aus: Köpping, K.-P./ Schnepel, B./ Wulf, Chr. (Hrsg.), Handlung und Leidenschaft. Jenseits von actio und passio, Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Band 18, Heft 2, Berlin 2009
1. GESCHEHEN, DISTANZ, FREIHEIT, HANDLUNG
Die moderne Welt ist eine Dingwelt. Geschaffen von Menschen. Ding für Ding, Stück für Stück. Entwickelt aus Erfahrung, Können und Wissen. Doch hatte der Mensch die Macht, in freier Wahl diese Kulturwelt zu erschaffen, zu erhalten und zu entwickeln, oder handelt es sich um eine Illusion und Selbstüberschätzung des Menschen? Ist er tatsächlich Schöpfer der Dinge und der High-Tech-Welt oder nur ohnmächtiger Gehilfe höherer, verborgener Mächte? Handlungsmacht wäre[1] ein freies, selbstständiges und bewusstes Wirken des Menschen aus dem eigenen Wesen und Willen heraus.
Das Geschehen
Die Welt ist ein Geschehen. Alles ist in Bewegung. Alles geschieht. Mineralien und Organismen, Pflanzen, Tiere und Menschen sind Veränderungen und Entwicklungen unterworfen. Alles findet statt, passiert, läuft ab. Ohne wahrnehmbare Urheber. Die Welt ist ein ununterbrochenes und unerschöpfliches Werden und Vergehen, ein Voranschreiten und Stehenbleiben, ein Seitwärtsgehen, Zurückbewegen und ein erneutes Voranschreiten.
Das Anorganische hat seine Bewegungsursache im Außen und lässt die Welt als einen großen Welt-Kalkül unablässigen Geschehens erscheinen, das den Gesetzen der Physik und der Chemie gehorcht. Die Ereignisse laufen ab, treten ein, kommen vor. Anonym. Sie werden deshalb auch als Es bezeichnet: Es schneit und Es regnet, Es gefriert, Es geschieht. Das Es mögen Urgewalten, Götter und Geister, die Evolution und das Unbegreifliche sein.
Mit der Entstehung des Lebens verlagern sich die Bewegungs- und Beweggründe nach innen. Lebewesen erscheinen autonom und als Urheber ihrer Wirkungen. Ihre Autonomie ist jedoch durch Reiz-Reaktions-Schemata – die Instinkte – begrenzt. Sie sind eng an ihre Umwelt angepasst, so dass sie diese nicht vorsätzlich verändern können. Deshalb erscheinen ihre Bewegungen immer noch wie von außen geleitet.
Mit dem Menschen betritt ein Wesen die Welt, das Geschehen zu initiieren scheint. Zunächst entwickelt es sich nach einem vorgegebenen Plan. Seine Ausgangssituation ist eine einzige befruchtete Eizelle. Nichts vermag es seiner Entwicklung hinzuzufügen. Ein Geschehen, in dem es physisch reift. Atem und Muskelspannung, Herzschlag und Verdauung, Sauerstoffaustausch, Speicherung und Erinnerung gehören zum vegetativen System und verlaufen selbsttätig. Dann aber, mit dem Erscheinen des Bewusstseins und der beweglichen Intelligenz scheint der Mensch in das bis dahin automatisiert ablaufende Geschehen eingreifen zu wollen. Das wirft Fragen auf.
Kann der Mensch Entscheidungen treffen oder ist sein Tätigsein und Verhalten determiniert, da sein Gehirn schon immer die Weichen gestellt hat, bevor ihm ein Problem zu Bewusstsein kommt, und er irrtümlich glaubt, Entscheidungen frei getroffen zu haben? Kann er nicht Agent und treibende Kraft seines Tuns nur dann sein, wenn er eigenständig ist, Handlungsmacht – Agency – hat und frei ist? Wie aber ließe sich der Eindruck des Menschen, er sei frei und er selbst wäre es, der handelt, festigen und begründen? Oder widerlegen?
Über den größten Teil der Alternativen, die der Mensch zu haben glaubt, ist tatsächlich bereits entschieden, bevor ihm eine Alternative bewusst wird. Denn das unbewusste Initiieren des Tätigseins erfolgt enorm schnell. Würde der Mensch alle Bewegungsänderungen mit Verstand treffen wollen, käme er nicht von der Stelle und wäre in Gefahrensituationen überfordert. Soll das Verhältnis von Selbstdefinition und Selbstvermögen kein Zirkelschluss sein, muss es kritisch betrachtet werden, da nur in ihm Antworten auf die Frage liegen, ob der Mensch frei ist und Handlungsvermögen hat.
