Wolfgang Keuchl
Angela Lubic
aus: Wolfgang Keuchl, Hajo Eickhoff, Die Verneinung der Wüste, Regensburg 1994, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Städtischen Galerie Leerer Beutel, Regensburg
LEERE ORTE
Gewohnheit entlastet. Darin liegt ihr Gewinn. Sie hilft, Abläufe sicher zu beherrschen und spielerisch mit ihnen umzugehen. Gewohnheit ist die Bedingung der Entspannung eines Organismus. Ihre Gefahr besteht darin, dass man sie unter veränderten Situationen beibehält und ihren Vorteil preisgibt. Das gewohnheitsmäßig beherrschte Tun fügt sich nicht mehr in neu zu erlernende Handlungsweisen und die zur Gewohnheit gewordene Handlung wird ungelenk und macht den Organismus hart und brüchig. In solchen überkommenen, aber praktizierten Handlungen kann sich der Mensch schon zu Lebzeiten wie im Grab fühlen.
Mit wenigen Objekten - mit Tisch, Stuhl und Jacke -, mit charakteristischen Gegenständen des modernen Alltags, hat sich Wolfgang Keuchl künstlerisch auseinandergesetzt und ihnen mit Hilfe eines modernen Mediums, der Sofortbild-Kamera, neuen Sinn verliehen. Die Arbeit mit der Polaroidkamera ist schnell, unkompliziert und spontan. Da aber die Idee zu einem Bild vor der Arbeit mit der Kamera fertig ist, sind seine Arbeiten konzeptionell. Konzeptionell ist auch die Verarbeitung von Erlebnissen und politischen Ideen. Seine Arbeiten, bewusst intellektuell aufgefasst und nicht auf die Ästhetik reduziert, sind Bilder, die dazu auffordern, dass man ihnen reflektierend gegenübertritt. Den Konzept-Künstlern gelten neben Skizzen, Zeichnungen und Texten Photographien als geeignete Mittel, das Konzept anschaulich zu machen und zu dokumentieren. Den Gedanken, dass die Qualität eines Kunstwerks in der Idee zu einer Komposition, dem Konzept liegt, nur beiläufig in der Ausführung, hegte schon Leonardo da Vinci.
Die Arbeiten von Wolfgang Keuchl sind vorwiegend Collagen aus Polaroidphotos und bestehen aus zwei sich überlagernden Ordnungen: Die singulären und spontan entstandenen Momentaufnahmen, zufällig und unwiederholbar, und die vor jeder Aufnahme unverrückbare Komposition, das Konzept. Die Ränder der quadratischen Photos werden aufeinandergeklebt, so dass ein Raster als Vordergrund entsteht, durch das der Betrachter wie durch ein Gitterfenster in Innenräume schaut, auf das scheinbar Wesentliche, die künstlerisch gestaltete Photoarbeit. Aber die Quadratform des Bildes und sein heller Rand sind ein wesentliches Gestaltungsmerkmal, das dem Gesamtbild eine feste Basis gibt, eine Art Objektivität. Die Gitterstäbe, die die perfekte Technik des Polaroidbildes zerstören, korrespondieren mit der Form unserer Wahrnehmung. Unser Blick aktiviert sich an den horizontalen und vertikalen Stäben und fügt die Bilder an den Rändern scheinbar nahtlos zusammen. Es bleiben aber Linien, Punkte oder Teilfiguren, die an die angrenzenden Photographien nicht anknüpfen. Sie sind das Zufällige. Selbständige Einzelphotos, die Details, die zugleich ein in sich Ganzes bilden, konstituieren so die Komposition. Die Momentaufnahme ist zufällig, die Komposition zwingend. Wirklichkeit wird nicht abgebildet, sondern zerbrochen, neu erdacht und zu einer neuen komponiert.
Die Arbeiten gleichen Skulpturen, skulpturalen Räumen, die durch die Gewänder, Tische und Stühle eine neue Ordnung erhalten. Die Räume sind rissig, verschachtelt, brüchig. Auch sie kommen der Wahrnehmungsform des modernen Menschen sehr nahe. Infolge der Unbewegtheit an Tischen, auf Stühlen und in Kleidern verliert der Mensch allmählich die Koordinationsfähigkeit seiner Bewegungsabfolgen und taumelt und torkelt durch eine gestutzte, geradlinig gemachte Welt.
