aus: Angela Lubic, Kunstbrief 1997, Ausstellung Galerie im Parkhaus, Berlin
Privileg gefallen
Angela Lubic hat sich in „rotatible“ mit dem Banalen beschäftigt: mit Stühlen. Der Stuhl leitet sich vom Thron ab, dem geweihten Objekt weltlicher und religiöser Oberhäupter. Das Sitzen beginnt als repräsentative Haltung auf dem Thron und ist Teil eines Opferritus, dem die Herrscher unterzogen werden. Insofern sind Stühle alles andere als banal. Zunächst sind es Könige und Priester, die thronen. Erst viele Jahrtausende später Bischöfe. Einer Revolution gleich kommt das Setzen der Mönche im Chorgestühl. Danach nehmen adlige Hofbeamte sowie die Vorsteher der Zünfte, der Gilden und der Patriziate Platz. Mit Beginn der Neuzeit besetzen wohlhabende Bürger den Stuhl, doch erst nach der Französischen Revolution fällt das Privileg des Stuhlsitzens. Von da an ziehen Stühle unaufhaltsam ein ins bürgerliche Leben. So hat sich bis in unsere Zeit hinein das Thronen des einen sukzessive zum Stuhlsitzen aller demokratisiert und ist zu einer Haltung des Alltags geworden. Indem die zivile Menschheit den privaten und öffentlichen Raum mit Unmengen an Sitzen vollstellt, erscheinen Stühle als banal.
Diesem zur Gewohnheit erstarrten und aus der Wahrnehmung verschwundenen, in Wirklichkeit aber hochbedeutenden Gegenstand hat sich Angela Lubic analytisch genähert. Sie hat ihn in seine Elemente zerlegt, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und ihn durch verschiedene Mittel und Medien anschaulich und transparent gemacht: Sie hat ihn grafisch dargestellt, zerlegt in seine elementaren Formen; sie hat ihn als Ort wiedergegeben, als Raumpunkt in einem fahrenden Zug, der die Position des Menschen und seine Haltung offenlegt, ohne daß der Mensch sichtbar wird; sie hat ihn als Stuhl des Alltags gestaltet; sie hat ihn zum Subjekt gemacht, selbständig und selbstbeweglich, das sich auf einem Tanzboden bewegt, inmitten anderer tanzender Stuhlsubjekte.
In „rotatible I“ erzeugen Nägel und dünne Kabel auf einer zwanzig Quadratmeter großen Wandfläche eine Vielzahl von Bürostühlen. Ihre Umrißlinie wird von Kabeln erzeugt, die um das Schema der in die Wand geschlagenen Nägel gezogen sind. Alle Stühle folgen demselben Muster, das ihnen die kennzeichnende Gestalt eines modernen Bürostuhls verleiht. Dennoch bleibt erstaunlich, daß wir in der abstrakten Form und trotz der mannigfachen Überschneidungen der Linien unmißverständlich Bürostühle erkennen. Einige der Kabel und zwei stromführende Leitungen aus Steckdosen in der Wand verlaufen über drei Tonbänder zu Lautsprechern, die auf einem Tisch befestigt sind, vor dem gerade der Bürostuhl steht, dessen Gestalt wir auf der Wand sehen. Aus den Lautsprechern vernehmen wir das laute und hektische Geklapper des Tippens auf Schreibmaschinen und Computertastaturen. Die verwendeten Zeichen sind spärlich: ein Tisch, ein Stuhl und seine Abbilder auf der Wand, Tippgeräusche. Mehr benötigt unsere Vorstellungskraft nicht, um uns in ein geschäftiges, weitläufiges Schreibbüro zu versetzen und die visuell abwesenden Menschen und Tastaturen gedanklich zu ergänzen. Die Schönheit und die Kraft von „rotatible I“ liegt in der Klarheit und der Ruhe der grafischen Ordnung der Wand. Wir blicken vom Stuhl aus nicht auf Monitore, sondern auf Abbilder des Gerätes, auf das wir uns setzen können und sehen so Bilder von uns selbst. Wir nehmen uns wahr als Abwesende, als unkörperliche Wesen. Die Bedeutung von „rotatible I“ finden wir im Gesamtplan: Elementare Einrichtungen der modernen Arbeit sind Tisch, Stuhl und Tastatur, elementare Berührungsflächen des modernen Menschen Gesäß und Fingerkuppen. Es sind diese Ebenen, die der technischen Welt ihre charakteristische Ordnung geben: Das Sitzen auf Stühlen begrenzt unsere Sinne und formt nach denselben Regeln, nach denen wir unseren Leib sitzend, konzentriert blickend und tippend bezwingen, Natur um in geistig geformte, mechanische Welten, in Welten kalter Linien, künstlicher Substanzen und exakter Logiken. In eine Ordnung reduzierter und verdichteter Zeichen. Doch die geistig geformte Welt macht spröde und das soziale Wesen Mensch brüchig.
In „Wartebank“ ist eine Bank aus Wolle zwischen zwei Wände gespannt. Dünne Fäden, horizontal, weiß und gerade, von Wand zu Wand verlaufend. In der Transparenz erscheint die Arbeit wie die Seele einer Bank oder wie ihre Idee. Geduld und Warten bilden das Wesen des Sitzens.
In „Prag - Berlin 1. Klasse“ hat Angela Lubic den Zusammenhang unserer Weltanschauung mit dem Sitzen auf Reisestühlen und der Ordnung unserer Welt präzisiert. Auf einem Video zeigt sie, wie wir aus einem fahrenden Zug heraus auf Ausschnitte einer rasch vorbeiziehenden Landschaft und auf Stromleitungsdrähte blicken, die sich zwischen den Masten rhythmisch, in leichten Schwüngen auf und ab bewegen. Die imaginäre Blickebene, von der her wir aus dem Zug sehen und von der aus die Kamera geführt wird, ist die Augenhöhe eines im Zugabteil Sitzenden. „Prag - Berlin 1. Klasse“ zeigt, daß wir die Welt erfahren als Relation von Platznehmen und Mitfahren und als Einheit von Festsitzen, Beschleunigtsein und distanziert Wahrnehmen. Der moderne Fortschritt und das Stuhlsitzen gleichen der Fahrt eines ins Abteil eingeschlossenen Reisenden, der den Kontakt zur vorbeifliegenden Welt verloren und auf Momente distanzierter Aufmerksamkeit vermindert hat. Mit zunehmender Beschleunigung nutzen die Sinneseindrücke ab, während die Bewegungslosigkeit zunimmt.
Das moderne Reisen, das sitzend stattfindet, erweist sich als paradox, indem es sich als eine festsitzende Mobilität offenbart. Dem gegenüber werden Gegenstände und Werkzeuge selbstbeweglich. Sie werden zu Subjekten und scheinen aus sich heraus zu leben, wie die tanzenden Stühle in „rotatible II“.
© Hajo Eickhoff 1997
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