aus: Concrete Planwerkstatt, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 2001
siehe auch Stefan Kaempfer
Die Kugelgestalt der Erde macht ihre urbane Umfassung global. Auf die Urbanisierung der Erde folgt die Eroberung des planetarischen Raumes. Bald gibt es touristische Weltraumflüge. Die Besiedlung von Mond und Mars in den ersten Jahrzehnten des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind Etappen für den Vorstoß in den galaktischen Raum. Utopische Pläne, und doch nur die Konsequenz aus dem vor zehntausend Jahren beschritten Weg, als die Menschen anfingen, Städte zu gründen und sich von der äußeren Natur und der Natur in sich zu distanzieren.
Natur und Stadt
Erst lebt der Mensch in der Natur. Eingebunden in die Natur, seine materielle Umgebung, und den Kosmos, seinen geistigen Horizont, bewegt er sich in einer Welt, die ohne sein Zutun vorhanden ist und ihm gibt, was er zum Leben braucht. Sein ideeller Antrieb ist das Streben zum Horizont, sein materielles Ziel das Beschaffen von Nahrung. Entweder befindet sie sich in der Ferne, weshalb er sich an der Jahreszeit orientiert, um Früchte zu ernten, oder sie ist beweglich, weshalb er ihr, den Tieren, nachfolgt. Kultur und Kultiviertheit trägt der Mensch mit sich und seine Existenz fällt zusammen mit dem, was er innerhalb der eigenen Haut ist.
Wie kommt die Stadt in die Natur? Der Mensch muss das enge Band mit der Natur lösen, in die Geschichte eintreten und sich die Welt aneignen. Er muss auf einem langen Weg praktische und intellektuelle Einsichten gewinnen und die Natur in einen menschlich gestalteten Kosmos umarbeiten. Durch das Verdrängen eines natürlichen Lebensraumes, das Ebnen des Bodens, das Errichten einer geschlossenen Stadtmauer und die Ausstattung des Zwischenraums mit Häusern, Straßen und Plätzen gelangt die Stadt in die Natur.
Die Stadt ist die kulturelle Basis, von der aus der Mensch die Vorstellung von der Kugelgestalt der Erde gewinnt. Ein gewaltiger intellektueller Akt, von der Ebene aus, auf der er lebt, auf die Kugelgestalt der Erde zu schließen. Er macht die Erde zum Element der stellaren Ordnung und strebt danach, sie aus großer Distanz tatsächlich als Kugel zu sehen.
Kultur und Stadt
Die Stadt ist ein Konzept gegen das Dasein des Menschen in der Natur. Ein Ort, an dem er Identität und Auskommen zu finden glaubt. Die Attraktion der Stadt liegt in der Künstlichkeit, in der Unterwerfung des Gegebenen unter die Vorstellungen des Menschen. Städte und ihre Mauern fungieren als seine erweiterte Haut. Das Sein des Stadtbewohners fällt zusammen mit dem, was er innerhalb dieser Haut ist.
Der Mensch genügt sich nicht. Er will seine innere Unruhe überwinden, geschickter und klüger werden und seine Ordnung in die Natur bringen. Er wird nicht aus dem Paradies vertrieben, sondern er tritt aus seiner Tradition heraus, um seine potentiellen Anlagen zu wecken und zu entwickeln. Eine dieser Anlagen ist die Spezialisierung der Hand. Sie ist es, die die Stadt hervorbringt. Handwerker und Händler sind die Städtegründer. Zur Organisierung des Stadtlebens erfinden sie die Schrift, die das Gedächtnis für das Wissen der Stadtgesellschaft bildet. Hand und Wissen führen zu Technik und Zivilheit, die den Menschen ein Stück von der Natur abrücken.
Die Stadt ist das Manifest eines neuen Selbstbewusstseins. Rasch wechselnde Eindrücke und das beengte Leben erfordern, dass der Mensch innehalten und reflektieren kann und nicht jedem Reiz folgen muss. Die erhöhte Reizsteigerung und eine gesteigerte Sensibilität begünstigen Fähigkeiten der Abstraktion und der Imagination. Frei von der unmittelbaren Nahrungserzeugung, von großen Kraftanstrengungen und einer vielseitigen Beweglichkeit etablieren Physis und Psyche ein städtisches, ein distanziertes Gemeinschaftsleben.
