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aus: Doris Schuhmacher-Chilla, Nadia Ismail (Hgg.), Beware! Mehr als Gegenwart in der zeitgenössischen Kunst, Oberhausen 2018, Vortrag an der Universität Köln 2016 auf dem Symposion  Aufmerksamkeit und Gegenwartskunst





Die Kultur der Gegenwartskunst



1. Produktivität und Kultur 


Nichts spielt sich in der Gegenwart ab. Ereignisse nicht, Gefühle und Nachdenken nicht. Nur wenn es etwas gäbe, was keine Zeit beansprucht, wäre Gegenwart möglich. Doch Ereignisse und das Leben sind Vorgänge in der Zeit. Sie spielen sich ab in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Wäre es anders, könnten wir kein zweisilbiges Wort oder Musik erkennen. Wie Punkt und Linie, die nur als Idee bestehen, nicht real.


Es geht um die Beschäftigung mit Kunst, mit Gegenwartskunst, im Rahmen der Kultur, in der sich diese Kunst ereignet. Die Ägyptische Perspektive zeigt die Umrisslinie eines Sees, neben dem Bäume zu liegen scheinen. Aber nur dadurch sind sie als Bäume zu erkennen. Die Mittelalterliche Perspektive ist eine Bedeutungsperspektive, die das groß darstellt, was bedeutsam ist. Die Renaissanceperspektive gibt den dreidimensionalen Raum zweidimensional wieder. Eine Darstellungsform, die geeignet ist, als Bauzeichnung zu dienen. Also die Perspektive für eine Gesellschaft, die bauen, produzieren will. Hier im Raum sind alle Objekte von Menschen gemacht. Alles eine Form der Technik – List und Hinterlist. Aber herausgeholt mit den Händen aus der Natur. Wir nennen das Produkt – pro ducere, herausführen. Alles hier ist Natur – nur eben umgestaltete Natur durch Menschenhand zu technischem Gerät.


Das ist eine wichtige Grundlage für die Kunst der Renaissance und ein wichtiger kultureller Ausgangspunkt für die Gegenwartskunst, nämlich: Europa ist eine Kultur der Produktivität – praktisch wie geistig.

 


2. Die Unordnung des Hauses


Die Welt der Renaissance war in großer Unordnung. Eine Konfrontation von Traditionalisten und Modernen. Heute, 500 Jahre später, ist die Welt immer noch in Unordnung. Heue können wir es genauer fassen: Unser Haus ist in Unordnung. Den Griechen war Oikos das große Haus, das Weltall, und zugleich das humane, von Menschen errichtete Haus. Oikos heißt auch Haushalten – die gelungene Balance von Ein- und Ausfuhr – also Ordnung und Ökonomie. Diese Balance ist gestört.


Die Unordnung unseres Hauses durch Klimawandel, Krieg und Migration, durch Wirtschaftsbetrug und Armut – überrascht nicht, denn unterschiedlichste Kulturen treffen so nah aufeinander wie nie zuvor. Das ist die Globalisierung. Doch Globalisierung ist weder ein Unfall noch ein Unglück, sondern hat eine Geschichte und ist die Chance, die Erde friedlich zu bewohnen.


Sie ist so alt wie der Mensch, der von Anbeginn an eine Neigung dazu in sich trägt. Er hat Gedächtnis und Verstand, geschickte Hände und ein vermögendes Gehirn, er kommuniziert bereitwillig und erweitert unaufhörlich Wissen und Fertigkeiten, die er der nachfolgenden Generation übermittelt, die nun auf erhöhtem Niveau weitermacht und das Niveau erneut anhebt. Und immer wieder haben Kulturen voneinander gelernt, wenn sie gegeneinander Krieg führten oder kooperierten. Wie könnte es da sein, dass sich kleinere Gemeinschaften im Laufe der Jahrzehntausende nicht zu immer größeren Einheiten zusammenschlossen?


