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aus: Lisa Stybor, Der innere Ort des Raumes. Lisa M. Stybors rote Landschaften, Berlin 2001




Der innere Ort des Raumes

Lisa M. Stybors rote Landschaften


Welt ist ein Innen ohne ein Außerhalb. Was entsteht, wird in die Welt, das Ausgedehnte hineingezogen. Das Ausgedehnte ist eine wesentliche Form des Seins; Raum eine auf den Menschen bezogene Form des Daseins. Lisa M. Stybor spürt den Gründen von Ausdehnung und Raum nach. Das sind Vermögen wie Schwingungen und Kräfte, immaterielle, elektromagnetische und atmosphärische Ströme und Potentiale. Für ihre Landschaftsbilder geht sie mit einer spirituellen Haltung in eine Region hinein und auf ein Gelände zu, sucht nach geeigneten Orten und macht sie als innere Ordnung des Ausgedehnten sichtbar. Ihre Arbeiten entstehen in der Gegenwärtigkeit aller Sinne durch einen unkonventionellen Blick auf das Leben. Wenn sie die Landschaft durchstreift, bevor sie in ihr steht und vor ihr zu malen und zu zeichnen beginnt, durchstreift sie auch die eigene, die innere Landschaft. Das Entstandene ist geschriebener Raum und eine Ahnung vom Kosmos, das an die Kalligraphie, die Schönschreibkunst, und an die chinesische Malerei des dreizehnten Jahrhunderts erinnert, in der die Materialität einer Landschaft bis zur Unkenntlichkeit zurücktreten kann.

 

Archaische Menschen leben im Kosmos. Sie kennen keinen Raum. Kosmos ist Sinn und Ungeschiedenheit, ist unreflektierte Fülle und Nichtraum. Ihr Dasein findet zwischen Erde und Himmel statt, die beide nicht räumlich vorgestellt werden, denn auch Dasein und Ausdehnung sind noch ungeschieden. Was aber ist Raum?

 

Raum ist ein Einbruch in die Natur. Ein Keil. Ein Bruch in ihrer Geschlossenheit und Kontinuität durch den Eingriff des Menschen. Eine durch den Menschen und für ihn konstruierte und gestaltete Umwelt. Ein Stück Kultur, ein Stück fremd gewordene und abgelegte Natur. Raum entsteht mit der seßhaftwerdung des Menschen, mit der eine Entweihung des Kosmos einsetzt. Was Raum und Kosmos übergreift und gemeinsam ist, sind Dehnung und Ausgedehntheit. Wo der Mensch beginnt, die Natur zu kultivieren und ihr seine Form aufzuzwingen, und wo er die eigene Vorstellung vom Dasein realisiert und in die Natur einräumt, entsteht Raum. Durch ihn tritt er aus der Natur heraus, hinein in eine selbstgemachte Welt. Raum ist Menschenwelt und das Andere zur Natur. Um einen Lager- und Siedlungsplatz herzustellen, muß der Mensch in der Natur eine Leere schaffen. Der Boden muß zugerichtet werden: er wird gerodet und die Vegetation an der Stelle mit den Wurzeln ausgerottet. Die Fülle weicht der Leere, die Vegetation dem Baugrund, die Natur der Kultur. In diese Leere hinein baut der Mensch, in sie läßt er seine Kultur einströmen.

 

Der erste Raumbau ist das Haus. Eine Enklave in der Natur. In diese, in die Natur eingeklemmte, künstliche Lebenswelt richtet sich der Mensch ein, in ihr läßt er sich nieder und wird seßhaft. Die Leere ist eine Lücke, ein umschlossener Hohlraum, in der er seine Raumexistenz beginnt. Dieser domestizierte Daseinsbezirk ist das konzentrierte Bild für Schutz und kultivierte Existenz, in dem der Mensch sich bewußt bewegt und wahrnimmt. Das Urbild des Raumes ist das Haus, dessen Entstehung den Anfang der Selbstreflexion bedeutet. Vom Haus aus gliedert der Mensch umliegende Bezirke in weitere Räume zu einem vielschichtigen Gefüge. Das Ungegliederte des Alls wird Stück für Stück segmentiert und geöffnet, bis das Ganze, das Universum, verräumlicht ist.