Die kleinste politische Einheit der Stadt ist der Bürger. Zivilisation bedeutet die Formung des Menschen durch die civitas, die Stadt. Zivil kommt von cevas, das lieb und wert bedeutet, und von dem sich civis, civilis und civitas ableiten. Civilis heißt bürgerlich, öffentlich, politisch. Der Bürger ist ein civis, der in der civitas eine zivile Formung erhält
Die kleinste architektonische Einheit der Stadt ist das Haus. Haus, Sesshaftigkeit und Ackerbau gehören zusammen. Die Häuslichkeit bringt das Handwerk hervor, nachdem sie Werkzeuge verbessert, Tätigkeiten spezialisiert und Kenntnisse erweitert hat. Arbeitsteilung ist ein Resultat der Stadt, die unter besonderen Konstellationen eine hohe Tendenz zur Globalisierung aufweist.
Die Gesetze der Stadt sind Gesetze eines sozialen Seins. Das Leben der Stadtbewohner wird immer mehr vom Rhythmus der Natur befreit: ihre Produkte entstehen im Schutz hoher Mauern und unabhängig vom Klima und von der Jahreszeit. Mit dem künstlichen Terrain der Stadt schafft der Mensch im Chaos des Gegebenen neue Tatsachen und gibt dem Leben Sinn und Halt. Mit der Stadt, dem Anker im Strom des Werdens und Vergehens, gewinnt der Mensch die Elemente des Bleibens und der Dauer.
Mauer, Gestell und Stadt
Die Zivilisierung des Menschen beginnt mit den urbanen Siedlungen Jericho und Çatal Hüyük. Im Hochland von Jordanien im achten Jahrtausend vor Christus entstanden, wohnen in Jericho im Schutz von Mauern etwa dreitausend Menschen. Eine Oasenstadt und Handelsstation, an der Nomaden und Händler Rast machen und Bauern Waren tauschen. Eine reiche Quelle liefert das Wasser, das nahe gelegene Tote Meer das begehrte Handelsgut Salz. Die nur wenig jüngere stadtartige Siedlung Çatal Hüyük in Südanatolien, in der Handwerker, Händler und Bauern leben, ist ein Gebilde, das eine außerordentliche Nähe der Bewohner untereinander schafft. Sie besteht aus rechteckigen Häusern, die ohne Abstand nebeneinander stehen. Die Bewohner halten sich innerhalb der Stadt in den Häusern oder auf den Dächern auf. Zugang ins Innere der Häuser bietet eine Öffnung im Dach. Die Dächer sind die einzigen Verkehrswege. Fremden gegenüber ist der Ort durch die geschlossene Rückwand der Häuser unzugänglich. In beiden Städten regelt eine kommunale Verwaltung das gesellschaftliche Leben.
Die Mauer ist das wesentliche Bauwerk der Stadt von Anfang an. Städte entstehen von ihrer Umgrenzung her. Das englische Wort town, das altpersiche paira daeza – Paradies – oder das chinesische ch’eng bedeuten Zaun und Umzäunung. Später wird das Wort für den Grenzrand zum Wort für den Innenraum. Stadtgrenzen sind heilige Schwellen, die mit dem Pflug um die imaginäre Weltachse gezogen werden. Romulus tötet Remus, weil dieser das Tabu verletzt und die gepflügte Grenze überschreitet. Wo Stadttore geplant sind, wird der Pflug aus der Erde gehoben. Das Recht, eine Mauer zu bauen, muss erworben werden. Um das Recht streiten Ackerbauern und Nomaden mit den Stadtbewohnern.
Mauern sind ein Prinzip des Schutzes und der Ordnung. Sie sollen Dämonen abwehren, aber auch die Bewohner schützen und die Reichtümer, die in Tempeln gehortet werden, sichern. Sie machen die Stadt autark: Ohne die Stadt verlassen zu müssen erhält der Stadtbewohner durch Arbeitsteilung mit Ackerbauern und Jägern die Dinge, die zum Leben notwendig sind. Von hier aus kann er ordnend in noch ungeordnete Räume vordringen.