Da nur wirklich werden kann, was möglich ist, sind Geist und Bewusstsein Möglichkeiten der Natur. So wie Leibniz sagt, dass die Essenz, die er als Möglichkeit auffasst, der Wirklichkeit vorausgeht.
Das neue Prinzip der Natur – das Distanzierungsvermögen
Die Natur arbeitet sich aus ihrer Physik und Chemie und aus ihrer Biologie heraus und bringt den Menschen hervor, der über die Welt und sich selbst zu reflektieren beginnt. Als würde sie über sich hinauswachsen. Die Natur erweitert ihre Regeln, indem sie im Menschen ein Distanzierungsvermögen anlegt.
Der Mensch ist das Tier der Distanz. Er vermag sich zu distanzieren vom Erdboden in der Aufrichtung, von Reizen im Denken, von sich selbst in Selbstreflexionen, von der Natur durch Kultur und von Objekten in der Sprache. Er ist ortsungebunden, hat vom Boden befreite Hände, eine lange vor- und nachgeburtliche Reifezeit und, da sein Lernprogramm nicht festgelegt ist, eine offene Zukunft. Die neuen Merkmale sind kein Mangel, sondern Stärken. Überlebensvorteile. Die Stärken sind es, die dem Menschen suggerieren, er habe einen freien Willen und besitze Freiheit und Handlungsvermögen.
Tatsächlich hat der Mensch das Vermögen, jedoch mit einer Einschränkung: Freiheit ist nicht mehr – auch nicht weniger – als das Leben unter den Bedingungen der Distanz. Danach ist Freiheit keine absolute Freiheit und Handeln nur bedingt selbsttätig. Das bedingt freie Handeln als Vermögen der Distanzierung liefert die Elemente, die Natur zu Kultur werden lassen und sie differenzieren und bereichern.
Distanzieren und Handeln
Daraus folgt, dass Handeln als Paradox stattfindet – ein Entweder frei oder unfrei verfehlt seinen Kern. Handeln ist ein widersprüchliches Sowohl als Auch, denn der Mensch ist frei und der Mensch ist unfrei. Er ist bedingt frei, da sich sein Handeln aus einer Vielzahl unbewusster Motive und bewusster Entscheidungen zusammensetzt. Er unterliegt Instinkten und Prägungen, ist aber zugleich ein Wesen mit einer beweglichen Intelligenz.[2]
Unfrei ist er, weil er evolutiv, physiologisch, psychisch und sozial abhängig ist. Evolutiv speist sich die menschliche Tätigkeit aus genetisch gefestigten Erfahrungen der Wirbeltiere, physiologisch aus dem vegetativen System, psychisch aus der emotionalen Bindung an Bezugspersonen und sozial aus einem gemeinschaftlichen Kommunikationskontext. Frei ist der Mensch durch das Vermögen des Innehaltens, Denkens, Urteilens und Bewertens.
Handeln beginnt mit der Distanzierung der Sinne vom Erdboden. Der Fuß macht den Menschen. Er befreit die Hände vom Boden und macht die freien Hände zu Bedingungen des Handelns. Der menschliche Fuß erzeugt die Vertikalität mit aufgerichteter Wirbelsäule, durchgedrückten Knien und gestreckter Hüfte. Die freien Hände verschaffen dem Leib eine große Beweglichkeit, dem Geist Spielräume und dem Mensch Handlungsvermögen. Die Freiheit des Menschen ist eine Direktive, selbst zu stehen, selbstständig zu sein, selbst zu handeln.
Die Distanzierung der Sinne von der Erde hat eine neuronale Entwicklung angeregt und Instinkte entkoppelt, Reiz und Reaktion distanziert und zwischen ihnen einen Zeitspalt geöffnet. Ein Innehalten ermöglicht. Ein Unterbrechen von Automatismen. Arnold Gehlen hat den Spalt Hiatus[3], Leo Weisgerber Zwischenwelt[4] und Karl Eibl Zwischenwelt und Interface[5] genannt. Sind bei den Tieren Nervensystem und Welt unmittelbar miteinander verkoppelt, verfügt der Mensch über die Fähigkeit, einen Teil seiner automatisierten Verhaltensprogramme zu unterbrechen und im Zeitspalt Denken in Gang zu setzen und Kultur zu schaffen.
Im Zeitspalt wird das Abwägen des Für und Wider von Reaktionen auf Reize möglich, womit freie Elemente ins Spiel kommen, die der Mensch Denken, Begriff, Verstand, Bewusstsein und Urteil nennt, und durch die er in autonome Prozesse eingreifen kann.[6] Erst wenn auf einen Reiz weder spontan noch notwendig immer gleiche Reaktionen folgen müssen, sondern die Möglichkeit des Innehaltens, der Improvisation und Variierbarkeit besteht, gibt es Verstehen, Vertrauen in sich selbst, Handeln und Macht.