Der Zustand einer Gesellschaft kommt gut in seinen Irrenhäusern zum Ausdruck. Die zehnjährige Arbeit mit psychisch Behinderten haben die künstlerische Arbeit von Wolfgang Keuchl beeinflusst. Das menschliche Scheitern und Zersplittern und die wenige Hoffnung, die in Nervenkliniken zum Alltag gehören, sind Teil der gesellschaftlichen Normalität. Dieser ausgesparte Teil der Wirklichkeit, ihr Bodensatz, findet sich in den Photoarbeiten wieder. Nicht vordergründig auf der Ebene des Inhalts. Inhalte solcher Art erschließen sich vor allem über die Form.
Die frühesten Arbeiten sind assoziative Montagen von Einzelphotos, die in eine ästhetische Gesamtform gebracht sind. Jede Arbeit eine Summe von Einzelmotiven. Dargestellt sind Masken, Beile, Hände, Tische oder Vögel oder Selbstporträts des Künstlers. Die disparaten Motive widerstehen einem schnellen Verständnis und einer rein ästhetischen Rezeption. Unserem Denken entspricht dieses assoziative Vorgehen und das unbestimmt Gelassene eher als die ihm unterstellte Rationalität.
Nach den Collagen aus disparaten Motiven kommt der Mensch nicht mehr vor, erscheint nur noch in seiner Abwesenheit, als Erfinder und Benutzer der dargestellten Objekte. Tisch, Stuhl und Jacke erhalten Symbolwert und werden zu Platzhaltern, zu Stellvertretern des Menschen. Sie verweisen auf anderes: auf Götter, Könige oder den Menschen. Die Arbeiten konzentrieren sich um die Leere und um das Warten. Eine von ihnen zeigt einen kargen Raum. Ein leerer Stuhl, eine Tür, eine verstellte Wand und ein offenes Fenster, das den Blick auf eine Landschaft freigibt. Der Stuhl, ein zentrales Symbol unserer versesselten Kultur, ist Platzhalter für jemanden, der gegangen ist oder jemanden, der noch nie anwesend war und noch erwartet wird. Er wartet auf seine Besetzung: Abschied, Leere, Warten und Ankunft. Der Stuhl, Subjekt geworden, scheint zurückgelassen. Er ist Chiffre für die spirituelle und die leibliche Leere, eine Leere wie das tägliche Unbehagen oder die Tristesse einer Kultur, die über keine Vorräte an Rätseln und Mythen mehr verfügt und deren Ideale und Religion fragwürdig geworden sind. Unter anderem Blickwinkel kann die Leere aber auch als Zentrum der Kraft und der Neubesinnung erscheinen. Sie bindet sich dann an die Suche nach neuem Sinn. Die Erlösung kommt nicht von außen. An ihrer Erfüllung muss man mitarbeiten. So wandelt sich das Warten des Stuhls in dem kargen Raum zur Stille.
Die Arbeit „Bett-Sarg“, ein vereinzeltes Motiv, beendet diese Schaffensphase. Danach werden nur noch Tisch und Stuhl und Gewand isoliert für sich gestaltet. In dieser Reduktion zeigt sich ein Weg hin zu größerer Abstraktheit der Arbeiten und zu einer größeren Konkretheit der dargestellten Gegenstände.
Das erste Einzelobjekt von Wolfgang Keuchl ist der Tisch. Er wird gestellt oder gelegt, mit Tuch verhüllt oder umgekippt. Tische sind Zeichen ziviler und wohlhabender Gesellschaften, deren Merkmale Disziplin und Überfülle sind. Sie werden hier in ungewöhnliche Zustände und Zusammenhänge gebracht. Verdeckt oder gekippt, als Altar oder in bedrohlicher Ordnung und Strenge wiedergegeben, immer befinden sie sich in einem Stück Ödland, in dem sie einen Teil der einstigen Leere tischloser Kulturen zurückerhalten.