Die Mauer macht die Stadt zum Gestell, zu Stelle, Platz, Ort, Stätte und Wohnstatt. Zum künstlichen Terrain. Die Mauer des Hauses fasst den Menschen einfach und domestiziert ihn, die Stadtmauer fasst ihn zweifach, um ihn zu zivilisieren.
Babylon, Athen, Rom
Die Zivilisierung setzt sich zwischen Mittelmeer und Persischem Golf fort. Großstädte wie Susa, Ur, Lagasch, Assur, Nippur oder Babylon entstehen seit dem vierten Jahrtausend in Mesopotamien. In Babylon gibt es drei- und vierstöckige Häuser und die ersten Monumentalbauten. Tempel und Zikkurat, ein Beobachtungsturm, bilden die Mitte der Stadt. Die Straßen verlaufen parallel und werden rechtwinklig von anderen gekreuzt. Neben Bürgern und Händlern leben Bauern, Priester und Sklaven in der Stadt. Der Stadtgott, für den die Gemeinschaft arbeitet, wird von einer Priesterkaste vertreten, die Lebensmittel, Beutegüter und Werkzeuge in den Lagerräumen des Tempels sammeln. Innerhalb der Stadt besitzen Bürger ein Areal, die Felder außerhalb der Stadt werden von allen gemeinsam bearbeitet. Nach der Absetzung der Priesterkaste übernehmen Könige die Macht, deren Beamte über den Verkehr, die Rechtsprechung und das Militär walten. Neben dem Tempel entsteht der königliche Palast. Sumerische Städte existieren, solange ein starker König regiert. Da innerhalb der Stadt die Macht auf eine kleine Gruppe beschränkt bleibt und außerhalb eine Struktur aus Dörfern, Städten und Verkehrsverbindungen fehlt, ist die Neigung sumerischer Städte zur Globalisierung gering.
Das erstemal in der Geschichte der Menschheit entsteht eine Kultur aus freien Bürgern, die ihre Stadt selbst regieren, in Athen. Die Fürstentümer Griechenlands werden seit der Zeit Homers allmählich in die Polis, den Stadtstaat umgewandelt. Gestalt und Größe der Polis werden bestimmt von der Politik: Damit sich alle freien Bürger – die über achtzehnjährigen Männer, die weder Bauern noch Sklaven sind – an einem Ort versammeln können, muss die Größe der Stadt begrenzt bleiben. Droht sie, zu groß zu werden, wird in der Nähe eine neue Ansiedlung gegründet. Die Ordnung der Polis entwickelt sich aus den unterschiedlichen Interessen der Bewohner. Sie ist eine Einheit aus heiligen Orten mit Tempeln, privaten Bezirken sowie öffentlichen Bereichen mit Theatern, Stadien und der Agora.Die Agora bildet das Zentrum der Stadt. Sie ist ein öffentlicher Platz mit politischer und sozialer Funktion. Agora kommt von ageirein und heißt sich versammeln, verhandeln, sprechen. Sie ist ein Ort der Kommunikation und dient der Einübung eines demokratischen Verhaltens. Hier werden religiöse Feste gefeiert, Schauspiele inszeniert oder Waren getauscht. Hier hat Sokrates seine philosophische Ethik entwickelt. Die Agora gibt den Bürgern eine politische und moralische Identität. Das Theater pflegt ihre Moral, die Akademien ihren Geist, die Gymnasien ihre Einheit von Körper und Moral und die religiösen Riten vor den Tempeln ihren Glauben. Wenn junge Griechen in der Versammlung mit anderen öffentliche Angelegenheiten erörtern, sind sie gut vorbereitet.
Hippodamos von Milet (480-420 v. Chr.) hat eine gleichmäßige Aufteilung des Stadtraums empfohlen, ein geometrisches Prinzip, dem einzelne Häuser wie der Gesamtplan unterworfen sind. Er legt das Straßennetz, wie schon die Erbauer sumerischer und chinesischer Städten, rechtwinklig an. Die entstehenden Flächen führen zu einer gleichmäßigen Bebauung. Zwar ist die Größe der griechischen Stadt begrenzt, aber das Raster gibt schon die Richtung zukünftiger Städte an.
