttern dienen. Die Skulpturen aus Tisch und Stuhl dienen der Aufdeckung des Verborgenen, dienen dem Verstehen der engen Zusammengehörigkeit von Thron und Altar und von Opfer und Erlösung mit der Geschichte und der Gegenwart der abendländischen Kultur.
Der Tisch ist der Ort des Rätselhaften. Entstanden aus dem Dienst an den Göttern oder aus der Befriedung kosmischer Mächte. Sein Kennzeichen ist die waagerechte, durch ein Gestell vom Erdboden abgehobene Ebene. In archaischer Zeit sind Altar, Tisch und Herd eins. Sie bilden das geweihte Zentrum des Stammes oder die geheiligte Mitte des Hauses einer Familie. Heute kann der Mensch am Tisch essen, arbeiten, erzählen, spielen und Distanz halten oder auf ihm etwas ablegen. In der Schule muß er sich in die symboltragende Bedeutung des Tisches einüben, in die Fähigkeit, Gedanken und Empfindungen mit der Hand in das Medium der Fläche zu übersetzen, aufzuschreiben und mitteilbar zu machen. Schreiben ist das Eingravieren abstrakter Zeichen in eine Fläche, in die sich einst das Opfer eingedrückt hat, das bereits Symbol war, Symbol für den zu tötenden Menschen. Die Skulptur „Kenotaph“, die in ihrem Namen auf den leeren Sarg anspielt, stellt in ihrer Einfachheit, Wucht und strengen Form in Verbindung mit den sinnbildlichen Elementen ein Heiligtum und einen geweihten Bezirk dar, in dem sich Tisch, Grabmal, Altar und Tempel überschneiden. Die Skulptur besteht aus einer horizontalen Platte, die von zwanzig angezündeten Kerzen getragen wird. Die Kerzen erhellen die Ebene der Platte von oben. Als Tisch ist die Skulptur bestimmt durch ihre äußere Erscheinung und die wesentlichen Elemente des Tisches wie die horizontale Auflage und ihr Gestütztwerden in einer vom Boden abgehobenen Ebene. Als Altar stützen die Kerzen, die in das Gebilde integriert sind, die Altarplatte, und ihr Licht steht für das Opferfeuer. Das Kerzenlicht ist ein natürliches Licht, das Erlösung, Erleuchtung und Aufklärung durch das dargebotene Opfer bedeuten kann, und das schwarze Gehäuse unter dem Tisch könnte dabei der Ort für die heiligen Gerätschaften zur Durchführung der Opferhandlung sein. Es verweist ebenso auf ein Grabmal oder den Reliquienschrein eines Heiligen. Das Kenotaph ist ein Scheingrab. Ein leerer Sarg zum Gedenken an einen Toten, der an einem anderen Ort begraben liegt oder der nicht nach geltender Sitte bestattet wurde. Ein heiliger Ort. Das Kenotaph ist auch ein Möglichkeitsgrab. Die Stätte für einen Menschen, dem schon zu Lebzeiten eine Grabstätte gehört, die bis zu seinem Tod leer bleibt. Doch die Skulptur stellt ebenso einen Tempel dar. Das schwarze Gehäuse steht für die Cella, das Haus im Innern griechischer Tempel, das nur Priester betreten. In der Cella befindet sich das Heiligtum: Götterstatue, Schätze und Gerätschaften zur Tempelpflege. Die Kerzen bilden die Säulen des Tempels. Sie sind jedoch in Bewegung. Im allmählichen Abbrennen der Kerzen senkt sich mit ihnen die Platte. Die Platte bewegt sich auf den schwarzen Schrein zu und eröffnet symbolisch den Zugang zu ihm, wie die frühesten Tempel, deren Dächer waagerecht verliefen und in der Mitte eine weite Öffnung aufwiesen. Im Verbrennen, dem Akt der Opferung, werden das Heiligtum, der geweihte Ort und das Heilige offenbar. In der Überschneidung und Konzentration von drei heiligen Bezirken unterschiedlicher Kulturen verdichtet sich die Skulptur zu einer archaischen und verbindenden Form: der griechische Tempel als Haus der Götter, das römische und mittelalterliche Grabmal als Haus für die Toten, der Altar als Symbol für das Opfer und das Haus Christi. Die verborgenen Wechselbeziehungen von Leben und Tod und von Bewahren und Überwinden sind in der Skulptur zu einer einzigen Form zusammengeschlossen, die über die Zeiten hinweg etwas Wesentliches verdeutlicht und das Heilige mit dem Profanen heutigen Tuns in