Die Elemente der Stühle sind zerscheitet und ineinandergeschichtet, visuell zersplittert. Sie sind Objekte des Scheiterns. Auf ihnen könnte der Mensch nicht Platz nehmen: zu geneigt sind die Sitzebenen, zu unterschiedlich lang ihre Stuhlbeine, zu wenig Halt, den sie geben, zu wenig innere Kraft, um sich selbst aufrecht halten zu können; nicht in Besitz zu nehmen, unbesetzbar, wie Land und Güter bei den Nomaden. Im Bemühen, auf den Stühlen Platz zu nehmen, müssten wir scheitern. Schon an der Oberfläche des Objekts wird der Betrachter irritiert und abgewiesen. Was bleibt, ist ein innerer Vorgang. Der Betrachter mag sich auf den ästhetischen Eindruck bescheiden wollen, den Widerspruch der dargestellten Objekte kann er nicht aufheben. Wenn er die glänzende Oberfläche transzendiert, stößt er auf die Frage nach dem Sinn von Stuhl und Sitzen. Er stößt auf eine politische Botschaft, die Joseph Beuys in seinen Fettstühlen plastiziert hat: Die Verhinderung des Sitzens und ihre unbestimmt gelassene Perspektive. Der Fettkeil hebt die Möglichkeit des Sitzens auf, und als reine Potentialität weist das Fett über das bloß Negative hinaus auf eine neue, aber noch vage Haltung. Mit dem Sitzen innehalten und lauschen, neues wagen, an einer neuen sozialen Plastik bauen. In den zerschnittenen Stühlen liegt die Kunde von einer neuen, aber noch nicht bestimmbaren inneren und äußeren Haltung des Menschen.
Die Jacke, der dritte eigenständige Gegenstand, ist auf ein vorziviles Gewand zurückgenommen. Reduziert auf ein Stück formlosen Stoff verfügt es über die Fähigkeit, unterschiedliche Formen aufzunehmen. Gelegentlich werden ursprüngliche Elemente wie Ärmel oder Kragen sichtbar. Die Jacke, eine Hülle des Menschen, erscheint als dessen Personifikation. Es gibt liegende, stürzende oder tanzende Jacken und Jacken, die wie gekreuzigt erscheinen. Die Merkmale eines Kleidungsstücks kommen ihr nur nebenbei zu. Das Geformte, die Jacke, wird in seinen Ursprung, die Formlosigkeit, zurückgeholt und in eine neue Form überführt. Die Jacken-Bilder sind spielerische Hinweise auf das zu hohe Maß an Disziplin, das unsere Kultur ihren Mitgliedern auferlegt.
Der Vorgang, aus einem Tuch oder Fell ein Kleidungsstück zu schneidern, ist hier rückgängig gemacht: Die Jacke ist auf der Mittelnaht entzweigeschnittenen. Im Mittelalter nennt man zwei sich in Farbe und Form unterscheidende Hälften eines Kleidungsstücks oder eines Wappens Mi-Parti (Halb-Geteilt). Zeichen für Dienstbarkeit und Abhängigkeit werden sie von Amtsdienern und städtischen Bediensteten getragen, von Narren und Henkern, von Spielleuten, Landsknechten und Schergen. Geistlichen war solche Kleidung verboten. Hier erscheint das Mi-Parti als eine in zwei Hälften getrennte schwarze Hochzeitsjacke. Die Jacke ist zu einem heraldischen Zeichen geworden, das der Jacke die Aura, die sie mit ihrer Entstehung aus dem Gewand verloren hat, zurückgibt.
Gelegentlich wird die Jacke mit Tisch und Stuhl zusammengebracht. Meist stürzen die starren Gegenstände auf den weichen Stoff, nehmen seinen Platz und Raum in Besitz und breiten sich auf ihm aus. Das Nachgiebige scheint zu unterliegen. Erst in den spätesten Arbeiten, den Epitaph-Bildnissen, in denen die zerschnittene Jacke gefaltet und zusammengeschoben flach auf dem Tisch liegt, scheint der weiche Stoff die Oberhand über den Tisch zu gewinnen. Aber der Tisch kann auch immer Bett, Bett-Sarg sein.