Das römische Reich hat das Raster übernommen und perfektioniert. Wie die griechische Stadt ist Rom in private, öffentliche und geweihte Bezirke gegliedert. Der öffentliche Platz, das Forum, erfüllt dieselben Aufgaben wie die Agora. Um ihn herum liegen die Amtsgebäude wichtiger Behörden, auf ihm versammelt sich der Senat und wird in aller Öffentlichkeit Gericht gehalten. Forum und heilige Stätten sind großzügig angelegt, Wohnhäuser stehen eng beieinander. Nach dem Raster des Hippodamos werden seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert Städte angelegt. Als Rom zu klein wird, um zuströmende Einwohner aufzunehmen, entstehen in Ostia die ersten, insulae genannten Mietshäuser mit bis zu sieben Etagen. Sie erweitern die Stadt um ein wesentliches Element: die vertikale Wohnraumnutzung.
Zwischen der Stadt Rom (urbis) und dem Weltreich Rom (orbis) unterscheiden die Römer nicht. Wie die Stadt von einer Mauer, ist das Reich vom Mittelmeer oder einem Grenzwall, dem Limes, umgeben. Die Römer folgen dem Ideal, Straßen und Wasserwege über das gesamte Reich schachbrettartig auszudehnen und alle Winkel miteinander zu verbinden: Ägypten mit Gallien, die Stadt Rom mit Byzanz oder Sizilien mit Britannien. Das Raster hat das Reich überschaubar, den Warenaustausch reibungslos, den Waffentransport effizient und Nachrichtenübermittlungen schnell gemacht. Die Ordnung der Verkehrsführung basiert auf einer linearen Vorstellung des Raumes, die dem menschlichen Handeln eine materielle Form gibt. Auch das Denken der Römer entspricht dem Muster, das die von ihnen angelegten Städte Galliens, Germaniens und Britanniens kennzeichnet. Die Ausbreitung des Rasters und die Erfahrung seiner Effizienz hat die Möglichkeit zur Umschließung der Erde erhöht.
Die mittelalterliche Stadt
Das Christentum ist im moralischen und kulturellen Niedergang Roms die geistige Stütze. Es stellt dem Diesseits, dem am Materiellen orientierten Leben ein an Gott ausgerichtetes spirituelles Leben gegenüber. Der christliche Glaube ist eine treibende Kraft zur Umfassung der Erde durch den Menschen.
Während die Geschichte der antiken Stadt mit dem Zerfall Roms endet, beginnt die Entfaltung der menschlichen Ansiedlung mit dem Aufstieg der germanischen Stämme noch einmal. Trotz Eroberung nehmen sie die hochentwickelten Römerstädte nicht ein und behalten ihre bäuerliche Siedlungsform. Die Gebiete nördlich der Alpen werden jahrhundertelang von Land suchenden Völkern durchzogen. Östlich des Rheins ist die Siedlungsform der Stadt unbekannt. Bevor sie anfangen, Städte zu bauen, müssen sie erst einen festen Ort finden und die eigene Kultur auf ein Niveau heben, das ein Stadtleben erzwingt oder sinnvoll macht. Westrheinisch liegen die Römerstädte Trier, Straßburg oder Köln. Durch sie wird den germanischen Stämmen die hoch entwickelte Kultur der Römer zugänglich. Sie übernehmen den christlichen Glauben und das antike Wissen, nicht aber die Siedlungsform der Stadt.
Trier ist eine der vier Hauptstädte des römischen Reiches und ein häufiges Ziel kriegerischer Angriffe durch germanische Stämme. Sein Neuaufbau nach einer der zahlreichen Plünderungen und Zerstörungen ist ein Beispiel dafür, wie verschieden die Vorstellungen der Germanen und der Römer von der Anlage einer Stadt sind: Auf dem römischen Raster errichten Germanen ungeordnete Einzelsiedlungen mit unterschiedlichen Bestimmungen. Die Stadt hat keinen festen Plan und bringt ein geringes Maß an Abstraktion und Distanz zum Ausdruck.
