Stephan Sting und Hajo Eickhoff
aus: Kamper, Dietmar/ Wulf, Christoph (Hrsg.), Anthropologie nach dem Tode des Menschen, Frankfurt/ Main 1994
Indem sich der Mensch setzt, beginnt er fortzuschreiten. Insofern meint Fortschreiten Festsetzen, meint das Fest- und Fortsetzen räumlicher Bewegungen mit den Mitteln von Imagination und Stuhl, denn als komplementäre Aspekte desselben Vorgangs entspringen die Vorstellungen von Fortschreiten und Sitzen denselben kulturellen und physiologischen Wurzeln, die im Wechsel von der Fußsohle auf das Gesäß liegen: in den Übergängen von räumlichen zu zeitlichen Qualitäten, von realen zu fiktiven Bewegungen und von Abläufen auf der Fußsohle zum Schreiten auf imäginären Sohlen, Übergänge, in denen sich das neuzeitliche Subjekt konstituiert.
Nach Jahren der Kritik setzt man heute erneut auf den Fortschritt, wenn auch niemand die Erwartung hegt, dass wir uns, um fortzuschreiten, von den Stühlen erheben. Schon deshalb nicht, weil die Prämissen zu den Ideen des Fortschritts früherer Zeit bemerkenswert verschoben sind: gilt bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts hinein Fortschritt als Motor für eine weltweite Verbesserung des menschlichen Daseins, nimmt er nun die Gestalt eines letzten Ausweges vor der unentrinnbar erscheinenden Katastrophe durch eine sich selbst bedrohende Menschheit an. Wirtschaftliche und ökologische Krisen, Irrwege des Militarismus und der Verlust sozialer Sicherheiten scheinen sich nur noch durch eine Weiterentwicklung der Perspektiven menschlicher Existenz aufhalten zu lassen. Einst die Hoffnung, das Leben auf Erden zu vervollkommnen, wird Fortschritt zum Prinzip bloßer Selbsterhaltung und des Erhalts eines unerträglich gewordenen Status Quo.
Von Anbeginn an beruht die Figur des Fortschritts auf einem Phantasma, dessen Prämissen sich aus einer Geschichte des Fortschreitens und des Sitzens herleiten. Fortschreitend schlägt der abendländische Mensch Schneise um Schneise in die Natur, um den Wildwuchs jeglicher Art in zivile Kanäle zu bahnen. Während das Fortschreiten sich mit dem Sitzen verbindet und die Wahrnehmung verödet, ein Resultat der im Sitzen erzeugten vegetativen Hemmungen, gründet der Wahnsinn des Fortschritts in den schneisenhaften Lücken, dem Mangel an sinnlicher Erfahrung. Das Leben in den gegenwärtigen, sich freizügig und pluralistisch gebenden Gesellschaften basiert auf ganz speziellen, nichtintendierten Formungen geistiger und leiblicher Energien, deren Anfänge bis ins ausgehende Mittelalter zurückreichen.
Der Niedergang der feudalen Gesellschaften erschüttert die tradierten Wertordnungen, durch die sich zunehmend eine Orientierungslosigkeit unter den Menschen ausbreitet, die zu Angst und Enge führt. Im Bemühen, die Enge zu überwinden und den drängenden Unsicherheiten entgegenzuwirken, werden neue Ordnungsprinzipien ausgebildet: Zwei Mechanismen, die solche Verengungen aufheben, sind das Sitzen und das Schreiten, mit deren Hilfe gerade das erzeugt werden sollte, was Mensch und Natur bis dahin nicht gelang: anderes als Natur, nämlich eine künstliche und übersichtliche, eine perfekte Welt, zu schaffen. Das neuzeitliche Subjekt konstituiert sich in Absetzung zur bestehenden Welt, indem es sich der beiden Mechanismen zur Formung von Seele und Leib bedient. So bildet der Mensch in sich Formen aus, die die Vielfalt der Wahrnehmung zu einer möglichst kleinen Zahl von Erfahrungsdaten zusammenfassen und setzt im weiteren Fortschreiten zur Übersichtlichkeit die als irrational gedeutete Vielfalt und Dynamik mittelalterlichen Lebens in klaren und prägnanten Gestalten fest.