Die Abfolge von Tisch, Stuhl und Kleid hat ihre Logik. Man isst oder arbeitet am Tisch, man sitzt auf dem Stuhl, man steckt in den Kleidern. Eine Folge zunehmender Intensivierung und Annäherung: in der Nähe des Tisches (am), die Berührung mit dem Stuhl (auf), die direkte Berührung von Haut und Kleid (in). Kleid, Tisch und Stuhl sind Gegenstände der Disziplinierung und der unterschiedlichen Distanzierung.
Wie Tisch und Stuhl bringt die Jacke, das moderne Gewand, den Menschen in eine spezifische leibliche und psychische Haltung. Gemeinsam ist den Gegenständen, dass der Mensch im Umgang mit ihnen zu einer von außen vorgegebenen Haltung angehalten und gezwungen wird. Während aber der Tisch die Auflagefläche für Gegenstände und der Stuhl die Auflage für den sitzenden Menschen bildet, ist es mit der Kleidung umgekehrt: Der menschliche Leib ist die fundamentale Basis der Kleidung, die Oberfläche für Gewand oder Jacke.
Das Konzeptionelle vor der Photoarbeit ist ein Mittel der Analyse. Das Photographieren und die künstlerische Gestaltung ein Mittel der Synthese. Indem die Objekte anders, als sie zuvor waren und anders, als wir sie kennen, wieder zusammengefügt werden, erscheinen sie fremd und irritierend. Wolfgang Keuchl arbeitet sich an das, was ihn beschäftigt und bedrängt, von zwei Seiten heran: vom subjektiven Standpunkt und aus der Perspektive der Gesellschaft, wodurch das Subjektive eine objektive Stufe erlangt. In den Entzweiungen und Verfremdungen liegt das Schroffe, manchmal das Unverdauliche: zerschnittene Stühle, umgestürzte Tische, gekreuzigte Textilien. Die Objekte sind kantig, hart, zwingend. Wie das harte Gestühl sind auch Tisch und Kleid Objekte, die den Menschen zwingen, ihn in der Haltung beugen, ihn seiner Aufrechtheit berauben wollen. Bilder der Melancholie, aber auch Räume für die Sehnsucht nach der einstigen Leere, die Sehnsucht nach einer Welt ohne Stühle, ohne uniformierende Kleider und Tische. Es ist die Sehnsucht nach der Wüste. Ohne die Illusion, dass das traditionelle Wüstenleben der Nomaden paradiesisch war.
e Gefahr besteht darin, dass man sie unter veränderten Situationen beibehält und ihren Vorteil preisgibt. Das gewohnheitsmäßig beherrschte Tun fügt sich nicht mehr in neu zu erlernende Handlungsweisen und die zur Gewohnheit gewordene Handlung wird ungelenk und macht den Organismus hart und brüchig. In solchen überkommenen, aber praktizierten Handlungen kann sich der Mensch schon zu Lebzeiten wie im Grab fühlen.
Mit wenigen Objekten - mit Tisch, Stuhl und Jacke -, mit charakteristischen Gegenständen des modernen Alltags, hat sich Wolfgang Keuchl künstlerisch auseinandergesetzt und ihnen mit Hilfe eines modernen Mediums, der Sofortbild-Kamera, neuen Sinn verliehen. Die Arbeit mit der Polaroidkamera ist schnell, unkompliziert und spontan. Da aber die Idee zu einem Bild vor der Arbeit mit der Kamera fertig ist, sind seine Arbeiten konzeptionell. Konzeptionell ist auch die Verarbeitung von Erlebnissen und politischen Ideen. Seine Arbeiten, bewusst intellektuell aufgefasst und nicht auf die Ästhetik reduziert, sind Bilder, die dazu auffordern, dass man ihnen reflektierend gegenübertritt. Den Konzept-Künstlern gelten neben Skizzen, Zeichnungen und Texten Photographien als geeignete Mittel, das Konzept anschaulich zu machen und zu dokumentieren. Den Gedanken, dass die Qualität eines Kunstwerks in der Idee zu einer Komposition, dem Konzept liegt, nur beiläufig in der Ausführung, hegte schon Leonardo da Vinci.