 

Der Kosmos ist eine Ordnung unterschiedlicher Intensität und Dichte. Die größte Dichte und den höchsten Wert besitzen heilige Bezirke und die mythischen Orte der Utopie. Wo dagegen der Kosmos als Gefäß aufgefaßt wird, verlieren sich die Unterschiede. Das Dasein wird zum bloßen Aufenthalt und der heilige Ort wird eins mit dem ungeweihten Umkreis. Kosmos und Raum fassen den Menschen unterschiedlich ein und geben ihm neben der äußeren eine jeweils charakteristische geistige und seelische Verfassung, die Befindlichkeit, in der er seinen Ort findet.

 

Raum ist eine Möglichkeit des Seins. Ein Medium der Kommunikation und der
Entwicklung, durch das Menschen in besondere Austauschverhältnisse treten. Als Existenzbereich müssen sowohl Raum als auch Kosmos frei sein vom Stoff Erde, denn Lebewesen selbst sind Stoff und haben Ausdehnung. Die Erde als Materialkugel ist keine Lebenswelt, da diese die Abwesenheit fester Materie voraussetzt, das Jenseits und das Außerhalb der Erde. Lebenswelt ist Leben gebende Nahrung wie Luft, Hauch und Atem, aber auch wie Anima, Aura und Seele.

 

Natur ist der unmittelbare Lebensbereich des Menschen vor der Häuslich-werdung. Sie ist Flora und Fauna, Gelände und Atmosphäre. In ihr lebt er, sammelt Früchte und jagt Tiere. Sie ist das Terrain, auf dem sich das Leben abspielt als Folge von Entstehen, von Leben und Gedeihen und von Sterben und Leben. Wie der Raum hat auch das Gegebene und Geborene, Natur – natus heißt geboren – eine Geschichte. Im evolutionären Erkaltungsprozeß der Erde ist aus der unbelebten eine belebte Natur, die uns erscheinende Oberfläche der Erde hervorgegangen. In dieses Gegebene ist das spät entstandene Lebewesen, der Mensch, gestellt, dessen Existenz dem Antagonismus der natürlichen Reproduktion und kulturellen Verwirklichung unterworfen ist. Ist Natur das unmittelbar Vorgefundene, ist Raum das Mittelbare, das von Menschen Gemachte. Vom Raum aber gibt es keine Definition, denn sie könnte nur auf Begriffe zurückgehen, die bereits eine Anschauung von Dehnung und Ausgedehntheit voraussetzen. Lisa M. Stybor versucht in ihrer künstlerischen Arbeit dennoch eine Bestimmung von Ursprung, Raum, Geschichte und Kultur, als würde sie die Erinnerungsspuren des auf den Raum verengten Kosmos und der zur Kultur gewordenen Natur einfangen.

 

Mit dem Relief der Erdoberfläche und der Atmosphäre sowie den Kräften zwi-schen den einzelnen Gestaltungen und Ordnungen beschäftigt sie sich in ihren Landschaftsbildern. Für ihre Arbeit taucht sie selbst ein in Räume, erfährt und erändert sie und macht die originären und lebendigen Kräfte wahrnehmbar.

 

Landschaft ist gezähmte und gefügig gemachte Natur. Sie ist, wie die Stadt, eine durch Seßhafte hervorgerufene Gestaltung der Oberfläche der Erde, die auf gefestigten und geordneten Wegen betreten wird und auf der die Seßhaften ein domestiziertes und ziviles Leben führen. Obwohl unmittelbar auf den Menschen und seine Kultiviertheit bezogen ist Landschaft seine naturhaft erscheinende Umwelt.