Der Prozess dauert an und hat eine enorme Weltbevölkerung, unendlich viele Dinge des Lebens, Infrastrukturen und Netzwerke hervorgebracht. Weltsport, Tourismus, Weltkrieg, Weltpolitik und Weltkunst sind Zeichen davon, dass diese Welt – dieses Haus – sich auf dem Weg in die Globalität befindet. Globalität ist die Phase, in der die Ordnung des Hauses wiederhergestellt sein wird. Eine Phase, in der die persönlichen und lokalen Angelegenheiten mit den globalen zusammengedacht und praktiziert werden. Auf dem Weg dorthin müssen die Menschen aufmerksam sein: auf sich selbst und auf Mitmenschen, auf die Natur und alles Fremde. Das Verbindende dieser Aufmerksamkeiten ist Liebe. Sie können es auch Anerkennung, Respekt und Toleranz nennen.


Diese Gegenwart und diese Utopie ist die kulturelle Basis, aus der Künstler ihre Motivation und ihre Themen ziehen und eine Gegenwartskunst zur Erscheinung bringen.


 

3. Bedingungen der Gegenwartskunst


Künstler arbeiteten zwar im Auftrag der Kirche oder des Hofes, doch war es gerade die besondere Maniera, ihre besondere Art und Fertigkeit, die ihr Engagement begründete. Sie waren aufmerksam für die Umstände ihrer Zeit und interessierten sich dafür, ihre persönlichen, politischen und emotionalen Anliegen auszudrücken, wie Leonardo gegen die Kirche opponiert: „Die Mutter aller Wahrheit ist die Erfahrung.“ Vier Bedingungen zur Gegenwartskunst habe ich ausgemacht.


1. Die Geschichte der abendländischen Kunst offenbart einen Prozess der Demokratisierung. Abzulesen an den dargestellten Personen. Zuerst sind es Kaiser, seit dem 3. Jahrhundert Christus, seit dem 6. Jahrhundert Maria, dann Päpste, Kardinäle und Mönche und seit dem 12. Jahrhundert Gott als menschliches Wesen. Erst im 14. Jahrhundert sind Bürger an der Reihe – doch lediglich die winzige Oberschicht der regierenden Herren – das Patriziat. Danach wohlhabende Kaufleute, bis immer weitere Bürgerschichten bildwürdig werden. Dann kommen Bauern und Arbeiter hinzu und Ende des 19. Jahrhunderts aufständische Arbeiter. Von da an ist jeder in der Kunst bildwürdig.


2. Die Geschichte der abendländischen Kunst hat einen Nullpunkt. Auf die Bedeutungsperspektive des Mittelalters folgt die naturhafte Darstellung der Renaissance und des Barock, bis im 19. Jahrhundert die Naturdarstellung allmählich aufgegeben wird. Von 1870 bis 1915 erlebt die Kunst drei Revolutionen. Paul Cezanne sucht Grundformen der Natur, um ihr Innen sichtbar zu machen – ohne Konturen und Perspektive. Während er die Malerei von der Form her verändert, wandelt Käthe Kollwitz den Inhalt, das Sujet. Sie erfindet einen neuen Bildinhalt – den aufständischen Weber. Für sie hat Kunst „die Aufgabe, die sozialen Verhältnisse aufzuzeigen.“ Der Nullpunkt ist das Schwarze Quadrat von Malewitsch, der sagt: „Ich wollte die Malerei vom Gewicht der Gegenstände befreien.“ Das Schwarz nimmt alle bis dahin gezeigten Gegenstände und Farben, Formen und Stile auf und löscht sie. Umgekehrt lässt sich auf dem Schwarz alles entwickeln: ein reines Gelb oder Rot, eine Farbkombination, Formen beliebiger Gestalt und neue Stilrichtungen. Von da an ist alles bildwürdig.


3. Neue Medien und Mittel der Kultur können Künstler zwingen, sich neu zu orientieren. Wie die Kunst der Moderne auch eine Reaktion auf die Präzision und den Naturalismus der Fotografie ist, gegen die sie sich behaupten musste. Pablo Picassos „Da es die Fotografie gibt, kann ich mich auch erschießen“ hat immerhin die klassische Moderne eingeleitet, die Basis der Gegenwartskunst.


4. Jeder Kulturwandel schlägt sich in der Kunst nieder. In den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt die Jugend weltweit ein neues Lebensgefühl. Sie revolutioniert Denkweisen und lehnt den Gehorsam um des Gehorsams willen ab, ebenso wie die Herrschaft des Westens und die Dominanz des weißen Mannes: Die Demokratisierung macht ernst und auch vor der Kunst und den Künstlern nicht Halt.