Die Arbeiten von Wolfgang Keuchl sind vorwiegend Collagen aus Polaroidphotos und bestehen aus zwei sich überlagernden Ordnungen: Die singulären und spontan entstandenen Momentaufnahmen, zufällig und unwiederholbar, und die vor jeder Aufnahme unverrückbare Komposition, das Konzept. Die Ränder der quadratischen Photos werden aufeinandergeklebt, so dass ein Raster als Vordergrund entsteht, durch das der Betrachter wie durch ein Gitterfenster in Innenräume schaut, auf das scheinbar Wesentliche, die künstlerisch gestaltete Photoarbeit. Aber die Quadratform des Bildes und sein heller Rand sind ein wesentliches Gestaltungsmerkmal, das dem Gesamtbild eine feste Basis gibt, eine Art Objektivität. Die Gitterstäbe, die die perfekte Technik des Polaroidbildes zerstören, korrespondieren mit der Form unserer Wahrnehmung. Unser Blick aktiviert sich an den horizontalen und vertikalen Stäben und fügt die Bilder an den Rändern scheinbar nahtlos zusammen. Es bleiben aber Linien, Punkte oder Teilfiguren, die an die angrenzenden Photographien nicht anknüpfen. Sie sind das Zufällige. Selbständige Einzelphotos, die Details, die zugleich ein in sich Ganzes bilden, konstituieren so die Komposition. Die Momentaufnahme ist zufällig, die Komposition zwingend. Wirklichkeit wird nicht abgebildet, sondern zerbrochen, neu erdacht und zu einer neuen komponiert.
Die Arbeiten gleichen Skulpturen, skulpturalen Räumen, die durch die Gewänder, Tische und Stühle eine neue Ordnung erhalten. Die Räume sind rissig, verschachtelt, brüchig. Auch sie kommen der Wahrnehmungsform des modernen Menschen sehr nahe. Infolge der Unbewegtheit an Tischen, auf Stühlen und in Kleidern verliert der Mensch allmählich die Koordinationsfähigkeit seiner Bewegungsabfolgen und taumelt und torkelt durch eine gestutzte, geradlinig gemachte Welt.
Der Zustand einer Gesellschaft kommt gut in seinen Irrenhäusern zum Ausdruck. Die zehnjährige Arbeit mit psychisch Behinderten haben die künstlerische Arbeit von Wolfgang Keuchl beeinflusst. Das menschliche Scheitern und Zersplittern und die wenige Hoffnung, die in Nervenkliniken zum Alltag gehören, sind Teil der gesellschaftlichen Normalität. Dieser ausgesparte Teil der Wirklichkeit, ihr Bodensatz, findet sich in den Photoarbeiten wieder. Nicht vordergründig auf der Ebene des Inhalts. Inhalte solcher Art erschließen sich vor allem über die Form.
Die frühesten Arbeiten sind assoziative Montagen von Einzelphotos, die in eine ästhetische Gesamtform gebracht sind. Jede Arbeit eine Summe von Einzelmotiven. Dargestellt sind Masken, Beile, Hände, Tische oder Vögel oder Selbstporträts des Künstlers. Die disparaten Motive widerstehen einem schnellen Verständnis und einer rein ästhetischen Rezeption. Unserem Denken entspricht dieses assoziative Vorgehen und das unbestimmt Gelassene eher als die ihm unterstellte Rationalität.
Nach den Collagen aus disparaten Motiven kommt der Mensch nicht mehr vor, erscheint nur noch in seiner Abwesenheit, als Erfinder und Benutzer der dargestellten Objekte. Tisch, Stuhl und Jacke erhalten Symbolwert und werden zu Platzhaltern, zu Stellvertretern des Menschen. Sie verweisen auf anderes: auf Götter, Könige oder den Menschen. Die Arbeiten konzentrieren sich um die Leere und um das Warten. Eine von ihnen zeigt einen kargen Raum. Ein leerer Stuhl, eine Tür, eine verstellte Wand und ein offenes Fenster, das den Blick auf eine Landschaft freigibt. Der Stuhl, ein zentrales Symbol unserer versesselten Kultur, ist Platzhalter für jemanden, der gegangen ist oder jemanden, der noch nie anwesend war und noch erwartet wird. Er wartet auf seine Besetzung: Abschied, Leere, Warten und Ankunft. Der Stuhl, Subjekt geworden, scheint zurückgelassen. Er ist Chiffre für die spirituelle und die leibliche Leere, eine Leere wie das tägliche Unbehagen oder die Tristesse einer Kultur, die über keine Vorräte an Rätseln und Mythen mehr verfügt und deren Ideale und Religion fragwürdig geworden sind. Unter anderem Blickwinkel kann die Leere aber auch als Zentrum der Kraft und der Neubesinnung erscheinen. Sie bindet sich dann an die Suche nach neuem Sinn. Die Erlösung kommt nicht von außen. An ihrer Erfüllung muss man mitarbeiten. So wandelt sich das Warten des Stuhls in dem kargen Raum zur Stille.