Die ersten Städte des Abendlandes entstehen im 12. Jahrhundert. Sie werden nach derselben Zufälligkeit wie das neue Trier gebaut. Erst nachdem das nördlich der Alpen gelegenen Europa befriedet ist, kann sich das Handwerk entwickeln und vom Ackerbau emanzipieren. Vor Burganlagen oder Klöstern richten Händlern, Handwerker und Bauern Märkte ein, die zum sozialen, ökonomischen und architektonischen Zentrum einer entstehenden Stadt werden. Durch Mauern setzen sich die Städte von Burgen und Klöstern ab, die selbst ummauert sind. Eine Bürgerschaft erwirbt das Stadtrecht nur unter de Bedingung, dass die Stadt von einer Mauer eingefasst ist. Stadtmauer und Markt, Stadttor und Fachwerkhaus sind die typischen Elemente der mittelalterlichen Stadt.
Europäische Städte des Mittelalters unterstehen keiner Zentralgewalt wie die Städte des Orients. Ihr Wesen ist die autonome Verwaltung der Bürger. Wie bei den Griechen. Aber anders als bei diesen wird das Handwerk enger mit der Wissenschaft verbunden. Aristoteles versteht das Handwerk negativ als Technik, als List und Täuschung. Da die Stadtregierung mannigfache Interessen zu vertreten hat, weltliche wie klerikale, folgt die Bebauung der Stadt Einzelinteressen und unterliegt daher keinem Gesamtplan. Hieraus resultiert die komplexe Erscheinung der europäischen Städte: gewachsene soziale Räume, die als Produkt einer selbstbewussten Zivilisation erscheinen. Das kulturelle und gesellschaftliche Stadtleben sind kommunikative und geistige Zeichen, die auf eine Universalisierung ihrer Existenzform drängen.
Mittelalterliche Städte erfüllen die Funktionen von Handwerk und Handel, von Gottesdienst, Verteidigung und Wohnen. Das private Leben ist eins mit dem Beruf. Kurze Wege, rasches Austauschen des Wissens und ein in Bünden organisiertes Leben verfeinern das Handwerk, das technischer wird, und steigern das kaufmännische Können. Der Kreislauf gegenseitigen Verbesserns, Forderns und Potenzierens macht das Bürgertum wohlhabend und einflussreich, bis es gegen Feudalherren und klerikale Stadtbesitzer politische Rechte erkämpft und ihnen zu Beginn der Neuzeit als eigener Stand selbstbewusst und mächtig gegenübersteht. Die Tendenz der mittelalterlichen Stadt, ihre Existenzform auszuweiten, widerspricht ihrer komplexen Gestalt. Der Widerspruch löst sich erst, als um Vierzehnhundert die alte Stadtstruktur aufgegeben wird. Werden Städte neu errichtet, werden sie dem orthogonalen Raster des Hippodamos unterworfen, das bei Städten, die erweitert werden, so nah wie möglich an den alten Stadtkern herangeführt wird.
Die Stadt der Neuzeit
Der Übergang vom Handwerk zur Manufaktur durch den Einfluss der Wissenschaft und die Vereinheitlichung von Praxis und Theorie ziehen Lehrbetriebe, Akademien und allgemeinbildende Schulen nach sich, die das Wissen nachfolgenden Generationen mitgeben. Die Institutionen übertragen das Wissen auf viele und verdichten und vernetzen Erfahrungen, Fertigkeiten und Erkenntnisse. Die Beschleunigung der Wissensvermehrung festigt durch Systematisierung, Planen, Abstrahieren und Geometrisierung einen Mechanismus, der zur räumlichen Ausdehnung und zur Allgemeinheit einer städtischen Lebensform zwingt. Die puritanisch-kapitalistische Dialektik von Arbeit, Askese, Erfolg stabilisiert das Prinzip, nach dem erworbener Reichtum nicht konsumiert, sondern investiert wird.