 

Seßhafte unterwerfen das Reich der Tiere und Pflanzen sowie Landstriche und die Lufthülle permanenten Veränderungen, in denen Natur zu Landschaft domestiziert wird. Ursprünglich bezeichnet der Begriff Landschaft im Abendland eine rechtliche Institution der Gemeinschaft aller Lebewesen in einer Region. Infolge der kulturellen Umwälzungen bezieht er sich später nur noch auf die soziale Oberschicht, im dreizehnten Jahrhundert auf die Lantherren, im Spätmittelalter nur noch auf regierende Lantherren, bis der Begriff in der Renaissance das mögliche Feld der Betätigung meint, aus dem sich der Mensch zurückgezogen hat. Er hat sich von der Landschaft emanzipiert, die nun als ein Fremdes vorgestellt und betrachtet werden kann. Solange er in der Natur lebt und arbeitet, sieht und malt er keine Natur, so daß sich die Stadt als soziologischer Ort der Naturbetrachtung erweist. Dasselbe gilt für die Landschaft. Für ihre Betrachtung wie für ihre Abbildung, die als eigenständiges Thema ein Interesse an der Distanz zur Natur voraussetzt. Landschaft ist das Andere zum Menschen, insbesondere zum Stadtmenschen. Weder ist sie Natur, noch in der künstlerischen Wiedergabe deren Abbild, sondern gemalte Landschaften sind Fragment und interpretierte, auf ein beobachtendes Subjekt bezogene Ausschnitte kultivierter Natur, die zum Werkzeug der Erkenntnis werden können.

 

Landschaft ist das ästhetische Jenseits der Stadt. Wie Land und Stadt sind Landmensch und Stadtmensch entgegengesetzte, eigenständige Charaktere. Landschaftsmalerei ist eine Leistung bürgerlicher Individuen. Mittelalterliche Gemälde bilden keine Natur ab, sondern ein Goldgrund umfaßt die heiligen Gestalten und Ereignisse und verleiht den Werken selbst die Aura geweihter Objekte. Der Goldgrund wirkt flächig und behindert die Darstellung von Raum, erweist sich potentiell aber als der Ort, an dem Raum und Naturelemente im Bild entstehen, denn in der allmählichen Auflösung des Goldgrundes seit dem Spätmittelalter bilden sich auf ihm Elemente, die bis zur Renaissance den Goldgrund verdrängt, die Darstellung von Raum und Landschaft zu einem zentralen Bildmotiv gemacht und eine eigenständige Landschaftsmalerei etabliert haben.

 

Die Darstellungsweise der Landschaften von Lisa M. Stybor ist ein Gerüst aus Strich und Lücke. Rote Striche und frei gelassene Flächen. Sie abstrahiert von Gegenständen, Menschen und Tieren, sieht ab von Gegenständlichkeit und ist doch eine Darstellung vegetativer Formen und Geländeformationen wie Winkel und Knick, Hohlweg und Passage, Tal, Bergrücken und Schlucht. Mit der abstrakten und zugleich akzentuierten Wiedergabe des Reliefs der Erdoberfläche stellt sie zwischen Natur, Stadt, Landschaft und Kultur Erinnerungsrelationen her, die die innere Struktur einer lebendigen Natur und die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Kraft und Gegenwart ausdrücken. Ihre Landschaften erscheinen archaisch und lebendig, das heißt als historisch aus der Natur entstandener Raum und zugleich als Kosmos. Der Mensch als praktischer und geistiger Urheber der Landschaft ist anwesend, obwohl er in seiner Leibhaftigkeit abwesend ist. Beides macht einen Reiz der Arbeiten aus: Die Natur ist nicht da, sondern Landschaft, und doch anwesend, der Mensch abwesend und doch da, weil er der Betrachtende ist, der Auswählende, der Nachfühlende, der Reflektierende. Es ist der anwesende Blick, der die Orte lebendiger Potentiale findet. Unter dem Gerüst liegt ein Bedeutung tragendes Netz, das augenscheinlich eine Landschaft wiedergibt, sich grundlegend aber auf den Kosmos bezieht und gedeutet werden kann als Ablagerung der Kultur, Energie der Vegetation und Ursprung der Natur. Insofern sind die Arbeiten Ideen von Landschaften, Erscheinungen und Gestalten von Urbildern, Bilder der Natur. Das Aufdecken und Sichtbarmachen der Bedeutung in und unterhalb der Form gründet in einem Wissen, im Gesehenhaben – von dem sich Idee herleitet – eines Unsichtbaren. Das Rot der Landschaften von Lisa M. Stybor fungiert als Form. Als Raumform, nicht als Farbe. Es erweist sich als ein moderner Goldgrund und eine gegenwärtige Darstellungsweise des Heiligen, die noch hinter das Gold zurückgeht, denn der mittelalterliche Goldgrund ist rot unterlegt.