eine zwingende Relation bringt. In ihrer Strenge ist die Form archaisch und monumental, in ihren Elementen und ihrer Klarheit modern. Der moderne Mensch benutzt den Tisch, ohne seine Geschichte, seine Formentwicklung und ohne die Herkunft seiner Verwendung zu kennen, die aus der Verbindung von Tod und Leben, Gewalt und Bewahrung, Opferung und Erlösung entsteht. Diese Relationen und die mit ihr verbundene sublimierte Angst sind in der Gewohnheit und im alltäglichen Gebrauch unkenntlich geworden. Aus der Skulptur „Kenotaph“, die das Andenken an einen Toten ist und den Tod symbolisiert, läßt sich das Wesen des Tisches ablesen. Sein Schatten und seine Seele. Die ursprüngliche Form und Bestimmung des Tisches: der geweihte Bezirk einer Gemeinschaft, der Opferstein, Altar, Grab und Tempel ist.
Ewigkeit und Werden, Einmaligkeit und Vergehen, Opfer und Würde sind Wechselbeziehungen, die Timm Ulrichs in der Performance „Past - Present - Future“ verbildlicht. Er führt sie in einem einfachen, naturhaften Kontext vor: eine Grasfläche, drei Stühle hintereinander in einer Reihe, zwei grabähnliche Ausschachtungen. Nacheinander besetzt er die drei Stühle: Das verbindende Element ist das Höhenniveau des Erdbodens. Der hintere Stuhl steht auf dem Boden, die beiden anderen stehen erniedrigt jeweils in einer Ausschachtung. Der mittlere Stuhl ist um seine Sitzhöhe erniedrigt, der dritte um seine gesamte Stuhlhöhe. Beide Ausschachtungen lassen Raum für die Beine und die Füße des Sitzenden, der in einer starren, aufrechten Haltung sitzt. Die Unterarme und die Hände auf den Oberschenkeln. Der Sitzende erinnert in seiner strengen Haltung an einen archaischen König wie den ägyptischen Pharao und Gott. Wenn Osiris, der höchste Gott der Ägypter, im Totenreich aufersteht, beginnt seine Herrschaft. Aber wenn er aufersteht, setzt er sich, in Mumienbinden gehüllt, auf den Thron. Sitzen und Tod, Herrschaft und Spiritualität berühren sich im Bild des thronenden Osiris ebenso wie im Bild des Sitzenden in „Past - Present - Future“. Der König thront bis in den Tod hinein. Er begibt sich sitzend zurück in die Erde, wächst isoliert, in aufrechter, würdevoller Haltung ins Grab hinein. Im Jenseits weiterregierend in Form der Feste, die die Lebenden zu seinem Andenken feiern. Der König thront an einem geweihten Ort. Allein. Unnahbar. Erhaben. Als Stellvertreter für seine Untertanen. Damit sie sich bewegen können, muß er stillgesetzt werden. Sein Thronen ist eine strenge Körperübung, in der er seinen Körper beherrschen lernt. In der Bewegungsbegrenzung gibt er ein Opfer und weitet seinen spirituellen Horizont. Wie der König ist der zivile Mensch ein Sitzender, ein Homo sedens. Und wie beim Thronen des Königs ist das moderne Sitzen auf Stühlen nicht nur eine äußerliche Haltung des Körpers, sondern eine innere Verfassung und Befindlichkeit. „Ich gehe über die Straße wie ein Sitzender“, sagt der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa, der zeitlebens auch Buchhalter war. Der Mensch wird nicht als Homo sedens geboren. Er wächst unter Anstrengungen und Widerständen in den Stuhl hinein und entwickelt im Sitzen eine typische Art, wahrzunehmen, zu fühlen, zu denken und sich zu verhalten. Das Individuum der Massengesellschaft wird zum Bild des Königs. Doch während der König an einem geweihten Ort thront, kann der Abendländer überall sitzen, bei jeglichem Tun und in jeder Menge. Er erscheint jedem anderen als Bild des Königs, während umgekehrt ihm jeder andere als König erscheint. „Past - Present - Future“ geht den Kräften und dem Wesen des Sitzens und Thronens nach. Aus der Arbeit schält sich aus den vielen möglichen Sitzhaltungen die eine heraus. Die ursprüngliche, die, die gemeint war, als der Mensch den König gewaltsam setzte. Die eine und einzige Haltung, in der sich das Spirituelle entwickeln kann: die