Dem Zeitspalt entspringen auch Selbstbezug und Selbstbewusstsein sowie das Vermögen der Sprache. Im Selbstbewusstsein tritt sich die Natur als ein anderes, als Kultur gegenüber. In der Sprache schafft sie sowohl Distanz als auch Nähe zur Welt der Dinge, des Sozialen und der Ideen. Sprache ermöglicht ein differenziertes Kommunizieren und ist ein Speicher für Wissen und Können, die sich für die Zukunft bewahren lassen.
Die Distanzierung des Menschen von der Natur stellt eine Erweiterung der Möglichkeiten der Natur dar: Der Mensch ist als Naturwesen ein Kulturwesen, dessen Natur darin besteht, Kultur zu schaffen – indem er überlegt, plant, erfindet und mit den Händen hervorbringt.
Im Handeln wird das Leben greifbar. Mit Händen. Denn erst im Handeln spürt der Mensch sein Leben und wird sich seines Lebens bewusst. Im Handeln fallen Bewusstheit und Aktivität, Freiheit und Intuition zusammen und machen den Menschen zum Subjekt seines Lebens. Intuition und Gespür sind Teil der Klugheit des Körpers und oft erfolgreicher als der Verstand, so dass der Grat schmal ist, auf dem der Mensch frei ist, handelt und Macht hat.
Die Vielseitigkeit seiner Lebensformen, die Fähigkeit, an jedem beliebigen Ort der Erde siedeln zu können und die vermeintliche Beherrschung der Natur[7] sprechen für einen Überlebensvorteil durch das Vermögen der Distanzierung. Der Mensch ist kein Mängelwesen, sondern ein Wesen, dessen Instinkte um das Denken, das Sprechen, das bewusste Sein, das Handeln und das Sinnentwerfen erweitert sind. Die Leibeshaltung, Fuß und Hand, die angehobenen Sinne und das Vermögen, nach einem Reiz Zeit verstreichen zu lassen, um dann, gestützt auf Erfahrungen, die in den Instinkten liegen, überlegt zu handeln, geben dem Menschen eine herausragende Position unter den Lebewesen.
2. FREIHEIT, WILLE, HANDLUNGSMACHT
Trotz der großen Bedeutung des Gefühls hat die Epoche der Aufklärung die rationale Lebensführung befördert und in Gefühlen und im Gespür eine Behinderung von Rationalität und Erkenntnis angenommen. Heute wechselt das Paradigma und neurobiologische Untersuchungen bestätigen, dass diejenigen, die nicht fühlen können, auch nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Antonio R. Damasio berichtet in Descartes‘ Irrtum von einem Juristen, der infolge einer Nervenerkrankung nicht mehr fühlen kann. Er war in der Lage, juristische Fälle weiterhin zu analysieren, aber unfähig, Konsequenzen aus den Analysen zu ziehen.
Freiheit zeigt sich nicht darin, nachzudenken und rational gewonnenen Urteilen zu folgen, sondern bedeutet, dass beim Urteilen das Gefühl mitberücksichtigt wird, wissend, dass im Gefühl wertvolle Erfahrungen des Lebens aufbewahrt sind. Was der Mensch will, hängt von den Lebensumständen und von ihm selbst ab – von seiner Geschichte, seinem Können, seiner rationalen und emotionalen Intelligenz und von seiner Durchsetzungskraft. Aber mit seinem Denken kann er Einfluss auf das Wünschen und Wollen nehmen – ihnen eine Richtung geben und dem Willen entgegenstehende Mechanismen im Rahmen des Möglichen beseitigen.
Allerdings sind Freiheit, Wille und Macht weder absolut noch als Freiheit, Wille und Macht eines einzelnen definierbar, sondern es handelt sich um komplexe Prozesse, in denen einzelne mit ihrer Umgebung in einem unablässigen Austausch stehen. Dabei kommt es bei der Verbindung von Handeln, Freiheit und Intelligenz darauf an, dass der Mensch sich Wissen und Fähigkeiten aneignet, Einblick gewinnt und Sinn sucht, entwickelt und erzeugt. Dass der Mensch auch Sinnsucher ist, ist ein starker Verweis auf seine Handlungsmacht. So wie er auf seinen Atem achten kann, um sein Innen auszuloten, kann er seiner Existenz einen Sinn geben, kann er über sich nachdenken, über sein Nachdenken nachdenken und so fort.