Mit diesem Wandel vom Privaten zum Politischen, der Darstellbarkeit von jedermann und allem sowie mit der Entstehung von Happenings und Videokunst, von Installationen, Medienkunst und Performances, die nicht mehr zu den klassischen Kunstgattungen passen, wird die Kunst der Moderne zur Gegenwartskunst.


 

4. Die Gegenwartskunst


Gegenwärtig kann alles Kunst werden. Jedes Sujet ist erlaubt, jedes Kunstmittel recht und jede Vermarktungsstrategie respektiert. In kurzer Zeit hat die Gegenwartskunst eine Vielfalt an Stilen und Mitteln, an Gattungen und Formen, an Theorien und Methoden hervorgebracht, ist erklärungsbedürftig geworden und nicht einmal mehr für Experten überschaubar, weshalb zu ihrer Beurteilung alle mit der Kunst befassten Menschen gehören wie Sammler, Galeristen, Museumsdirektoren, Kunsthistoriker und Philosophen, Kunstliebhaber, Künstler und Kuratoren.


Die Gegenwartskunst ist ein gesellschaftlicher Diskurs. Das Schaffen und Genießen ihrer Werke kann Freude und Ruhe hervorrufen, doch auch nachdenklich machen und schockieren. Sie hat das Potenzial, gegen jeden Missstand anzutreten, sich Gehör zu verschaffen und sogar Veränderungen zu veranlassen. Doch wenn ihre erfolgreichen Vertreter mit ihren Werken zur Austauschbarkeit und Einförmigkeit der Warenwelt in Opposition treten, verdienen sie dennoch gut am Warencharakter ihrer Werke.


Die Gegenwartskunst ist ein persönlicher Diskurs, denn der Prozess der Demokratisierung und Individualisierung, den die Geschichte der Kunst offenlegt, wird fortgesetzt. Der Mensch erscheint nicht mehr nur als Individuum und unteilbare Ganzheit, sondern als Summe unterschiedlicher physischer und psychischer Elemente. Hier liegt die Stärke der Gegenwartskunst, die über Mittel verfügt, in Gefühle, Befindlichkeiten, Abneigungen und Sehnsüchte einzutauchen und diese anschaulich zu machen. Aber es geht auch, wie bei Mona Hatoum, hinein in den Leib, indem sie eine endoskopische Kamera durch ihr Innen fahren lässt und Mund, Hals, Magen und Darm durchleuchtet und dem Betrachter einen voyeuristischen Blick in fremde Eingeweide gewährt.


Da die Gegenwartskunst keine Grenzen kennt, ist oft spektakulär und kann Museen und Städte zu avantgardistischen Anziehungspunkten machen. In das Guggenheim Museum-Bilbao von Frank O. Gehry kommen von den jährlichen Besuchern über eine halbe Million aus dem Ausland. Ziel ist das aufsehenerregende Gebäude, die darin enthaltene Gegenwartskunst und die Stadt selbst, die kulturell beschenkt wurde. Wie viele andere Städte mit Museen der Gegenwartskunst, die zu Pilgerorten werden können und zu einem Wirtschaftsfaktor ersten Ranges.


Der persönliche und der gesellschaftliche Diskurs sind zwei wesentliche Pole der Gegenwartskunst.


 

5. Das Globale in der Gegenwartskunst


Kunst ist global geworden und auf vielen Wegen im Internet angekommen. Online-Rankings machen Künstler zu sportlichen Konkurrenten und zu Trägern von Marken, Online-Kunstauktionen oder die Plattform Art net verkaufen Kunst über das Internet, wie das Online Kaufhaus Amazon, das Kunstwerke bis zu einer Summe von 3,5 Millionen Euro anbietet.


Hans Belting ist das 19. Jahrhundert eine Epoche der nationalen Kunstgeschichte, das 20. Jahrhundert eine Opposition von Avantgarde-Künstlern gegen den Nationalismus, doch „im 21. Jahrhundert entsteht weltweit eine Kunst mit dem Anspruch auf globale Zeitgenossenschaft ohne Grenzen und ohne Geschichte.“ Und nun wird modern durch zeitgenössisch ersetzt.