aufrechte, isolierte, nicht angelehnte und kraftvolle Position der thronenden Körperhaltung. Sie ist die Seele des Sitzens, sein Wesen. Im formlosen - zusammengekauerten, an jeglichem Ort möglichen, im gemeinsamen, angelehnten und kraftlosen - Sitzen im Rahmen der Sitzgesellschaft wird eine erhöhte Geistigkeit ebenso ausgebildet wie ein abstraktes Denken und ein verhaltenes Verhalten, aber nicht die Tiefe der Spiritualität, die der thronende König erwirbt. Das einstige Thronen ist eine Form des Opfers und der Meditation, ein Mittel der Vergeistigung und der inneren Bildung. Der thronende König stellt die Mitte dar zwischen Mensch und Gott, zwischen Himmel und Erde. Dagegen ist der Weg vom Thron zum Stuhl ein Weg der Individualisierung. Der westlich orientierte Mensch hat im Sitzen seine individuelle Person noch nicht mit dem Ideal des thronenden Königs, dem allgemeinen Menschen, verbinden können. Die Ausbildung des Menschen zum politischen Weltbürger, die in der Geste des sitzenden Bürgers mitgegeben ist, hat bisher nicht stattgefunden. Seine Individualität ist eine private geblieben.
In der Skulptur „Der erste sitzende Stuhl (nach langem Stehen sich zur Ruhe setzend)“ liegt die Individualität beim Möbel, nicht beim Menschen. Der Stuhl erscheint als Personifikation des Menschen. Das Möbel, das ihn in die Sitzhaltung zwingt, nimmt eine Haltung ein, die als „sitzende“ bezeichnet ist. Der Stuhl sitzt aber nicht in der Art, wie sich ein Mensch auf den Stuhl setzt, sondern wie sich ein Tier, etwa ein Hund, niederläßt, denn er benutzt nicht selbst wieder einen Stuhl, sondern läßt sich stuhllos nieder. Der Stuhl als Behelf, als Sklave des Menschen wird selbständig gemacht, indem er sitzt. Das Objekt wird Subjekt. Das „sich zur Ruhe setzend“ verweist auf ein Subjekt, auf den Menschen, das sich seiner Funktion, Stuhl zu sein, verweigert. Im Titel ist eine Warnung ausgesprochen: Dem ersten sitzenden Stuhl könnten andere sich auflehnende Subjekte folgen. In der Skulptur wird auf die Relationen von Stuhl und Mensch, Sitzen und Selbständigkeit, Knechtschaft und Macht angespielt. Der Stuhl gibt das Stehen, das die Bedingung dafür ist, daß sich der Mensch setzen kann, auf. In ihm kommt die allgemeine Verfassung der Sitzkultur zum Ausdruck. So repräsentiert „Der erste sitzende Stuhl“ den Menschen, dem das Platznehmen versagt wird, während sich im Stuhl etwas Allgemeines ausspricht. Der Mensch als das sitzende Lebewesen befindet sich in existentieller Not: Er kann nicht sitzen, denn der Stuhl verrichtet nicht mehr seinen Dienst. Der Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen. Auf seinen Körper. Auf seine Haltung. Auf seine Abhängigkeit vom Stuhl. Auf die Gesellschaft, die ihn zum Sitzenden erzieht. Auf Zeiten, in denen die eigene Kultur keine Stühle kannte. Die Selbstverständlichkeit von Stuhl und Sitzen steht in Frage. Die Skulptur „Der erste sitzende Stuhl“ macht auf eine Gewohnheit, die zur Obsession geworden ist, aufmerksam, gibt dem Menschen den in der Gewohnheit alltäglichen Sitzens der Wahrnehmung entzogenen Stuhl zurück und stellt ihn in den Raum seines Bewußtseins. Die Sprache der Skulptur hebt das in der Geschichte und im Alltag Verstellende auf. Indem die Skulptur statt eines stehenden Stuhls, eines Gebrauchsmöbels, einen sitzenden, in herkömmlicher Weise unbenutzbaren Stuhl in den öffentlichen Raum bringt, kann das im stehenden Stuhl Verstellte sichtbar werden. Die Skulptur offenbart im sitzenden Stuhl - dem Schatten des stehenden Stuhls - das Wesen des Sitzenden in einer Sitzgesellschaft. Sie erhebt zwar den Stuhl in den Rang eines Subjekts, thematisiert aber nur nebenbei die Müdigkeit und Not des Stuhls. Wesentlich handelt sie von der Hilflosigkeit des Menschen, der nicht mehr über das hoch angesehene Requisit seiner Existenz, den Stuhl, verfügt und nicht mehr sitzen kann.