Handlungsmacht setzt Handlungsvermögen voraus. Löwe, Haifisch und Adler sind starke Tiere, aber sie handeln nicht und haben keine Macht. Macht ist ein kulturelles Vermögen, das absichtsvoll handelnde, moralische und sinnsuchende Wesen – also Menschen – voraussetzt. Handlungsmacht ist eine leiblich-seelische geistige Durchsetzungskraft und ein Begriff der Moral.
3. MACHTSKULPTUREN
Verkörperungen der Handlungsmacht
Den schmalen Grat an Freiheit, die dem Menschen gegeben ist, kann er mit kulturellen Mitteln verbreitern. Mit Hilfe seines Leibes, mit Dingen und mit Institutionen. Der Mensch kann nicht anders – er muss seine Handlungsmacht verkörpern, denn jede neue Lebensform sowie der Gebrauch neuer Werkzeuge und Gebrauchsgüter wirken unmittelbar zurück auf seine geistige und leibliche Ordnung. Zuerst drückt er sie in seinem Leib als Haltung, Muskelstruktur, Verhalten und Sprache aus. Später veräußert er seine Handlungsmacht in Dingen wie Werkzeugen und Gebrauchsgütern sowie in Medien, Gebäuden und Institutionen.
Tiefe Einschnitte erlebt der Mensch durch Großobjekte wie Haus, Thron, Stadt, Schuleund Internet, deren lateinische Namen unmittelbar ihre kulturformende Wirkung zum Ausdruck bringen: Haus, Domus und Domestizierung – Stadt, Civitas und Zivilisierung – Stuhl, Sedile und Sedierung – Schule/ Schüler Discipulus und Disziplinierung – Netz/ Knoten, Knod und Knodierung.[8] Die Objekte erzeugen jeweils eine spezifisch Handlungsmacht, die sie zugleich festigen und entwickeln.
Menschen kommunizieren, sind lernfähig, haben Gedächtnis, geben ihr Können und Wissen, ihre Gebräuche und ihre Moral an Nachkommen weiter.Die Folge ist eine Entwicklung und Akkumulation von Wissen und Können. Bewahrt in den unterschiedlichen Speicherpotenzialen, die das evolutive und kulturelle Erbe weitertragen. Jede Etablierung eines Objekts ist mit epochalen Einschnitten verbunden und erhält einen Prozess aufrecht, der heute als Prozess der Globalisierung sichtbar wird.
Das Haus – ortsgebundeneHandlungsmacht
Mit der Sesshaftwerdung entsteht das feste Haus, das dem Menschen ein klar umrissenes Territorium gibt. Besitz an Boden entsteht. Die Sesshaften schneiden aus dem göttlichen All einen Bezirk heraus und formen ihn zum Haus – zum ersten festen Ort im All und zur ersten weithin sichtbare Gestalt menschlicher Kultur. Diese als Frevel erlebte Eigenmächtigkeit isoliert Gemeinschaft und All.
Das Haus ist das erste fixierte Zentrum der Macht. Ein strategischer Ort, von dem aus Sesshafte ihre Handlungsmacht ausdehnen, indem sie hinausgehen, das umliegende Gelände erkunden und zurückkehren, erneut ausgreifen und weitere Häuser errichten. In der Weise kultivieren sie über Jahrtausende die Erdoberfläche. Sie arrangieren die Häuser zu Dörfern und Städten und verbinden sie durch Wege und Straßen zu einer ausgedehnten Siedlungsstruktur. Solche weiträumigen Strukturen hat die Geschichte vielfach hervorgebracht, doch sie sind immer wieder durch Umweltkatastrophen und Kriege zerstört worden. Bis eines Tages eine irreversible Struktur bleibt – das Römische Reich. Und als hätten die Römer ihren historischen Auftrag verstanden, haben sie die Struktur gefestigt, indem sie das gesamte Reich von Mesopotamien bis Spanien und von Nordafrika bis Britannien mit einem rechtwinkligen Straßennetz überzogen. Von dem gerasterten und vernetzten Reich ausgehend haben die Menschen im 16. Jahrhundert dieses Prinzip über den Atlantik nach Nord- und Südamerika getragen, dort realisiert und ausgeweitet und das Netz zu einer weltumspannenden Infrastruktur aus Verkehr, Militär, Wissen und Kultur verdichtet – bis hin zur heute bekannten Welt. Mit jedem neuen Haus zersplittert sich die göttliche Einheit und Macht und die Handlungsmacht des Menschen weitet sich aus.
Da Sesshafte nur überleben, wenn sie Vorräte für Notzeiten horten, zentral verteilen und die Ansiedlung schützen, etablieren sie eine zentrale Handlungsmacht, die dafür sorgt, dass der gemeinschaftliche Besitz bewahrt bleibt. Sie schaffen eine stellvertretende Macht, durch die ein einzelner Mensch aus dem Schatten der Gesellschaft heraustritt: Die Institution von Thron und König entsteht.