In den weltweiten Biennalen als Schau regionaler und internationaler Werke zeigt sich die Globalisierung der Kunst und die Aufwertung peripherer Weltregionen. Weltkunst als Bestand der Kunst aller Kontinente macht deutlich, dass die Dominanz westlicher Kunst gebrochen ist. Umgekehrt greift der Kunstbetrieb im Westen mit Ausstellungen von Jam Nun Paik aus Korea oder Betsabee Romero aus Mexiko oder mit Performances von Michael Zheng aus China über die abendländische Kultur hinaus. Ralf Beil, Direktor des Museums Wolfsburg, fordert von seinen Ausstellungsmachern, dass die Ausstellungen politischer, weiblicher und globaler werden.


Ein Statement gegen Eurozentriertheit, Patriarchalismus und Politikabstinenz – drei bedeutende Merkmale der Gegenwartskunst.


 

6. Gegenwartskunst und Aufmerksamkeit


Die Epoche der Renaissance ist die Geburt des Individuums, das die Philosophie begründet. Nach George Berkeleys Solipsismus gibt es nur ein Bewusstsein – das eigene. Max Stirners Hauptwerk heißt: Der Einzige und sein Eigentum, Sören Kierkegaard sieht sich allein vor Gott stehen und Martin Heidegger sieht im Begriff der persönlichen Befindlichkeit – als Verstand und Gefühl – eine Basis für Erkenntnis.


Asiatische Kulturen wissen seit zweieinhalbtausend Jahren, dass die Befindlichkeit vom Zusammenspiel von Atmung und Muskulatur abhängt, das deshalb Objekt der Achtsamkeit und Basis der Erkenntnis ist, das in Übungen des Thai Chi, in der Lenkung des Atems im indischen Yoga und in buddhistischen Meditationen praktiziert wird. An die Erkenntnis hat die Antike Pneuma, Äther und Spiritus gebunden, also Seele, Geist und Atem. Die westliche Idee der Trennung von Körper und Seele hat die Einheit von Atem und Muskel aufgegeben. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Elsa Gindler zur Besserung des Wohlbefindens Atemübungen zur Selbsterfahrung entwickelt, die später Sensory Awareness genannt und als Kultivierung der Wahrnehmungsfähigkeit und der Sinnesbewusstheit definiert wurden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Mosche Feldenkrais und Friedrich Alexander zur Besserung des Wohlbefindens eine Muskelschulung entwickelt, um Einfluss auf Atmung und Bewusstheit zu nehmen. Der weise Weg liegt jedoch in der Kombination aus Atemtherapie und Muskeltechnik, die Übende zur Aufmerksamkeit anregt, deren Wohlbefinden verbessert und das Immunsystem stärkt.


Gegen Ende des Jahrhunderts werden die Techniken zur Förderung des Wohlbefindens durch Elemente der Kommunikation erweitert. Gewaltfreie Kommunikation, Systemische Therapie, Ambiguitätstoleranz, Compliance und Unsicherheitsabsorption verbessern das persönliche Wohlbefinden im Kontext von Kommunikation und Verantwortung. Die Aufmerksamkeit auf Atem und Muskel ist ein Innehalten und eine Förderung von Toleranz, Rücksicht und Gewaltaltfreiheit.


Drei Eigenschaften, die im Zustand fortgeschrittener Globalisierung hilfreich sind, da sie das Engagement für die eigene Person und für die Gemeinschaft fördern und das Gefühl dafür erleichtern, dass alle Menschen, trotz Verschiedenheit, Bewohner derselben Erde sind, und sich für das große Haus ebenso wie für das eigene Heim verantwortlich fühlen.


Die Gegenwartskunst kann den Menschen aus Apathie und Phlegma herausführen und anregen, schöpferisch und aufmerksam zu sein, was den Performances – in denen Künstler und Werk eins sind – oft gelingt. Sie sind situationsbezogen, handlungsbetont und vergänglich – und doch gerade ganz aufmerksam im Hier und Jetzt. Im Augenblick der Aufmerksamkeit liegt die Chance zum Aufbruch ins Persönliche, Globale, Utopische. Das wäre dann eine neue Kunstepoche.



© Hajo Eickhoff 2016


 



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