 

Das Faszinierende ihrer Arbeiten liegt in der Reduktion und der Genauigkeit, die ihre Ästhetik bestimmen. Indem Lisa M. Stybor nur Elemente verwendet, die notwendig sind, um Ausdehnung und Raum darzustellen, bleibt die Anzahl der sich unterscheidenden Elemente gering: aufgebaut aus Strichen, den zwischen ihnen liegenden Lücken und dem Rot. Erhöht wird die Reduktion, wenn ein charakteristischer Ausschnitt für eine Landschaft steht, die Bildfläche ein schmales Band ist oder wenige Striche eine Landschaft zitieren. Wie weit kann die Reduktion reichen, um das Wesen dessen noch darstellen zu können, in dem sich Dasein ereignet? Wie kommt man aus der Tiefe so in die Fläche, daß sich in ihr Merkmale zeigen, die im realen Raum nicht wahrgenommenen werden? In dem, was wir Raum nennen, ist eine We-senheit als Grundlage für die Entstehung allen Seins eingeschlossen, von dem sich eine Ahnung einstellt, wenn die Minimierung auf das Wesentliche gelingt: auf eine Ordnung aus Form und Inhalt, eine Überlagerung aus Rhythmus und Kraft, die die Unmittelbarkeit und das Erleben vergegenwärtigen. Die Landschaftsbilder erscheinen gleicherweise als Bilder von atmosphärischer, spiritueller und auratischer Dehnung, Orte, an denen sich Besonderes und Wesentliches ereignet. Die gelungene Reduktion legt keinen Kern, sondern ein Gerüst als Form und ein Netz als Bedeutung frei.

 

Städte sind der steinerne Lebensbereich Seßhafter. Von Mauern umgebene, geometrisch geordnete Kunstwelten aus Häusern und Plätzen, gesellschaft-lichen Einrichtungen und Wegen. Aus ihnen ist Natur verschwunden oder Chiffre. Die Stadt ist die künstliche Plattform, von der aus Menschen die Natur weiter zurückdrängen und in Landschaft und Stadt verwandeln, in das, was der abstrahierende Geist zurückläßt. Das Ideal der Lebenswelt für den modernen Menschen ist die Stadt, ein Ort der Exaktheit, der Ordnung und der Rationalität. Seine Sehnsucht aber ist die Natur geblieben, die sich im Spiel, im Gefühlsleben und im Abenteuer zu erkennen gibt.

 

Lisa M. Stybor spürt den irdischen und kosmischen Energien nach, die in der Haut der Erde ihren Ausdruck finden, die auf das Denken, Fühlen und Verhalten des Menschen einwirken und die in Bergen und Flüssen, im Bewuchs und im Klima, in den Lebewesen einer Region, in der Stellung der Gestirne sowie in den realen und mythischen Kräften eines Ortes vorübergehend zur Ruhe kommen.

 

Über dem Relief der Erdoberfläche – der Haut aus Bäumen und Blumen, Wäldern und Büschen, Flußläufen und Seen, den wachsenden, bewegten und weithin sichtbaren Elementen, zwischen denen Mensch und Tier leben – dehnt sich die Lufthülle zur Atmosphäre. Die Atmosphäre, ein flüchtiges Element wie Atem oder Pneuma, erhebt sich über dem Grund, mit dem sie die materielle Grundlage des Lebens bildet. Ihre wechselseitigen Einflüsse unterliegen einer langen und faszinierenden Geschichte.