Der Thron-Stuhl – institutionelle Handlungsmacht
Sesshafte Kulturen des Vorderen Orients haben ihre Handlungsmacht mit dem Thron-Stuhl differenziert. Sie haben früh erkannt, dass das Sitzen beruhigende, ordnende und geistige Kräfte freimacht. Eine Gemeinschaft erwählt ein Mitglied, setzt es auf den Thron – eine unterschenkelhohe, horizontale Ebene –, versorgt es, gibt ihm Macht und nennt es König. Die Macht ist ambivalent, weil sie in einem Opfer gründet, da der Stillgesetzte nicht handeln darf, sondern handeln lassen muss. Der thronende König ist eine Handlungsmacht der Gemeinschaft, die einem einzelnen Menschen Macht gibt und sich in ihm eine spirituelle Mitte schafft.
Der König genießt Privilegien. Er ist das Licht und das Wissen, die Weltmitte und das Bild für Besitz, Kulturarbeit, Ordnung und Lebenssinn. Seine Handlungsmacht besteht darin, dass er über Leben und Tod seiner Untertanen verfügt. Er kann sie jederzeit einsetzen, doch er existiert nur in und mit der Gemeinschaft. Seine Ohnmacht besteht darin, dass er isoliert wird und dass mäßige Ernten, Krankheiten von Untertanen und Niederlagen in Stammesfehden für ihn tödlich enden können.
In der Unbewegtheit und Isolation des Thronens kann der König nur überleben, wenn es ihm gelingt, seine leibliche Vitalität innen abzuarbeiten. Er soll nicht im Außen ausschreiten, sondern im Geist. Dazu bleibt ihm nur die Möglichkeit der Verinnerlichung. Die Schaffung einer inneren Landschaft mit Räumen und Wegen und die Ausbildung seiner schöpferischen Potenziale. Seine innere Welt soll eine Kulturlandschaft werden, eine Topologie der Imagination, in der er seine Energie verliert. In der Unbewegtheit des Körpers soll der König spirituelle Kräfte ausbilden, die ihm erlauben, Kontakt zu den kosmischen Mächten aufzunehmen. Dadurch hebt er zugleich die Isolation von Gemeinschaft und All auf, die mit dem Hausbau entsteht.
Thronen ist Beruhigung, Sedierung, Verinnerlichung. Damit weist eine Gemeinschaft einem einzelnen einen Weg in die Spiritualität. Damit er aber im Geist frei wird, Ideen zur Lösung der Probleme der Gemeinschaft findet und eine stellvertretende Handlungsmacht entwickelt, muss sie ihn in die Verinnerlichung – in die Sedierung – zwingen.
Infolge der physischen Reduktion im stillen Sitzen und der Verinnerlichung lernt der Thronende, den Zeitspalt zwischen einem Handlungsimpuls und einer Handlungsausführung zu verbreitern, indem er das, was sich spontan ausdrücken will, bedingungslos zurückhält.
Der Aufbau einer inneren Topologie ist die Kultivierung des Königs, die ihn zum Weisen, Schamanen und archaischen Psychologen macht. Tatsächlich kann der Mensch seine Vitalität abarbeiten, denn neurobiologische Prozesse wie Denken, Imaginieren und unbewusste Aktivitäten machen ein Fünftel des gesamten Energiebedarfs des Menschen aus und die Hälfte des Zuckers wird für Gehirnaktivitäten verbraucht. Subjektiv liegt der Gewinn des Thronens für den König in seiner herausgehobenen Position, gesellschaftlich darin, dass das Gemeinwesen ein Daueropfer, eine kultische Mitte und einen Zugang zu den kosmischen Mächten erhält. Das Thronen des Königs ist eine institutionelle Handlungsmacht.
Der Thron-Hocker – außerpersonale Handlungsmacht
Jäger und Sammler, vorzivile und nicht sesshafte Kulturen praktizieren andere Formen der Agency. Riten und spirituelle Ereignisse gelten als Öffnungen in tiefere Schichten des Seins. Solche Öffnungen können in der Meditation, im Rausch, in der Ekstase und in der Besessenheit durchschritten werden. Zur Durchführung solcher Praktiken können niedere Häuptlings- und Schamanensitze dienen, die Schamanen das Vermögen geben, Medium zu werden zwischen einem Menschen und außermenschlichen Kräften. Auf dem Thron-Hocker rufen sie außerpersonale Handlungsmächte an.
