Vortrag beim Verband für Diätetik in Potsdam, 2007
Guten Tag, meine Damen und Herren,
ich beschäftige mich immer wieder mit Unternehmen, spreche hier aber aus einer anderen Perspektive. Mein Arbeitsgebiet ist die Sesshaftwerdung des Menschen und deren Folgen für die Gegenwart. Im engeren Sinne habe ich mich mit dem Sitzen auf Stühlen beschäftigt – mit seiner Herkunft, seiner Bedeutung, der Wirkung auf Leib und Seele des Sitzenden und den Folgen für die Kultur. Heute sitzt erst eine Hälfte der Menschheit auf Stühlen – sie gehören dazu –, obwohl vom weißen Gartenstuhl – den sie alle kennen – jährlich einige Milliarden produzieret werden. Das Sitzen auf Stühlen im Alltag ist eine Erfindung Europas um 1500. Dennoch sitzen die meisten Menschen unserer Kultur frühestens seit 1860, dem Jahr, in dem der erste Massenstuhl in Produktion ging – der Wiener Kaffeehaus-Stuhl. Heute dagegen stehen jedem modernen Menschen drei bis vier Dutzend Sitze zur Verfügung. Hier im Saal nutzen Sie, meine Damen und Herren, einen, während Sie viele andere besetzen könnten. Auf die Sesshaftwerdung, die der Auslöser für unsere abendländische Kultur ist, komme ich im letzten Abschnitt noch einmal zurück.
Der Mensch als Philosoph, Mönch, Unternehmer und Künstler
Der Mensch als Philosoph und Mönch, als Unternehmer und Künstler
Ein trauriges Kapitel der Kulturgeschichte ist, dass der Mensch mit Lebensmitteln, mit Luft und Wasser schlecht umgeht. Da ist es beruhigend zu wissen, dass die Vertreter der unterschiedlichen Diät-Verbände ein kritisches Auge auf die Produktion von Lebensmitteln werfen, da Lebensmittel für den Menschen etwas Wesentliches sind, Fundamentales, das uns jeden Tag berührt – uns ernährt, aber auch Genuss bringen kann. So müssen Sie sich mit ethischen Fragen beschäftigen in Bezug auf die Qualität von Lebensmitteln und auf die Transparenz dieser Qualität. Auch ich werde über Ethik sprechen. Allerdings in einer allgemeinen Form und im Zusammenhang mit Unternehmen, Transparenz und Kommunikation.
Was immer der Mensch tut – er ist und bleibt Mensch. Ob er Produzent oder Verbraucher ist, ob Lehrer oder Handwerker, Angestellter oder Unternehmer. Deshalb ist Ethik unteilbar. Denn der Mensch handelt als Mensch nicht ethisch gut, wenn er als Produzent unfair und egoistisch ist. Ebenso wenig, wenn er als Verbraucher gleichgültig gegenüber seinem Verbrauch ist und verschwenderisch mit Produkten umgeht.
Der Mensch ist ein denkendes und ein sinnliches Wesen mit Bedürfnissen nach Wissen und Genuss, nach Kommunikation und Anerkennung. Er birgt in sich unterschiedliche Anlagen: er ist Philosoph und Mönch, Unternehmer und Künstler. Durch Spezialisierung und Technik und die einseitige Pflege einer rationalen Lebensführung haben sich diese Vermögen nur begrenzt entfaltet. In der Einseitigkeit neigt der Mensch dazu, Ursache und Wirkung zu vertauschen. So sind für das Denken Lebensmittel Mittel, Mittel der Ernährung, für die Sinne aber können sie Ziele, Absichten sein – Zwecke für ein gutes Leben. Umgekehrt erscheint modernen Menschen das Zahlungsmittel Geld als Ziel und Zweck. Doch Geld ist ein reines Mittel. Demgegenüber sind unsere Lebensmittel eher Lebenszwecke mit der Funktion, unser physisches Leben zu erhalten und uns zu sättigen. Darüber hinaus können sie jedoch noch mehr leisten und uns Genuss, Kommunikation und Wohlbefinden verschaffen.
Der Mensch ist ein moralisches Wesen. Denn er ist frei und muss anders als jedes Tier sich seinen Lebensweg suchen und definieren. Dessen ungeachtet sind heute Moral und Ethik in Verruf. Verständlicherweise, denn der Einzelne formuliert seine moralischen Prinzipien für alle anderen mit. So kommt Moral privat daher und ist meistens doch subjektiv und ideologisch. Andererseits kommt eine falsch verstandene Toleranz hinzu, durch die niemand anderen gerne sagt: „Tue dies!“ oder „Lass das!“, wie sich das umgekehrt niemand gerne sagen lässt. Doch in jeder Geste und in jedem Tun und Sagen steckt Moral – implizit. Alles ist in Moral gebettet.