Die globale Ausdehnung der europäischen Zivilisation beginnt mit der Kolonialisierung, die die Welt unter der Ordnung Europas vereinheitlicht. Die Erde wird als Kugel erst gedeutet und dann – durch Kolumbus – global erfahren. Mit der Kultur tragen die Kolonialherren Europas das Raster des Hippodamos in die Welt: Anfang des 16. Jahrhunderts besiedeln Spanier und Portugiesen Mittel- und Südamerika, ein Jahrhundert später die Engländer Nordamerika. Danach suchen seefahrende Nationen wie Frankreich und Holland Kolonien in Afrika und Asien. Das Straßennetz der Städte in Übersee folgt dem Schachbrettmuster. Die Fläche, die als zentraler Platz geplant ist, wird mit Pflock und Seil abgesteckt. Um ihn herum entstehen Rathaus und Kirche, Regierungsgebäude, Geschäfte und Wohnungen der Kaufleute. Von der Mitte aller vier Seiten des zentralen Platzes gehen im rechten Winkel die Hauptstraßen, von jeder Ecke zwei Straßen ab. Der Platz wird so angelegt, dass sich die Stadt unter Einhaltung des Musters in alle Richtungen erweitern kann. In Mittel- und Südamerika gründen die Spanier entweder neue Städte oder sie zerstören vorhandene, die brach bleiben oder gemäß des Rasters umgestaltet werden.
So errichten die Europäer außerhalb Europas Städte, die ihnen selbst fremd sind. Denn die Zentren ihrer Städte verfügen weder über ein gerastertes noch über ein einheitliches Straßennetz, während die Stadtmauern eine Verbindung der Mitte mit neu entstandenen Vierteln behindern. Den Grundstein für die moderne Großsiedlung in Europa hat Ludwig XIV. gelegt. Er lässt Paris zum Land hin öffnen und in Versailles ein offen angelegtes Schloss bauen. Den Schutz, den die Mauern boten, gewähren hier die Grenzen des neu entstandenen Nationalstaates. Das absolute Königtum arbeitet mit dem Bürgertum in dieselbe Richtung. Beide profitieren vom nationalen Wirtschaftskonzept des Merkantilsystems. Die Nation wird vernetzt zu einem homogenen und befriedeten System von Beziehungen und Verkehrswegen, das Dörfer, Städte und Landstriche ökonomisch, politisch und militärisch zusammenfasst. Die Stadtstruktur wird zum Besiedlungsmodell für die Erde.
Durch ihre Linearität vereinfacht die gerasterte Stadt Transport, Verkehr und Bebauung. Keine Mauern, die das Wachstum behindern. Mit der Ordnung der europäischen Stadt ist „das ganze geometrische Muster vorgegeben, das sowohl die Struktur der einzelnen Städte als auch ausgedehnter Landstriche der neuen Welt bestimmen sollte.“[i] Die Verwendung des Rasters, das sich als ein Modul der globalen Urbanisierung erweist, hat die Globalisierung beschleunigt und Europa zur Vorherrschaft in allen Teilen der Erde geführt. An das Raster der Städte wird das Land angeschlossen, bis die Erde lückenlos gegliedert ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in Staaten aufgeteilt, die Staaten in Distrikte, die Distrikte in ländliche Gebiete und Städte, die Städte in Stadtviertel, die Viertel in Häuserblöcke. Die Staatsgrenzen verlaufen auf Breiten- und Längengraden oder parallel zu ihnen. In der Hauptstadt Washington liegen die Straßen exakt auf den Achsen Nordsüd und Ostwest. Die Städte sind schematisch, unsinnlich, öde, kalt und neutral. Sie haben keine Geschichte, kein Alter, kein Gedächtnis.
Die Dichte, die Technik und Wissen, Transport und Architektur erzeugen, führen über die Manufaktur zur Industrie, die alle Lebensbereiche revolutioniert.
Die Stadt im Zeitalter der Industrie
Die Industrie zerstört die Geschicklichkeit der Hand. Die Schnelligkeit, Kraft und Genauigkeit der Maschine führen zu neuen Verfahrenstechniken, präzisen Werkzeugen und neuartigen Werkstoffen. Die Hand, die das Handwerk und die Stadt hervorbringt, verödet und fällt mit wachsendem Fortschreiten der Technik zurück in den Zustand ihrer prähistorischen Unspezialisiertheit, oder wird am Computer digital: Die Finger zeigen, drücken, berühren.