In Brasilien kann ein solcher Hocker die Gestalt eines starken Tieres, zum Beispiel des Jaguars haben. Der Jaguar ist ein mythisches Tier, da er nahezu alles kann: Er klettert auf hohe Bäume, ist Herr des amazonischen Urwalds und der Savanne, aber auch des Flusses, da er jederzeit den Kampf mit einem Krokodil aufnimmt. Auf rituellen Sitzen nehmen nur Männer Platz: Häuptlinge, Schamanen und Zauberärzte. Die Tiergestalt des Throns, die gewählt wird, hängt vom Problem ab, das bewältigt werden soll, denn wenn der Medizinmann auf der Thron-Bank thront, ruft er die Tiergeister um Hilfe. Ruht er auf einem Jaguar-Thron, kann er die Geister all der Tiere kontrollieren, die zur Beute des Jaguars gehören. Mit ihrer Hilfe versucht er, Einfluss auf das Wetter und die Jagd zu nehmen, das Leben des Stammes in eine Richtung zu lenken oder Menschen von Krankheiten zu heilen.[9] Von Schamanen wird nicht angenommen, dass sie über Handlungsmacht verfügen, sondern sie werden als Medium angesehen, das von fremden Mächten ergriffen und bewegt wird. Sie werden durch fremde Mächte zum Jaguar und reinigen Leib und Willen eines Kranken, erleuchten seinen Verstand oder bringen eine für den Stamm bedrohliche Situation in Balance. Schamanen erhalten ihre heilende Kraft von Tierseelen, Ahnen und Göttern, so dass ihre Wirkungen in außerpersonalen Mächten liegen.
Der Profanstuhl – individuelle Handlungsmacht
Das Thronen des Königs wird in modifizierter Weise durch das europäische Bürgertum fortgesetzt. Bis zur Neuzeit gilt das Ruhen auf unterschenkelhohen Sitzen als geweihte Haltung. Das Sitzen auf ungeweihten Stühlen im Alltag ist eine Erfindung Europas, indem die politisch einflussreich gewordene Oberschicht des Bürgertums die Throngeste übernimmt und ein neues Objekt hervorbringt: den nicht geweihten Sitz, den Profan- oder Bürgerstuhl.
Um 1400 erhalten die Vorsteher der Rathäuser, Gilden und Zünfte das Sitz-Recht im Kirchenraum. Ihre Stühle sind dem Chorgestühl der Mönche vergleichbare Sitze. In der Zeit der Reformation gelangt der Stuhl aus dem Raum der Kirche in die profane Welt: in die Wohnhäuser der bürgerlichen Oberschicht und in die Kontore wohlhabender Kaufleute. Parallel zum Kampf um politischen Einfluss wird das Sitz-Recht nach und nach ausgeweitet, bis in der Französischen Revolution und dem Abtreten von Königsmacht und Königsthron jeder Bürger sitzen darf. Im frühen 20. Jahrhundert etabliert sich der Stuhl allmählich zum Standardmöbel bürgerlichen Wohnens und Arbeitens.
Der Stuhl verbreitet sich nicht allein, sondern verbindet sich mit dem Tisch zu einer modernen Wohn- und Arbeitseinheit. Könige thronen für sich und tischlos. Wenn sich aber das Kontor zu Schreibstube und Kanzlei, zu Büro und Atelier differenziert, verbinden sich Stuhl und Tisch mit dem Sitzenden zu einer Einheit, die zu einer effektiven Produktivkraft wird, die Europa materiellen Reichtum und eine kulturelle Differenziertheit beschert. Die Schattenseite des Sitzens am Tisch ist die Reduktion der physischen Kraft, der leiblichen Beweglichkeit sowie der geistigen und psychischen Sprödheit und Zerbrechlichkeit. Was dem archaischen König nicht möglich war, gelingt dem Bürgertum – die Individualisierung der Handlungsmacht.
Die Schule – systematische Ausbildung der Handlungsmacht
Der frühzeitigen und systematischen Ausbildung der Handlungsmacht dient die Schule. Sie nimmt ihren Ausgang in den Gymnasien Griechenlands, setzt sich in mittelalterlichen Klosterschulen und neuzeitlichen Stadtschulen fort und erlebt einen Höhepunkt in der allgemeinen Schulpflicht des 19. Jahrhunderts.