Die Arbeit „Bett-Sarg“, ein vereinzeltes Motiv, beendet diese Schaffensphase. Danach werden nur noch Tisch und Stuhl und Gewand isoliert für sich gestaltet. In dieser Reduktion zeigt sich ein Weg hin zu größerer Abstraktheit der Arbeiten und zu einer größeren Konkretheit der dargestellten Gegenstände.
Das erste Einzelobjekt von Wolfgang Keuchl ist der Tisch. Er wird gestellt oder gelegt, mit Tuch verhüllt oder umgekippt. Tische sind Zeichen ziviler und wohlhabender Gesellschaften, deren Merkmale Disziplin und Überfülle sind. Sie werden hier in ungewöhnliche Zustände und Zusammenhänge gebracht. Verdeckt oder gekippt, als Altar oder in bedrohlicher Ordnung und Strenge wiedergegeben, immer befinden sie sich in einem Stück Ödland, in dem sie einen Teil der einstigen Leere tischloser Kulturen zurückerhalten.
Die Elemente der Stühle sind zerscheitet und ineinandergeschichtet, visuell zersplittert. Sie sind Objekte des Scheiterns. Auf ihnen könnte der Mensch nicht Platz nehmen: zu geneigt sind die Sitzebenen, zu unterschiedlich lang ihre Stuhlbeine, zu wenig Halt, den sie geben, zu wenig innere Kraft, um sich selbst aufrecht halten zu können; nicht in Besitz zu nehmen, unbesetzbar, wie Land und Güter bei den Nomaden. Im Bemühen, auf den Stühlen Platz zu nehmen, müssten wir scheitern. Schon an der Oberfläche des Objekts wird der Betrachter irritiert und abgewiesen. Was bleibt, ist ein innerer Vorgang. Der Betrachter mag sich auf den ästhetischen Eindruck bescheiden wollen, den Widerspruch der dargestellten Objekte kann er nicht aufheben. Wenn er die glänzende Oberfläche transzendiert, stößt er auf die Frage nach dem Sinn von Stuhl und Sitzen. Er stößt auf eine politische Botschaft, die Joseph Beuys in seinen Fettstühlen plastiziert hat: Die Verhinderung des Sitzens und ihre unbestimmt gelassene Perspektive. Der Fettkeil hebt die Möglichkeit des Sitzens auf, und als reine Potentialität weist das Fett über das bloß Negative hinaus auf eine neue, aber noch vage Haltung. Mit dem Sitzen innehalten und lauschen, neues wagen, an einer neuen sozialen Plastik bauen. In den zerschnittenen Stühlen liegt die Kunde von einer neuen, aber noch nicht bestimmbaren inneren und äußeren Haltung des Menschen.
Die Jacke, der dritte eigenständige Gegenstand, ist auf ein vorziviles Gewand zurückgenommen. Reduziert auf ein Stück formlosen Stoff verfügt es über die Fähigkeit, unterschiedliche Formen aufzunehmen. Gelegentlich werden ursprüngliche Elemente wie Ärmel oder Kragen sichtbar. Die Jacke, eine Hülle des Menschen, erscheint als dessen Personifikation. Es gibt liegende, stürzende oder tanzende Jacken und Jacken, die wie gekreuzigt erscheinen. Die Merkmale eines Kleidungsstücks kommen ihr nur nebenbei zu. Das Geformte, die Jacke, wird in seinen Ursprung, die Formlosigkeit, zurückgeholt und in eine neue Form überführt. Die Jacken-Bilder sind spielerische Hinweise auf das zu hohe Maß an Disziplin, das unsere Kultur ihren Mitgliedern auferlegt.