In der Skulptur „Ein Stuhl und sein Schatten - aus dem Schatten-Dasein tretend (Schlemihls Stuhl)“ zeigt Timm Ulrichs, wie sich Licht am Objekt Stuhl abarbeitet und in welcher Weise in der Abarbeitung die Architektur des Schattens entsteht. Schatten ist die relative Abwesenheit von Licht und von Wärme. Es handelt sich um einen von einer Lichtquelle erzeugten Raum, in den das Licht durch verstellende Objekte nicht gelangt. Um einen Kälteraum. Sichtbar ist der Schatten als dunkle Fläche auf einem Gegenstand, die durch die Behinderung des Lichts entsteht. Der verdunkelte Raum ist kalt. Kalt durch die Abwesenheit Wärme gebenden Lichts. Die Skulptur zeigt das Resultat und die Materialisierung der Behinderung der Ausbreitung des Lichts durch das lichtundurchlässige Material des Stuhls. Der Stuhlschatten wird erzeugt, indem Punkte der Konturen des Stuhls mit den entsprechenden Punkten seines Schattenbildes auf dem Boden zu einem Raum verbunden werden. Timm Ulrichs verräumlicht das Licht und materialisiert es. Er verräumlicht die Zonen, in die das Licht nicht eingedrungen ist. Schatten ist das, was hinter dem beschienenen Gegenstand bleibt: Abschattung, Verdunkelung, Dunkelheit. Symbolisch ist der Schattenraum, den der Stuhl erzeugt, der Raum des Todes. Das Totenreich des Stuhls. Bei den alten Ägyptern war der Ort, an dem das Licht, die Sonne verschwindet, das Totenreich. Der Tod hat eine Geometrie. Gegeben durch den Umlauf der Erde um die Sonne und durch die Verhältnisse von Gegenstand und Licht und Leben und Wärme. Licht arbeitet im Verborgenen, aber seine Strahlen können gefunden, sichtbar gemacht und konstruiert werden. Der Schattenraum, das scheinbar Unwesentliche des Stuhls, wird zu einem wesentlichen Bestandteil. Gegenüber dem Schatten wirkt das Objekt, an dem der Schatten erzeugt wird, der Stuhl, sogar einfach, banal, unspektakulär. Der Schatten hat eine große Würde erhalten. Selbstbewußt behauptet er sich neben seinem Miterzeuger. Die Architektur des Schattens wirft Licht auf den Stuhl, erhellt ihn. Das ist der Witz in den Arbeiten von Timm Ulrichs: Das Dunkle und Verborgene tritt in den Vordergrund und offenbart das komplexe Eingebundensein eines Gegenstandes in sein Umfeld und in die Bedeutungen, die der Mensch ihm gibt. Im Schatten des Stuhls hat der Künstler eine Sprache gefunden, die eine Seite des Stuhls erläutert und zugleich einen Hinweis auf die allgemeine Existenz des Menschen gibt. Das Dasein ist abhängig von Licht und Wärme, hat aber auch seinen Gegenpol: Schatten und Tod. Der Schatten ist nicht bloße Geometrie des Lichts oder Attribut der visuellen Wahrnehmung, sondern ein Prinzip der Existenz. Umgekehrt hat die verborgene Geometrie wesentlichen Anteil am Dasein des Menschen.