Wie in der beruflichen Tätigkeit und beim Essen arbeiten auch in der Schule Stuhl und Tisch gemeinsam am Sitzenden. Die Leibeshaltung des Sitzens und die Tätigkeit des Lesens und Schreibens begrenzen die kindliche Vitalität und Beweglichkeit. Stuhl, Tisch und Sitzhaltung wirken hemmend auf die Physis, indem sie die Atmung begrenzen und strukturieren, chronisch die Skelettmuskeln anspannen, vegetative Funktionen beeinträchtigen und bis hinein in den Knochenbau wirken. Auf Psyche und Geist wirken Stuhl, Tisch und Sitzhaltung sowohl fördernd als auch hemmend. Das Kind muss eine gewaltige Körperbeherrschung und ein Höchstmaß an Disziplin aufbringen, um sich leiblich stillgesetzt im Medium des Schreibens und Lesens bewegen zu können. Dabei schirmt das Sitzen Reizbezirke ab, die den Lernprozess stören, so dass das Kind lernt, den Zeitspalt zu dehnen und sich auf rationale Vorgänge zu konzentrieren, auf die Verfolgung von Gedanken, ohne sich ablenken zu lassen, bis es in einem abstrakten Stoff logische Operationen durchführen kann, ohne der Anwesenheit konkreter Dinge zu bedürfen. Was seinem Bewegungsdrang vorenthalten wird, dient der Ausbildung seiner Handlungsmacht.
Da die Sinne nicht festgelegt sind, können sie durch Einflüsse geformt werden, und da das, was das Kind in der Schule lernt, nicht von vorn herein strukturell in seinem Gehirn festgelegt ist – wie etwa der Spracherwerb –, ist die Zukunft des Menschen offen.
Das Sitzen auf Stühlen fördert Affektbeherrschung, Selbstkontrolle und Abstraktionsvermögen, bringt die Sinne und ihre Daten in eine neue Hierarchie und führt zu den Fertigkeiten des Zurückhaltens, Überschauens, Ordnens und Abstrahierens. Die leibliche Verödung des Sitzenden und seine Unlust zur Bewegung wirken negativ auf seine geistige Verfassung, zugleich aber erfährt der Sitzende paradoxerweise eine geistige Eigenständigkeit, die Sitzkulturen zu mächtigen, handlungsmächtigen Kulturen formt.
Gegenwärtig sitzt der Mensch kaum beweglich am Tisch, braucht nur eine knapp bemessene Fläche, die er vom Sitz aus mit den Händen erreichen und ordnen kann. Die Tischfläche ist der moderne Acker. Auf ihr sät er seine Saat und holt die Erträge seiner geistigen Arbeit ein. Von der engen Zelle Tisch und Stuhl aus ist er auf der Erde per Elektronischer Post, Internet und Mobiltelefon allgegenwärtig. Ein differenziertes Ensemble an High-Tech und der differenzierte Ausdruck einer gewaltigen Handlungsmacht.
4. GLOBALITÄT ALS FOLGE VON HANDLUNGSMÄCHTEN
Die Handlungsmacht bildet sich parallel zum Prozess der Globalisierung aus. Zuerst müssen die Menschen Macht über ein begrenztes Stück Erde gewinnen, um im Schutz früher Behausungen Intimität, Feinmotorik und Rationalität zu entwickeln. Um die neue Lebensform der Sesshaftigkeit zu sichern, übertragen sie einem Menschen Macht und etablieren die beiden Pole der Globalisierung: die politische Gewalt eines Gemeinwesens und die stellvertretende Handlungsmacht eines einzelnen, die Jahrtausende später zum Vorbild und Ansporn für die bürgerlichen Individuen der westlichen Kulturen wird, die aus Monarchien demokratische Handlungsgemeinschaften machen, in denen jeder – sitzend – Anteil an der Macht erhält.
Weder die Gesetze der Physik der erkaltenden Erde noch die Gesetze der Biologie ihrer blühenden Oberfläche, sondern die Spielräume der Poiesis des menschlichen Bewusstseins treiben die Entwicklung des Menschen an. Der Prozess zur Globalisierung folgt keiner Notwendung, da er weder den Gesetzen der Kausalität noch der Logik der Technik folgt, sondern der Mensch selbst beeinflusst den Prozess, wenn er ihn auch nur bedingt steuern, unter Kontrolle halten kann. In die Definition des Menschen gehören nicht seine Fertigkeiten als Homo faber, worauf Hans Blumenberg zu Recht hinweist[10]. Allerdings legt ein Blick auf einige Tausend Jahre Geschichte nahe, es für wahrscheinlich zu halten, dass sich Kulturen, die in zugänglichen Regionen leben – nicht verborgen wie Pygmäen in Äquatorial-Afrika, Papua in den schwer zugänglichen Wäldern Papua-Neuguineas oder Yanonami im brasilianischen Urwald –, eines Tages nähern und zusammenschließen würden. Sie begegnen sich, kooperieren, tragen Fehden aus, immer aber findet ein Transfer von Wissen, Können und Methoden statt, bis Wissen, Können und Methoden transparent sind und die Menschen unterschiedlicher Kulturen einander ertragen können. Wie es Klaus Theweleit sagt: „Überall, ganz gleich wo auf der Welt, sieht man die öffentliche Gewalt und Kriegsbereitschaft zurückgehen, wo verschiedene Bevölkerungen und Lebensweisen sich mischen; der künstliche Hass der Abgegrenzten aufeinander nimmt ab.“[11] Und nicht grundlos spricht Immanuel Kant schon 1784 vom Bürger als Weltbürger.