Der Vorgang, aus einem Tuch oder Fell ein Kleidungsstück zu schneidern, ist hier rückgängig gemacht: Die Jacke ist auf der Mittelnaht entzweigeschnittenen. Im Mittelalter nennt man zwei sich in Farbe und Form unterscheidende Hälften eines Kleidungsstücks oder eines Wappens Mi-Parti (Halb-Geteilt). Zeichen für Dienstbarkeit und Abhängigkeit werden sie von Amtsdienern und städtischen Bediensteten getragen, von Narren und Henkern, von Spielleuten, Landsknechten und Schergen. Geistlichen war solche Kleidung verboten. Hier erscheint das Mi-Parti als eine in zwei Hälften getrennte schwarze Hochzeitsjacke. Die Jacke ist zu einem heraldischen Zeichen geworden, das der Jacke die Aura, die sie mit ihrer Entstehung aus dem Gewand verloren hat, zurückgibt.
Gelegentlich wird die Jacke mit Tisch und Stuhl zusammengebracht. Meist stürzen die starren Gegenstände auf den weichen Stoff, nehmen seinen Platz und Raum in Besitz und breiten sich auf ihm aus. Das Nachgiebige scheint zu unterliegen. Erst in den spätesten Arbeiten, den Epitaph-Bildnissen, in denen die zerschnittene Jacke gefaltet und zusammengeschoben flach auf dem Tisch liegt, scheint der weiche Stoff die Oberhand über den Tisch zu gewinnen. Aber der Tisch kann auch immer Bett, Bett-Sarg sein.
Die Abfolge von Tisch, Stuhl und Kleid hat ihre Logik. Man isst oder arbeitet am Tisch, man sitzt auf dem Stuhl, man steckt in den Kleidern. Eine Folge zunehmender Intensivierung und Annäherung: in der Nähe des Tisches (am), die Berührung mit dem Stuhl (auf), die direkte Berührung von Haut und Kleid (in). Kleid, Tisch und Stuhl sind Gegenstände der Disziplinierung und der unterschiedlichen Distanzierung.
Wie Tisch und Stuhl bringt die Jacke, das moderne Gewand, den Menschen in eine spezifische leibliche und psychische Haltung. Gemeinsam ist den Gegenständen, dass der Mensch im Umgang mit ihnen zu einer von außen vorgegebenen Haltung angehalten und gezwungen wird. Während aber der Tisch die Auflagefläche für Gegenstände und der Stuhl die Auflage für den sitzenden Menschen bildet, ist es mit der Kleidung umgekehrt: Der menschliche Leib ist die fundamentale Basis der Kleidung, die Oberfläche für Gewand oder Jacke.
Das Konzeptionelle vor der Photoarbeit ist ein Mittel der Analyse. Das Photographieren und die künstlerische Gestaltung ein Mittel der Synthese. Indem die Objekte anders, als sie zuvor waren und anders, als wir sie kennen, wieder zusammengefügt werden, erscheinen sie fremd und irritierend. Wolfgang Keuchl arbeitet sich an das, was ihn beschäftigt und bedrängt, von zwei Seiten heran: vom subjektiven Standpunkt und aus der Perspektive der Gesellschaft, wodurch das Subjektive eine objektive Stufe erlangt. In den Entzweiungen und Verfremdungen liegt das Schroffe, manchmal das Unverdauliche: zerschnittene Stühle, umgestürzte Tische, gekreuzigte Textilien. Die Objekte sind kantig, hart, zwingend. Wie das harte Gestühl sind auch Tisch und Kleid Objekte, die den Menschen zwingen, ihn in der Haltung beugen, ihn seiner Aufrechtheit berauben wollen. Bilder der Melancholie, aber auch Räume für die Sehnsucht nach der einstigen Leere, die Sehnsucht nach einer Welt ohne Stühle, ohne uniformierende Kleider und Tische. Es ist die Sehnsucht nach der Wüste. Ohne die Illusion, dass das traditionelle Wüstenleben der Nomaden paradiesisch war.
© Hajo Eickhoff 1995
Die alte Website begann Mitte 2014 und endete am 28.12. 2020 bei 663.749, Neustart am 26. März 2021