Die Industrie beseitigt die traditionelle Form des Wohnens. Über Mietshäuser bringt sie die Menschen in Massen zusammen und hebt ihre Bindung an einen bodenständigen Wohnsitz auf. Das Wohnen in Mietwohnungen ändert radikal das Sozialgefüge und das Zusammenleben in der Stadt.
Die Industrie korrigiert die Gestalt der traditionellen Stadt. Ihr wesentliches Bauwerk, die Mauer, wird abgetragen, Fabriken mit monströsen Gebäudekomplexen und Apparaturen entstehen, die die Produktivität steigern und die Natur in den Wirbel einer immensen Ausbeutung ziehen. Die Industrie unterwirft Arbeit, Kommunikation und Verkehr ihren Bedürfnissen und überzieht die Stadt mit einem abstrakten Netz aus Architektur und Verkehr. Nachträglich werden Straßen dem orthogonalen Raster eingegliedert und Häuser zu Blöcken zusammengefasst. Die alte Stadt öffnet sich der Welt, wenn sich ihr Zentrum auch gegen die völlige Integration in die neue Ordnung sperrt: Die Straßen sind zu schmal, die Häuser zu klein, Transportwege zu umständlich. Indem das Raster aber teilweise integriert wird, steht der Ausbreitung Europas und seiner Stadtidee über die Erde nichts mehr im Weg.
Die globale Eroberung in der Horizontalen und Vertikalen
Fahrzeuge und Transportmittel der Industriezeit wie Lokomotiven, Dampfschiffe und Automobile durchqueren beschleunigt das Territorium in horizontaler Richtung, um es urbar zu machen. Unwegsame Natur wird begehbar, befahrbar und bewohnbar, und die entstehenden Städte werden in eine Gesamtstruktur eingebunden, die die Erde urban umschließt. Morsetechnik, Funk und die Beschleunigung der Transportmittel verdichten die Vernetzung, bis die Erde über ein Geflecht von Verkehrswegen, Energieströmen und Informationskanälen umspannt ist. Zu einem unablässigen Fortschreiten gezwungen, bilden Städte Knotenpunkte der nationalen und interkontinentalen Vernetzung von Wirtschaft, Kultur und Militär. Der Tourismus vollendet die horizontale Aneignung. Als kulturelle Kolonialisten touren Touristen um den Globus und europäisieren ihn. Die Realität des Globalen offenbart sich in den ersten erdumfassenden Katastrophen: den Weltkriegen.
Ist die Erde horizontal aufgeteilt, wird sie durch das Hochhaus in die Vertikale gehoben. Das Hochhaus fasst alle Haustypen und alle modernen Formen
des Wohnens und Arbeitens in sich. Die ersten Hochhäuser sind zwölfstöckig. Später verlieren sie jeden Bezug zum Menschen, wachsen zu Riesenskulpturen und sind Zeichen äußerster Künstlichkeit: vertikale Städte, Kathedralen, Städte in der Stadt. Das Wohnen in ihnen ist eine Form menschlicher Existenz auf ausgehöhltem Boden und das statische Bild für die Eroberung des Luftraums. Ihr dynamisches Bild ist das Fliegen, das die horizontale Aneignung mit der vertikalen vereint. Flugzeug, Rakete, Satellit und Space-Lab teilen den Luftraum auf und machen den Menschen allgegenwärtig. Der einzelne Mensch, dessen begrenzter Lebensraum der die Erde umgreifenden Vernetzung gewichen ist, tritt aus seiner Regionalität heraus und wird global.
Metropolen, die traditionellen Weltstädte, stützen sich auf Industrie, Handel und politische Macht. Ihre Entstehung und ihre wirtschaftlichen Beziehungen untereinander haben die Tendenz der Städte zur Globalisierung manifestiert, zur Vollendung jedoch fehlen ihnen die letzten Bausteine, da nicht ihre Größe die Welt global macht, sondern die Dichte und Qualität ihres Netzwerkes. Das ist es, was die modernen Telemedien leisten: Innerhalb einer Stadt verbinden sie Finanzkonsortien, Komplexe von Banken, Dienstleistungsunternehmen und Konzernzentralen und schließen sie zu einer Weltwirtschaft zusammen. In solchen in traditionellen Städten angesiedelten Unternehmenskomplexen, die Saskia Sassen Global Cities nennt, materialisiert sich das internationale Kapital.