Trotz Ablehnung der mittelalterlichen Lebensweise bezieht sich die neuzeitliche Subjekt-Formung auf Vorgaben, die die Richtung der Problemlösung bestimmen. Die Modelle des Sitzens und Fortschreitens werden in den Enklaven der Höfe und der Klöster ausgebildet und sollen die Orientierung am einzelnen befördern. Mit der Ausbildung des Sitzens während des klösterlichen Gottesdienstes und der Entwicklung des Chorgestühls wird die Klostergemeinschaft zur ersten Gemeinschaft Sitzender. Demgegenüber beschränkt die höfische Gesellschaft das Sitzen zunächst auf das Thronen des Fürsten, breitet aber mit wachsender Macht des Bürgertums die königliche Haltung des Thronens auf die Eliten der Gesellschaft aus. In der Verschmelzung der beiden Techniken des klösterlichen Sitzens zur Vertiefung in geistige Haltungen und die Einübung in die zeremonielle Etikette des Hofes zur leiblichen Festsetzung konstituiert sich das Bürgertum des 16. Jahrhunderts. Die daraus gewonnene geistige Haltung orientiert sich von nun an an einer imaginären Figur, die nicht zwingend, sondern bestenfalls naheliegend ist: das Pilgern. Die Pilgerfahrten nach Rom, Jerusalem oder Santiago, die eine beruhigende Regelmäßigkeit in den mittelalterlichen Raum kriegerischer und entsozialisierter Mobilität bringen, drängen sich als Modell für eine Formung des Geistes auf. Den Pilgern erscheint das gemessene und gerichtete Fortschreiten als sinnvolle Form, die das vagabundierende Gehen und ziellose Umherirren in feste Kanäle einbindet.
Zum Ende des 14. Jahrhunderts wird das Leben immer deutlicher von der Vision einer geistigen Bewegung, des Fortschreitens zum Heil, erfasst. In ihr errichten Sitzen und Fortschreiten, als sich gegenseitig verstärkende komplementäre Formungen, Distanzen zur alten Gesellschaft und eine neue Ordnung leiblich-seelischer Haltungen, die einen Aufschub, einen Verzicht auf direkte Lusterfüllung und spontanes Handeln, begründen. Die vegetative Begrenzung des Sitzens führt zur Affekthemmung, zum Absehen vom Leiblichen und zu einer Rationalität, die Instanzen zwischen einen Impuls und die ihm potentiell folgende Handlung schiebt. Bei Erasmus entsteht das Fortschreiten durch den Aufschub der Lusterfüllung, durch die Abkehr vom Leiblichen zugunsten einer höheren geistigen Erfüllung im Jenseits. Deshalb werden alle Handlungen an der Vernunft ausgerichtet und in eine zielstrebige und logische Abfolge eingebunden, die den gesamten Affekt in Einzelschritte zerlegt. Durch die Vorstellung einer imaginären Bewegung konnte das Pilgern, als Form des Nachlebens Christi, mit dem Stuhl, der die mittelalterliche Lebensdynamik des Alltags begrenzt, eine ideale Symbiose eingehen: Die Erfahrungen im Fortschreiten basieren gerade auf der Begrenzung der Alltagsdynamik, der leiblichen Unerfahrenheit im Sitzen.
Sitzen und Fortschreiten implizieren die Aufhebung der Sinnlichkeit und die Durchsetzung einer eindimensionalen Perspektive: eines beschränkten und die Wahrnehmung verzerrenden Blickpunktes. Die neuzeitliche Kultur des Auges ersetzt die sinnliche durch eine zugleich über- und unsinnliche Wahrnehmung: Sehen wird zu einem festgesetzten und streng gerichteten Starren, dem ein Absehen von den realen Objekten der Wahrnehmung und eine Übersicht über den Raum zur Erzeugung eines Überblicks zugrunde liegt. Damit wird das Sehen zu einem inneren Sehen, zu einem festgehaltenen Blick in eine imaginäre Ordnung, die sich äußerlich als Anordnungen von Schriftzeichen zu erkennen gibt. Lesen und Sitzen bilden einen geschlossenen Kreis, ein Zirkulieren von Blicken und geistigen Bewegungen, ein Streben nach geistiger Vervollkommnung, das den eingeklemmten Leib nicht befreit, sondern immer weiter in den Stuhl hineinarbeitet.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schließen sich die vielfältigen Prozesse der Verbürgerlichung ab und Fortschreiten und Sitzen münden in eine gemeinsame Perspektive. Es geht nicht länger um das Festsetzen einer äußeren Ordnung und einer inneren Bewegung, sondern mit der Etablierung des Bürgertums erfasst die Verstuhlung die gesamte Gesellschaft und die Disziplinierung im Sitzen schlägt ins Sitzen-Wollen um. Während der moderne Bürger von nun an freiwillig im Stuhl verharrt, macht die Allgemeine Schulpflicht das Sitzenbleiben zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Sozialisation. Sitzen, Lesen und das stufenweise Fortschreiten im Bildungsprozess erzeugen jene moderne Eindimensionalität, deren Preisgabe den Verlust raum-zeitlicher Ordnungen und Orientierung zur Folge hätte. Als das pädagogische Vorbild der einseitigen Prägung gilt Rousseaus Emile, den es selbst nach Ablauf seines individuellen Fortschreitens, seiner Reifung und Entwicklung, nicht danach drängt, seine pädagogische Zone zu verlassen. Der pädagogische „orbis pictus“, das Schulzimmer mit seinen Tafeln, Bildern und Schriftzeichen von der Welt, das den auf dem Stuhl gebannten Zögling umgibt, wird zum Modell einer verkleinerten und geordneten Welt, die niemand mehr freiwillig verlässt.