 

In Jahrmillionen hat sich die äußere Schale der Erde zu einer unendlich fein
abgestuften Humusschicht entwickelt, Wasser freigegeben und mit der Lufthülle Leben hervorgebracht. Das rote Feuer der Sonne und das Grün der Wasserpflanzen brachten die Atmosphäre hervor und die Sonne sorgte für einen Austausch zwischen Erde, Wasser und Luft. Im Wasser entwickelten sich einfache Lebewesen, in der Erde Mikroben und Bakterien, die den Boden belebten, bis er zu einem durchlässigen Geflecht aus Mineralien, Feuchtigkeit und Kleinstlebewesen wurde. Nach der Bildung einer Ozonschicht konnten Pflanzen und Tiere ihr Element verlassen, den Erdboden erobern und ihn mit Leben bedecken.

 

Das Klima schließt alle vier Elemente zusammen. Die Wärme der Sonne verursacht Wasserdampf und bildet den Antrieb für die Zirkulation der Luft: Der Wind verstreut Blütenstaub und Samen, verteilt durch Wolken Regen über die Erde und die Gefälle führen Regenwasser und das Wasser der Quellen in Flüssen durch die Kontinente. Das Pflanzenreich liefert Früchte und ihr grüner Anteil absorbiert Wärme und versucht, die Atmosphäre von Elementen freizu-halten, die den Haushalt der Erde destabilisieren. In all den Interaktionen und Umwandlungen bewahren das Rot der Sonne und das Grün der Vegetation die steuernde Mitte.

 

Das Rot der Landschaften von Lisa M. Stybor hat einen Bezug zum Orange der Sonne, zum Braun der Erde und komplementär zum Grün der Vegetation. Grün kommt von wachsen (grünen) und gedeihen. Weckt es Vorstellungen an das Wachsen, zerstört das Rot der Landschaft diese Erwartung, potenziert aber auf einen zweiten Blick Wachsen als Gedeihen und Grünen und verbindet es mit den Oppositionen Verharren und Sterben. Gedeihen und Lebendigkeit der Vegetation werden nicht in ihren bekannten Assoziationen, sondern in ihrer verborgenen, inneren Ordnung wiedergegeben. Da die Verwendung desselben Rot nur eine Helligkeit hat, gibt es keine Abschattungen und Helligkeitsunterschiede und somit keine Tiefe. Und da das gleichmäßige Rot wie der Goldgrund flächig wirkt, müssen die Elemente in äußerster Präzision gesetzt werden, damit sich das Erscheinungsbild einer gedehnten, einer struppigen und lebendigen Natur ergibt.

 

Lisa M. Stybor verwendet das Rot in ihren Landschaften als Teil der Form. In dieser Funktion verbindet es die Elemente zu einer Gesamtgestalt, durch die eine neue Darstellungsweise des Ausgedehnten, eine neue Raumvision gegeben wird, in der das Rot die Mitte der Oppositionen von Bewegen und Verharren, Geborenwerden und Sterben, Dynamik und Stille bildet und das Dargestellte als unmittelbare Ausdrucksform des Seins erscheinen läßt, an das jede Ausdehnungsform gebunden ist.

 

In den Mythen hat Rot einen ambivalenten Sinngehalt. Es gilt als aggressiv,
kraftvoll und vital, verbindet sich aber auch mit dem Verblühen der Vegetation, dem Herbst, und dem Tod. Neandertaler bestreuten ihre Bestatteten mit Eisenrost, dem Eisenrot, und Höhlenmalereien entstehen oft mit Rötel, dem Eisenoxid oder Rost. Im antiken Unterägypten ist die Macht repräsentierende Krone rot, aber auch der als feindlich gesinnte Gott Seth und die Schlange Apophis. Beide Namen werden auf den Papyri, den in die Mumiensärge gelegten Schriften und Gebeten, die im Ägyptischen Totenbuch gesammelt sind, mit roter Tinte geschrieben. Rot symbolisiert Jesus Christus und das Opferblut gleichermaßen wie Satan und das Innere der Hölle. Ausgehend von den negativen und positiven Wirkungen der Sonne und des Feuers für das Dasein des Menschen werden dem Rot zerstörerische wie aufbauende Wirkungen zugeschrieben. Allein der Karfunkelstein genannte Rubin der Märchen und Sagen ist nur positiv besetzt. Der rote Stein wirke gegen Schiffbruch, sei Zeichen königlicher Würde, helfe gegen Melancholie und schlechte Träume und sei ein Kennzeichen für Lebenskraft.