Architektonisch sind Global Cities Städte in der Stadt. Gebaute Räume im Zentrum von Großstädten, die Banken, Dienstleistungsunternehmen und Konzernzentralen beherbergen, die eng miteinander verflochten sind und Finanzgeschäfte tätigen. Strukturell sind sie strategische Räume, Steuerungszentren im Verband der Weltwirtschaft mit einem dichten Netz an Telekommunikationsanlagen. Die Global City „existiert in einem weltumspannenden Netzwerk, als Plattform für die weltweiten Operationen des Kapitals“[ii], in denen eine Elite von Investment-Bankern, Anwälten, Brokern und Computerfachleuten die Wirtschaft international abwickelt. Neben Finanz- und Kapitalmärkten sind hochqualifizierte, unternehmensorientierte Dienstleistungen weltweit die stärkste Branche. Die Dienstleitungen statten die Unternehmen mit höchstem Know-how und Komfort aus. Global Cities lösen die traditionellen Weltstädte als Entscheidungsträger ab: Die nationale Politik und die nationalen Politiker verlieren ihren Einfluss, denn politische Räume sind nicht mehr an die Geographie gebunden, sondern an elektronische Orte in den Netzen. Die Nicht-Orte werden zu Punkten politischer Auseinandersetzungen, die der nationalen Politik den Zugriff entziehen: Einerseits sind die Konzernzentralen der Unternehmen unabhängig von ihren Produktionsstätten, andererseits sammelt und verbindet sich ihre Macht in den Netzen der übernationalen Information und der Weltwirtschaft, die national ungebunden sind.
Telekommunikation und Global Cities sind Ausdruck eines Paradigmenwechsels: von der Produktivität der Energie und virtuosen Technik der Industrie zur Produktivität der Information.[iii] Sie ändern Stadtraum und Produktion, Einkommensverteilung, Arbeitsorganisation und Konsum. Dienstleistungen und Finanzmärkte erleben eine Blüte, Industrie und Handel einen strukturellen Konjunkturrückgang. Aber Global Cities ziehen auch eine Polarisierung von Großverdienern und Wenigverdienenden, von Reichtum und Armut nach sich ziehen und verschärfen die sozialen Konflikte der traditionellen Weltstadt.
Eroberung der Ewigkeit
Der Aufbruch in die Galaxis soll mit fliegenden Städten erfolgen. Eine Bedingung für das ewige Leben der Menschheit. Ob das Ziel realisierbar ist, bleibt sekundär, wesentlich ist das Arbeiten an der Idee. Jesco von Puttkammer, Cheffuturist der NASA, spricht von Generationenraumschiffen, auf denen Menschen in die Unermesslichkeit des Alls vordringen. Eine galaktische Arche Noah. Doch ohne die Chance einer Rückkehr. Noch hängt die Existenz des Menschen an einem Planeten mit zeitlich begrenzter Bewohnbarkeit. Das Lösen von der letzten Abhängigkeit hat nach Puttkammer Bedingungen: Erst „wenn Frauen im Weltraum Kinder kriegen, ist der Beweis erbracht, dass wir unabhängig vom Planeten Erde existieren können“, „erst damit wäre die Menschheit wirklich unsterblich.“[iv] Die fliegenden Städte sind ein äußerstes Maß der Distanzierung des Menschen von sich selbst und paradoxerweise das Programm für die Selbsterhaltung seiner Gattung.
[i] Benevolo, Leonardo, Geschichte der Stadt, Frankfurt/M. 1983, S. 687.
[ii] Saskia Sassen in einem Interview, in: Spiegel-Special 12/ 1998, S. 23.
[iii] Castell, Manuel, Die Städte Europas, S. 103, in: Maar, C./ Rötzer, F., Virtual Cities, Basel 1997.
[iv] Jesco von Puttkammer in einem Interview, in: Spiegel-Special 10/ 1998, S. 77.
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