Die Möbel-Skulpturen von Timm Ulrichs sprechen über Möbel. Sie sprechen über ihre untergegangenen und unwahrnehmbaren Seiten. Über Schatten, über die Relationen und die Seele der Dinge, über scheinbar Nebensächliches, über das Wesen des Daseins. Sie erzeugen Zusammenhänge nicht in Begriffen der Wissenschaft, sondern in räumlichen Bildern, in der Poesie und in einer reduzierten, klaren Ästhetik. Die Skulpturen, die ein oder mehrere Möbel zur Grundlage haben, machen in ihrer Gestalt eine verborgene Ordnung sichtbar. Das Möbel, der mobile Begleiter des Menschen, wird aus der alltäglichen Verwendung herausgenommen, verwandelt und in einen geeigneten Kontext gestellt. Seine untergründigen Funktionen und Bedeutungen werden wieder bewußt wahrnehmbar gemacht. Die Skulpturen dienen nicht dem Gebrauch, sondern der Freude am Spiel, der Offenlegung der natürlichen und kulturellen Zusammenhänge, dem ästhetischen Genuß und der Weitung der politischen und philosophischen Daseinsperspektiven. Die Ästhetisierung des Möbels und der Kontext, in den es gestellt ist, sprechen in einer künstlerischen und persönlichen Sprache über allgemeine Weisheiten. Timm Ulrichs ist Tisch, Stuhl, Bett und Schrank behilflich, in der Sprache seiner Skulpturen Gedanken zu finden und so auszusprechen, daß sie ihren Ursprung, ihre Geschichte und ihre Rätsel anschaulich erzählen und ihr Wesen zeigen können. Die Sprache hängt eng mit dem menschlichen Körper zusammen. Timm Ulrichs arbeitet mit seinem Körper, der auch in seinen Skulpturen anwesend ist. Aber immer ist sein Körper auch ein allgemein menschlicher Körper, dessen Grundkonstellationen er erkennbar und bewußt macht. Er bezieht die Welt und ihre Objekte so radikal auf sich, daß er sie genau erfassen und gestalten kann. Das geht so weit, daß er eine Arbeit entwirft und plant, die Gestaltung aber mit der Hilfe seines Körpers den Naturgesetzen überläßt. Wie in der Arbeit „Ego-zentrischer Steinkreis: Steine in Wurfweite“. Das Allgemeine liegt im Zentrum des Ego. Durch die bedingungslose Steigerung seiner Individualität im Einsatz des Körpers erreicht er das Zentrum seiner Subjektivität und kann das Allgemeine genau abbilden. Genauigkeit ist eine Bedingung für Schönheit und Wahrheit. So trifft er in sich auf ein Allgemeines: auf die Bedingungen der Begegnung von Kultur und Natur. Indem er seiner Arbeit hartnäckig und schonungslos seine Individualität zugrunde legt, die er im Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die Gesellschaft behaupten kann, erreicht er das, was dem sitzenden Bürger bisher nicht gelungen ist: die Individualität mit dem Allgemeinen zu verbinden und in einer Form öffentlich zu machen. Im Öffentlichmachen existentieller Fragen in einer allgemeinen Form liegt ein bestimmendes Moment politischen Handelns. Es erweitert die Bedeutung des Möbels und stellt einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart des Menschen her. Zu einer Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft aufgehoben sind. Die Möbel-Skulpturen von Timm Ulrichs sind metaphysische Möbel. Die geistigen, verschatteten und vernachlässigten Elemente der Existenz des Menschen. Schatten der Möbel, Poesie ihrer Schatten. Die Schatten, die selbst wieder Schatten werfen, werden zu Zentralfiguren und machen die Möbel-Skulpturen von Timm Ulrichs zu philosophischen und radikal politischen Werken der Kunst.
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