Unterstützt wird die Annäherung durch den Zwang infolge der enormen Weltbevölkerung, vorsorglich mit den Ressourcen der Natur umzugehen. Auch erfahren die Menschen, dass nicht jede Kultur ihre eigene Atmosphäre hat, sondern dass es für alle nur eine Atmosphäre gibt, für die jeder Verantwortung trägt. Umgekehrt ist das Internet nicht nur eine Struktur der Macht, sondern ebenso Ausdruck des Bedürfnisses nach Austausch. Jeder, der einen Computer bedient, bildet einen mächtigen Knotenpunkt in der vernetzten Welt, der zugleich ein Knotenpunkt des Bedürfnisses nach Kommunikation ist.
Immer mehr wissen wir um die Grenzen unserer Gestaltungsmöglichkeiten. Die Zeit der Naivität ist zu Ende. Und dennoch sind es die Spielräume, die Freiheit, die in diesem Augenblick wichtig werden, denn wir können zum ersten Mal bewusst für die Globalität[12] handeln und verhandeln. Der König ist von Beginn an ein Medium des Verhandelns mit den kosmischen Mächten, und auch wir, die sitzenden Bürger als moderne Könige sind Verhandlungsmächte und sollten unsere Freiheit unbedingt nutzen. Wir brauchen heute ein Vertrauen darauf, dass wir frei sind zu handeln – weil wir nur dann gut und weitsichtig handeln. Handlungsmacht ist Kulturschaffen, in der unsere Hoffnung, Freiheit und Kraft liegt.
Literatur
Bieri, Peter, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt/M. 2009.
Blumenberg, Hans, Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1999.
Eibl, Karl, Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive, Frankfurt/M. 2009.
Eickhoff, Hajo, Essenz der Zukunft. Vom Möglichkeitssinn, Wiesbaden 2009.
Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der der Welt, Wiesbaden 1997.
Theweleit, Klaus, Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell, Frankfurt/M. und Basel 2002.
Weisgerber, Leo, Das Menschheitsgesetz der Sprache, Heidelberg 1964.
Zerries, Otto, Tierbank und Geistersitz in Südamerika, in: Zeitschrift für Ethnologie, Vol. 1, Zürich 1970, S. 47-66.
[1] Der Konjunktiv besagt, dass hier noch nicht geklärt ist, ob es Freiheit gibt.
[2] Für Peter Bieri ist die Bedingtheit der Freiheit gerade die Bedingung ihrer Möglichkeit. Vgl. Bieri, Peter, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt/M. 2009, S. 165ff.
[3] Vgl. Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der der Welt, Wiesbaden 1997, S. 333.
[4] Weisgerber, Leo, Das Menschheitsgesetz der Sprache, Heidelberg 1964, S. 59ff.
[5] Eibl, Karl, Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive, Frankfurt/M. 2009, S. 33.
[6] Die Reaktionsverzögerung ist dadurch möglich geworden, dass für das Denken zuständige Nervenbahnen der Großhirnrinde länger sind als die Nervenbahnen der Hirnzentren.
[7] Das wäre die Beherrschung der Natur durch die Natur oder eine Selbstbeherrschung der Natur.
[8] Die moderne Welt ist nicht das Resultat eines Zivilisationsprozesses – der Formung des Menschen durch die Stadt –, sondern ein weitaus komplexerer Prozess.
[9] Zerries, Otto, Tierbank und Geistersitz in Südamerika, S. 47f, in: Zeitschrift für Ethnologie, Vol. 1, Zürich 1970, S. 47-66.
[10] Blumenberg, Hans, Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1999, S. 16.
[11] Theweleit, Klaus, Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell, Frankfurt/M. und Basel 2002, S. 16.
[12] Globalisierung ist nicht Globalität, sondern der Weg zu ihr hin. Globalität ist die nächste sichtbare Stufe der Entwicklung der Menschheit. Vgl. Eickhoff, Hajo, Essenz der Zukunft. Vom Möglichkeitssinn, Wiesbaden 2009, S. 38ff.
© Hajo Eickhoff 2009
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