 

Die Landschaften als Gerüst aus Strich, Rot und Lücke bilden keine fest umrissenen, geschlossenen Linien, die Konturen schaffen, sondern sind abstrakte Zeichen wie Musiknotationen und Schrift. Jeder Strich hat seine Eigenständigkeit, erweist sich aber ebenso als ein notwendiges Element der Gesamtkomposition. Die Landschaften werden aus ihrem Wesen heraus entwickelt: dem Rhythmus der Verdichtungen, dem Intervall von Fülle und Leere, und der Anwesenheit und Abwesenheit von Kosmos und Raum. Der physikalische Raum und die geometrische Perspektive sind aufgelöst, stellen aber das Abstraktum und den Extrakt einer Landschaft dar, das in einer tieferen Schicht des Bildes – im antagonistischen Spiel von Form und Inhalt und von Gerüst und Netz – eine Raumgestalt hervorbringt, die frei von Nebensächlichkeiten ist und Orte der heutigen Zeit darstellt, ausgestattet mit einer Aura des Archaischen und Heiligen. Es handelt sich um Räume, die kein Außerhalb haben und in einer Vision das Archaische mit dem Zukünftigen verbinden. Ihre Tiefe ergibt sich aus der Schichtung von Perspektive, Gefühl, Kraftfeld und Bedeutung.

 

Die Wiedergabe räumlicher Tiefe auf einer Fläche ist das Ergebnis einer bestimmten kulturellen Entwicklung. Archaische Kulturen, aber auch Hochkulturen wie das antike Ägypten und das abendländische Mittelalter, haben keine perspektivische Raumdarstellung ausgebildet. Am Anfang der bildenden Kunst standen das Semantische und das Heilige, nicht die Perspektive oder die technische Klugheit der Naturwissenschaft. Die Maler der Renaissance müssen sich diesen Blick erst aneignen. Die ersten Raumdarstellungen staffeln Szenen statisch hintereinander und lassen die Figuren mit wachsender Entfernung kleiner werden, so daß die Bildräume Tiefe nur vortäuschen. Erst allmählich entwickeln sie praktische und geistige Mittel, einen kontinuierlichen Tiefenraum zu erzeugen. Die Arbeiten von Lisa M. Stybor folgen dem Prinzip der inneren Beschaffenheit von Räumlichkeit. Ihre Arbeitsweise gleicht der der Archäologen: Graben und Schürfen, Freilegen und Zuordnen, bis sich eine tragende Struktur aus Details und einer Idee vom Ganzen einstellt. Leichte, schwebende und freie Gebilde, wie materielos. Keine Verankerung in geometrischen und physikalischen Dimensionen, keine geschlossenen Formen. Ohne Bindung hängen die Elemente frei im Bild, gehalten von einem Gerüst und dem unter ihm liegenden Sinn. Diese nackte Struktur ist das faszinierend Moderne: wie Netz und Chip und das Digitale Ja oder Nein des Strichs.

 

Methoden sind Wege. Wege des Lernens, Erkennens, Verfertigens und Wissens. Nachwege: meta (nach) hodos (Weg). Sammler und Jäger sind auf den Füßen unterwegs. Da ihre Wege immer wieder verschwinden, können sie ihnen nicht nachgehen. Sie sind weise. Methoden entstehen erst mit dem Anlegen von Wegen, Straßen und Plätzen. Lisa M. Stybors Arbeit beginnt mit Wegbereitungen. Eine Reise in die Ferne und dort von einem festen Ort aus auf Wegen hinein in die Landschaft, dann der Weg von Außen nach Innen: die Aufnahme der Landschaft durch die Sinne und ihre Verarbeitung. Am Ende der Nachweg, von Innen zurück nach Außen als Übertragung auf den Mal- und Zeichengrund.