Das Moralische wird jedoch zur Pflicht, wenn, wie gegenwärtig, die Welt in einer materiellen und geistigen Krise steckt, einer äußeren und einer inneren Bedrohung ausgesetzt ist. Einerseits ist die Erde bedroht, andererseits der Mensch.
Der enormen Weltbevölkerung, die global zusammengerückt ist und ihre Ansprüche weiter steigert, stehen nur die endlichen Ressourcen der Erde an Energie und Biomasse zur Verfügung. Der Mensch ist zwar seit hunderttausend Jahren biologisch derselbe, seine Technik aber hat er so enorm entwickelt, dass sich seine Biologie nur noch bedingt den technischen Errungenschaften anpassen kann und er das Einfühlungsvermögen in die Wirkungen seiner Eingriffe in die Natur verloren hat.
Die Organisation und die Art und Weise der Arbeit befindet sich seit der industriellen Revolution in einer Krise. Vielleicht wissen Sie, dass ein Drittel aller Investitionen eines Unternehmens verloren geht durch innere, personal bedingte Widerstände: Informationen werden zurückgehalten oder missverstanden, Menschen werden durch mangelnde Transparenz krank, Mitarbeiter kommunizieren nicht oder das Hierarchiegefälle unterdrückt und lähmt sie. Politiker und Wirtschaftsexperten fragen, ob der Aufschwung 1.3, 2.0 oder 0.9 Prozent betragen wird, doch Unternehmen aller Art und aller Größen vergeuden das Vielfache davon.
Qualität und Wesen
Im Zustand, in dem der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird, kann sich ihm das Wesen des Daseins erschließen. Angesichts einer Erkrankung oder des Todes fällt alles Äußerliche von ihm ab. „Angesichts des Todes“, sagt der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard, „ist alles lächerlich.“ Der Mensch will die Krankheit überwinden oder dem Tod aus dem Weg gehen. Er ist angehalten, sich auf sich selbst, auf sein Wesen zu konzentrieren – auf die Genesung oder den Erhalt des Lebens. Dazu wendet er sich nach innen und reduziert seinen Bezug auf die materielle Welt. Eigenartigerweise erfährt der Mensch im entgegen gesetzten Zustand dieselbe Reduktion – im Zustand der Liebe. Die Liebenden sind sich selbst das Wesentliche und das Materielle bleibt die Nebensache, aber doch so, dass sie sich der Kommunikation mit anderen öffnen. Das Wesen des Daseins erweist sich als Gefühl, als Berührung, als Einsicht. Der Kranke ist der Einsichtige, sagt Novalis. Das gilt auch für die Liebenden.
Dem gegenüber erweckt die moderne Welt den Eindruck, Geld, Kapital und Rendite seien das Wesentliche der menschlichen Existenz. Ein verhängnisvoller Irrtum und eine Vertauschung von Ursache und Wirkung, durch die der Mensch sein Wesen verkennt und mit Labilität, Kranksein und Antriebsschwäche reagiert. Ansporn hat immer mit einem Wesentlichen zu tun – mit Qualität.
Was aber ist Qualität? Alles, was in der Welt ist, hat ein Wesen. Aristoteles definiert es als „Was es ist dies zu sein“, als ein Was. Das Wesen ist die Washeit, die ihre Nähe hat zu den lateinischen Worten quale und qualitas – Merkmal, Eigenschaft, Wesen – in denen unser Wort für Qualität steckt. Daher erweist sich das Wesen als Qualität.
Natur hat von sich aus Qualität. Sie hat einen hohen Wert, ist kostbar und kann als Maßstab genommen werden für das Gute, Gehaltvolle, Qualitative. An ihrer Kostbarkeit sollte sich das von Menschen Geschaffene messen. Deshalb sollte (gute) Qualität für jeden eine Verpflichtung sein, denn sie wirkt über die Sinnesorgane fördernd auf die Entwicklung und das Wohlbefinden und stärkt den Lebenssinn – das Prinzip, das den Menschen Motivation gibt. Eine gute Form, eine praktikable und überraschende Funktion und ein gediegenes Material gehören zu einem guten Produkt und sprechen den Menschen an, indem sie die Aufnahmefähigkeit der Sinne steigern und ihre Vielfalt bewahren und den Menschen befähigen, Nuancen und Schattierungen wahrzunehmen. Diese Qualität macht den Menschen leicht: Sie erhebt ihn und fördert seine schöpferische Kraft.