Das Beherrschen der Welt impliziert die Möglichkeit ihrer fundamentalen Verkleinerung, ihr Erzeugen nach logisch geordneten Bildern, so dass die Gestaltung der Welt nach eigenen Gesetzen, das Umsetzen nach der Schriftlogik entworfener Weltbilder sich selbst beschränkender und beruhigter Menschen bedarf, die gemäß der Vorgabe der Sozialordnung und der Vernunft ihren Sitzplatz im Raum des Sozialen einnehmen. Für die isolierte und selbstgenügsame Existenz des einsamen Emile oder des auf dem Stuhl verharrenden und seiner Affekte entledigten Bürgers scheint es nur einen einzigen Ausweg aus der individuellen Lage der Festsetzung zu geben: den Fortschritt als gesamtgesellschaftliche Wanderung. Nichts am Fortschritt ist rational, aber der Bezug auf das vorgegebene und verkleinerte Modell innerer Bewegungen macht die Figur des Fortschritts naheliegend und führt eine Formung und Ausrichtung der Wahrnehmung gesellschaftlicher Bewegungen ein.
Der Bürger wird zum Insassen einer Gesellschaft, die insgesamt ihrer Vollkommenheit, der „moralischen Glückseligkeit“, der dann auch die „physische Glückseligkeit“ nachfolge (Kant), zustrebt. Die moderne Erfahrung der Welt als Festsetzung und Beschleunigung, als Platznehmen und Mitfahren und als Sitzen und Fortschreiten gleicht der Fahrt des ins Abteil eingeschlossen Bahnreisenden, der den Kontakt zur vorbeifliegenden Welt abgebrochen und auf Momente distanzierter und punktueller Aufmerksamkeit, auf ein reines Zuschauen, reduziert hat. Die moderne Beweglichkeit, die zunehmende Beschleunigung gerichteter Bewegungen, lässt sich als Festsitzende Mobilität beschreiben. Physiologisch verschnürt, immer rascher wechselnden Rhythmen unterwerfen, jagen wir in den Sitzen verschiedenster Apparate durch das All: Mit der Beschleunigung wächst die Bewegungslosigkeit.
Es ist das Aufschieben des Tuns, das Leib und Seele dissoziiert. Das Sitzen spaltet den Menschen und das Paradox von Sitzen und Sich-Besitzen-Wollen verhindert jegliche Erfüllung, während zugleich das Fortschreiten als Abkehr vom Leib und als Vergeistigung zum Abheben ins Reich unendlicher imaginärer Reisen führt, in ein sinnentleertes Weitermachen. Die Formen, die das moderne Leben kontrollieren, deuten zurück auf den Versuch des spätmittelalterlichen Menschen, die Angst zu bannen, doch an die Stelle der Angst ist das Warten des Sitzenden getreten, das in der Perspektive des Fortschreitenden zur Erwartung wird.
Die Verdichtung des Sitzens und Fortschreitens zur Festsitzenden Mobilität raubt der Erwartung ihre innere Spannung und Hoffnung. Die Verallgemeinerung der individuellen Ziele zu gesamtgesellschaftlichen Zwecken verschiebt ihre Erreichbarkeit ins Unendliche und lässt den Fortschritt zum Selbstzweck werden. Indem der Fortschritt selbst zum Ziel wird, mutiert die Erwartung zu einem leeren Warten.
© Hajo Eickhoff 1994
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