aus: Honold, A./ Joch, M., Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen, Würzburg 1999
Thomas Bernhard hat in seinen Romanen eine Theorie der Disziplinierung entwickelt, die ein Gerüst seiner Romane bildet. Sie kann an der Befindlichkeit, den Äußerungen und dem Verhalten seiner Romanhelden abgelesen werden. Disziplinierung ist ein Mittel, das Kultur erzeugt. Es formt Seele, Körper und Geist des Menschen und gibt ihm eine kulturelle Form.
Der Mensch ist ein Kulturwesen. Anders als das Tier muss er sich für einen Lebensweg entscheiden. Jede Entscheidung ist ein Urteil, in dem sich eine Gemeinschaft auf eine besondere Art zu leben festlegt. Entscheidungen schließen Wege aus und verkleinern das weite Feld möglichen Handelns, Denkens und Fühlens. Die Menschen sind unterschiedliche Wege gegangen. Wie ein Vergleich der Abendländer etwa mit den australischen Aborigines oder den im brasilianischen Urwald lebenden Yanonami zeigt. Jeder kulturelle Schritt reduziert die Wildheit des Menschen und bringt eine Zunahme der Unterscheidungsfähigkeit hervor, die Kontrolle, Beherrschung und Konzentration einerseits fordert, andererseits fördert. Kultur stülpt sich über die Natur des Menschen, überlagert und modifiziert sie. Kultivierung ist ein Prozess der Wissensvermehrung, zunehmender Abstraktion und der Vergeistigung. Die einzelnen Stufen der Disziplinierung sind Stufen einer inneren Beruhigung, in denen die Art der Lebensbewältigung zum Ausdruck kommt. Ihr Höhepunkt ist das Setzen auf den Stuhl. In der Disziplinierung werden die rohen Körperkräfte kanalisiert, gebunden und verfeinert. Sie ist aber auch ein ambivalenter Vorgang. Zum einen, weil die Sinne nicht nur geformt, sondern auch spezialisiert und in der Spezialisierung gehemmt werden und die Gefahr besteht, dass lebensnotwendige Eindrücke nicht mehr empfangen werden und der Mensch in seinem sozialen Handeln und Empfinden brüchig wird. Zum anderen, weil mit dem Wachsen der Beruhigung die Nervosität des Organismus zunimmt. Die Heranwachsenden werden auf das Maß der Diszipliniertheit einer Kultur vorbereitet. Das geschieht in der Initiation und der Erziehung durch körperlich fühlbare Maßnahmen. In der Initiation werden die Initianden unmittelbar verletzt, durch Ritzung der Haut oder durch Beschneidung, die Schüler vermittelt in der Erziehung, indem ihnen strenge Körperübungen auferlegt werden.
Zunächst gestalten die Menschen ihr Leben in einer naturhaften Umgebung. Unmittelbar und ohne Geräte. Später entlassen sie Vorstellungen und Ideen in Gestalt von Werkzeugen und Objekten nach außen. Vier Etappen der Entäußerung lassen sich unterscheiden, Etappen der Disziplinierung. Sie sind gekennzeichnet durch das Haus, die Stadt, die Schule und den Stuhl und stellen große Einschnitte in der Entwicklung des Menschen dar, für den sie gravierende Eingriffe in seine Befindlichkeit sind. Disziplinierung steht für eine enge wie für eine weite Formung. Einmal bedeutet sie allgemein die Formung des Menschen durch die Kultur, einmal die besondere Formung durch die Institution Schule. Die Bindung an das Haus, den Domus, hat den Menschen domestiziert. Das Haus ist ein von ihm geschaffener Ort, ein Kosmos im kleinen. An die Gegebenheiten dieser neuen Einrichtung muss er sich anpassen, indem er die langen Wege des Jagens und Sammelns in kurze Wege und kleine Gesten des Anbauens und der Häuslichkeit umwandelt. Die großen Körperkräfte werden herabgesetzt und Muskulatur und Atmung, entscheidende Organe zur Gestaltung von Kultur, werden den Erfordernissen des begrenzteren Territoriums angepasst. In der zweiten Entwicklungsphase der Disziplinierung, in der der künstliche Bereich, den des Haus darstellt, geweitet wird, entsteht die Stadt. Die Stadt oder die Civis zivilisiert den Menschen. Haus und Stadt sind kulturell geschaffene Lebensräume. Dem Territorium der Natur vergleichbar bilden sie ein künstliches Territorium, innerhalb dessen sich eine systematische Erziehung etabliert, wie im Gymnasion der Griechen, in dem das Erworbene gefestigt und die Kultivierung beschleunigt wird. Sie ist die Disziplinierung im engeren Sinn. Der Schüler, lateinisch discipulus, wird in der Schule diszipliniert, indem Atmung und Muskulatur systematisch ausgebildet und der Selbstkontrolle unterworfen werden. Der vierte große Kultureinschnitt ist das Sitzen auf Stühlen. Beginnend mit der Neuzeit hat es sich in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als bürgerliche Haltung etabliert. Stuhl, Sitz oder Sedile sedieren den Menschen. Wenn der Mensch den Stuhl erfindet, ist er bereits domestiziert, zivilisiert und diszipliniert und hat in sich ein hohes Maß an Beruhigung und Vergeistigung gefestigt. Im Sitzen ist ein vorläufiger Prozess der Disziplinierung, der sich als Prozess der Sesshaftwerdung herausstellt, abgeschlossen.