Der wertvolle Naturstoff – Schonen und Schönen
Zunächst lebte der Mensch in einer naturhaften Umgebung ohne Gegenstände. Denn Gegenstände sind Produkte des Menschen. Das mit der Hand aus der Erde Herausgeführte – das Pro ducere. Die Basis aller Produkte – auch die der höchsten Technik – ist wertvoller Naturstoff. Die frühen Produkte besaßen eine hohe Qualität, denn das der Natur Entnommene gehörte den übersinnlichen, kosmischen Mächten und musste sorgsam behandelt werden. Die Natur wurde geschont, was sich im schönen Produkt offenbarte, denn schonen und schönen meinen etymologisch dasselbe. Schönheit ist der Ausgleich für die Verletzung der Natur und binden Ethik und Ästhetik eng zusammen – die schöne (ästhetische) Form und die geschonte (moralische) Form sind Ausdruck der Achtung vor der Natur. Aber auch Achtung vor der Kulturleistung des Menschen. Da alle Produkte aus Naturstoff bestehen und nur in unterschiedlicher Form und Dosierung zusammengesetzt sind, folgt, dass auch technische Produkte der Sorge wert sind.
Der schonende Umgang des Menschen mit der Natur ist die hohe Verantwortung, die er heute annehmen muss, denn die kleine Produktion früher Zeit hat sich ausgeweitet und die Oberfläche der einst gegenstandslosen Erde mit einer Schicht hochkomplexer Produkte wie Städte, Aggregate und Maschinen, wie Verkehrswege und Fabriken, Automobile und Schiffe überzogen.
Spätestens wenn die Ressourcen gefährdet sind und knapp werden, sind die Produkte nach ihrer Qualität und schonenden Herstellungsverfahren zu befragen. Welche Stoffe sind verarbeitet? Welche Menge Natur wird für einen bestimmten Nutzen verbraucht, wie viel Energie für ihn aufgewendet? Wie viel Naturmasse wird bewegt? Wie lang ist die Lebensdauer eines Produkts und wie lässt es sich entsorgen und wie recyceln? Vergegenwärtigen wir uns, daß zur Herstellung eines Fingerrings aus Gold soviel Naturmasse bewegt wird wie zur Produktion von zwei Automobilen. Solche Ökobilanzen helfen, der an ihre Grenze stoßende Umweltbelastung effizienter zu begegnen und aus dem Wissen die Verwendung geeigneter Materialien und nachhaltiger Verfahren abzuleiten. Daraus sind Ideen zu einer Deproduktion entstanden, der Verlagerung der Wirtschaft auf nichtstoffliche Produkte wie Dienstleistungen und virtuelle Produkte.
Doch Moral kommt von außen an den Menschen heran. Als Forderung und Pflicht in der Form „Du sollst!“, „Du musst!“. Deshalb ist eine der wichtigen Aufgaben heute, eine Form der Moral zu erfinden, die von innen kommt – das ist die Motivation.
Motivation ist Bewegtsein, Freude und Ansporn und resultiert in einer erhöhten Lebensqualität. Vor allem ist es die sinnvolle Tätigkeit, eine Mission, statt lediglich seinen Job zu machen, die den Lebenssinn stärkt. In der Motivation erhält das Leben Sinn, Richtung und Verantwortung und schafft Werte, die den Menschen bewegen, motivieren.
Motivation leitet sich vom Lateinischen movere her und ist das der Bewegung Fähige. Derjenige, der eine Aufgabe hat, drängt zur Bewegung und ist motiviert und dadurch schöpferisch.
Die Bewegung, die von Innen kommt, rührt meist von einem Wesen her und zielt auf ein Wesen – auf Qualität, auf das Angenehme, Angemessene, auf das Schöne und Geschonte. Wenn der Mensch auf ein solches Wesen trifft, wird er für einen Moment vom Gefühl der Wahrhaftigkeit und des Wohlseins berührt. Es stellt sich eine Stimmung ein, als wäre alles mit der Welt, dem Universum in Einklang gebracht. In dem Moment wird eine Form oder ein Erlebnis zum Träger einer elementaren und existentiellen Bedeutung. Diese innere Bewegtheit fördert ein Engagement für eine nachhaltige Sorge um die Natur.