 

Jedes Gelände hat seine eigene Charakteristik: das Klirren der Kälte und das Vibrieren der Wärme, die durch den Flug eines Vogels in Schwingung versetzte Luft, der Bäume und Büsche bewegende Wind, die an Berg und Stein arbeitende Witterung, die Welt der Pflanzen und Tiere und das durch Menschen veränderte Gelände. All das erscheint in den Landschaften von Lisa M. Stybor einerseits als Struktur, andererseits als Feld miteinander streitender, bedeutender Kräfte. Wenn die Struktur zurücktritt und unräumlich, Utopie wird, rückt die Bedeutung in den Vordergrund.

 

In ihren Arbeiten destilliert sie das Ausgedehnte aus der Landschaft heraus und bereitet den Weg zu den Kräften der Vegetation und den Regungen der Empfindsamkeit. So wie der Mensch mit Hilfe seines Verstandes und seiner Hände aus der Natur Landschaft formt, so verwandelt sie diese zurück in eine Idee: in ein Unantastbares, ein Abstraktum, ein Bild von der Natur, in dem Leben als Verwurzelung, Hingabe und lebendige Bewegung verarbeitet ist. Die Abstraktion hebt die Landschaft aus der kulturellen Abhängigkeit heraus, potenziert sie und macht sie zu einem eigenen Wesen. Idee, Geist und Abstraktum werden zu einem Heiligen, wenn alle Stufen des Konkreten und der Disziplin durchlaufen werden. Der Abstraktionsvorgang, der einem geweihten Akt gleicht, und in der die Künstlichkeit der Kultivierung einer Lebendigkeit weicht, beginnt mit der Einfühlung in die Besonderheit eines Geländes: wahrnehmend, den Naturerscheinungen hingebend, meditierend. Lisa M. Stybors Landschaften entstehen aus der Ruhe und der Stille, aus der Meditation heraus und wirken selbst wie ein meditierendes, in sich ruhendes Wesen, dessen Intensität im radikalen Rückzug entsteht. Nur so kann die Ordnung eines Geländes und seiner Gesten über die Gesten des eigenen Körpers – das Malen und Zeichnen – und das Deuten durch den Geist und das Wollen auf ein anderes Medium übertragen werden. Ihre Landschaftsbilder sind empfundene Landschaften.

 

Weder Ding und Pflanze, noch Gebäude, die Ausdehnung konstituieren könnten. Der Zusammenhang, das Phänomen eines Gerüstes, in dem sich bildhaft das Dasein ereignet – das in dem Moment Dehnung und Ausdehnung annimmt –, entfaltet sich in der Genauigkeit, mit der die Elemente gesetzt, gezogen, gemalt sind. Der Ursprung des Seins wird so erkennbar als Herkunft aus der energischen Kraft des Vegetativen und Lebendigen. Lisa M. Stybors Landschaftsbilder sind Selbsterkenntnis- und Erkenntnislandschaften.

 

Keine Umrisse, keine Silhouette, keine festen Orientierungspunkte durch Objekte. Die roten Landschaften sind spirituelle Landschaften ohne jede Dinglichkeit. Kein Baum und kein Weg, kein Mensch und kein Haus, die in Linien gesammelt, fixiert und bestimmbar wären. Keine Wege und nichts von Menschen Errichtetes. Nur Andeutungen von geologischen und vegetativen Gestaltungen, verbunden zu einer universellen Form. Diese Reduktion, dieses Nichts radikalisiert das Dargestellte und macht es zu anschaulichen Formen der Meditation und Spiritualität. Beim Betrachten fügt sich das Dargestellte und Angedeutete methodisch auf dem umgekehrten Weg zusammen, bis die Elemente wahrnehmbar werden, von denen abstrahiert wurde, und sich als Darstellung von Kosmos und Natur zu erkennen geben und wie hingehaucht erscheinen und doch kraftvoll sind, vital und wuchernd. Lisa M. Stybors Landschaftsbilder sind Prosalandschaften. Sie sind direkt und zeigen das Notwendige ohne Schwere, sind gegenstandslos, leicht und flüchtig wie Atem, Aura und Pneuma.



© Hajo Eickhoff 2001


 



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