Nachhaltiger Sorge bedürfen auch Unternehmen. Sie sind nicht selbstgenügsam, sondern einem gesellschaftlichen Sinn und Nutzen unterworfen. Der in seinen Leistungen zum Ausdruck kommt. Ein Unternehmen mag die Funktion haben, den Unternehmer und seine Familie zu ernähren oder das Geld von Aktionären in Bewegung zu bringen. Seine Produkte jedoch, seine Dienstleistungen und seine Unternehmenspolitik gestalten Gesellschaft – und dafür ist Verantwortung zu übernehmen, die wiederum über die Produkt- und Marktorientierung hinausgeht und sich zu einem sozialen Engagement weitet, das in eine nachhaltige und bedeutungsvolle Zukunft hineinleitet und zu einer globalen Existenz der Menschheit.
Die Globalisierung stellt den Menschen vor Aufgaben. Am Anfang steht vielleicht eine aktive Verantwortungsübernahme beim Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Kulturen. Das erfordert Kommunikation, Teamarbeit, Offenheit, Intuition und Transparenz. Das sind die uns als weibliche Fertigkeiten bekannten Merkmale. Nicht sture Sachlichkeit, bedingungslose Konkurrenz oder trockene Logik, sondern die Verbindung des Sachlichen mit Verständnis, Verbindlichkeit, Gefühl und Verantwortung, ohne die Aufgabe aus den Augen zu verlieren. Deshalb treten Frauen in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und der Politik immer erfolgreicher auf. Wir müssen dazu nicht die Emanzipation bemühen, denn der hochgeschraubte Individualismus, den wir als Egoismus kennen, und der gnadenlose Konkurrenzkampf sind nicht länger zukunftsfähig, nicht einmal mehr konkurrenzfähig.
Teamarbeit ist das Zusammenwirken verschiedener, sich ergänzender Kompetenzen hin auf ein gemeinsames Ziel. Der Teamarbeiter muss in der Lage sein, mit anderen zusammenzuarbeiten. Er muss kompromissfähig sein und wissen und ertragen können, dass andere anders denken, anders fühlen und sich anders verhalten. Er muss am Wohlergehen und Erfolg des Teams, des Unternehmens und der Gesellschaft interessiert sein. Die funktionierende Teamarbeit schafft Synergien und erfüllt die Bedingungen für Kommunikation, Anerkennung und Freude bei der Arbeit.
Deshalb ist es die Aufgabe von Unternehmen, die im Globalisierungsprozess Verantwortung übernehmen, eine Unternehmenskultur auszubilden und zu pflegen, in der diese Fähigkeiten praktiziert werden. Dabei steht der arbeitende Mensch im Mittelpunkt und die Befriedigung seiner ästhetischen, intellektuellen, spirituellen und emotionalen Bedürfnisse. Die Eigenschaften der Produkte sind nicht mehr zu trennen von den Regeln des Umgangs mit Natur und Mensch, sondern müssen aus demselben inneren Engagement – aus der Motivation – heraus entwickelt werden. Deshalb gehören zu einer Unternehmenskultur die Werte Glaubwürdigkeit und Transparenz, Wahrhaftigkeit, Vertrauen und Kommunikation. In dem Zusammenwirken wird das unternehmerische Handeln bewusst zum Engagement für Gesellschaft und Natur.
Eine moderne Ethik wird eine globale Ethik sein – ein Weltethik, die sich auf eine Globalverantwortung und eine Weltgemeinschaft bezieht. Wenn man will, dass Regionales und Traditionelles dabei nicht verloren gehen, so ist diese große Verantwortung gerade der kleinste gemeinsame Nenner, dass wir alle in dieser einen Welt leben. So ausdifferenziert und komplex unsere Welt auch ist. Mit der Besinnung auf den Oikos unserer ursprünglichen Lebensmittel gewinnen wir Motivation, um die global erfahrbare Welt zu gestalten. Die Weltethik folgt nicht dem Leitsatz „Du sollst!“, sondern eher der Devise „Wir können.“ Eine Devise, die der des weisen Chinesen Meng Tzu verwandt ist, der sagt: „Es ist möglich, als großer Mensch zu handeln“. Mit diesem einfachen und optimistischen Satz möchte ich enden. Ich hoffe, er wird ein Paradigma werden für unser aller berufliches und kulturelles, unser privates und gesellschaftliches Engagement.
© Hajo Eickhoff 2007
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