Jede der Entwicklungsstufen hat den Menschen in eine neue Phase der Existenz gestoßen. Die Prozesse haben ihre Logik, aber sie verlaufen unbewusst. Die Logik besteht darin, dass die in der Sesshaftwerdung enthaltene Disziplinierung stufenweise die Beweglichkeit des Menschen reduziert, nach und nach Atmung und Körperkraft herabsetzt, um ihn mit immensen Geisteskräften auszustatten, die ihn Arbeit rationeller, präziser und effektiver verrichten lassen. Diszipliniertheit kennzeichnet einen Zustand der Muskulatur und des Geistes. Die Disziplinierung des Körpers versetzt die Muskeln in die Lage, komplizierte Bewegungen auszuführen, die geistige Disziplinierung versetzt den Menschen in die Lage, mit komplizierten Gedanken operieren zu können. Wenn, wie in der modernen Welt, Disziplinierung den Menschen total erfassst und die Sinne in einem solchen Ausmaß spezialisiert werden, dass sie immer weniger zwischen Welt und Mensch vermitteln können, stellt sich Lebenssinn nicht mehr automatisch ein. Trotz immensen Wissens und gewaltiger technischer Errungenschaften steht der moderne Mensch sich und der Welt, die er beide selbst gestaltet hat, fremd und in Krisen ratlos gegenüber. Er hat seine disziplinierenden Kräfte unterschätzt, seine geistigen überschätzt und die spirituellen vernachlässigt.
Die zentrale literarische Figur in den Romanen Bernhards ist der Geistesmensch. In ihm verankert Bernhard eine Theorie der Disziplinierung und erweitert durch ihn die Entwicklungsfolge Haus, Stadt, Schule und Stuhl. Im Geistesmenschen fasst er die Bedingung der gegenwärtigen menschlichen Existenz und ihre Folgen zusammen. Geistesmenschen sind Maler, Musiker oder Wissenschaftler. Denker, die sich aus Abscheu von der Gesellschaft abgekehrt haben. Sie sind alte und kranke Männer, melancholisch, feindselig und verzweifelt, deren Grübeln um die Erlösung kreist. Im Geistesmenschen zeigt Bernhard, wie Natur und Kultur am Menschen arbeiten. Wie die Natur ihn grausam und verbrecherisch macht. Wie einerseits die Kultur die Natur verstärkt und andererseits der Geistesmensch mit den Kräften der Kultur, dem geistigen Vermögen, dem Verhängnis des Daseins entgegenarbeitet. Kompromisslos sucht der Geistesmensch nach dem Sinn des Daseins. Er findet ihn im Gegenentwurf zur Gesellschaft und zur Natur. Seine Erlösung liegt im Alleinsein. Um sich zu retten, entwirft er den Kosmos nach den Gesetzen des Schmerzes und der Melancholie. Der Geistesmensch ist ein Schema. Nicht das Bild eines Menschen. Eine Gestalt hat er nicht. Das Schema ist so gefasst, dass es Variationen des Geistesmenschen fassen kann. Nur das Charakteristische liegt fest. Obwohl der Geistesmensch einerseits den Massenmenschen, andererseits den domestizierten, zivilisierten, disziplinierten und sedieren Menschen verabscheut, geht er selbst noch einen Schritt weiter. Den Eingriffen in den Körper durch die vier sesshaft machenden Instrumente fügt er die Krankheit hinzu. Krank und sich disziplinierend entwickelt er ein großes Geistesvermögen. Er setzt die Prägung durch die Kultur bewusst an sich selbst fort und realisiert die Vorstellung des Menschen, ein vernunftbegabtes Wesen zu sein. Der Geistesmensch ist ein neuartiger Mensch. Eigentlich gesprochen ist er nur zeitgemäß, nur konsequenter als seine Zeitgenossen. Denn kulturell tut er das, was der Mensch schon immer tut, schon immer tun musste und auch getan hat: nämlich sich für eine Lebensform zu entscheiden. Der Geistesmensch arbeitet gegen die Erstarrung der Kultur unter den Bedingungen der Massengesellschaft, die den einzelnen geistig abstumpft. Dass der moderne Mensch, der Massenmensch die Entscheidungen für sein Dasein an die Technik abtritt, nimmt er zum Anlass, gegen das Vereinnahmtwerden, gegen Ideologie, Bevormundung und Abstumpfung einen Schutzwall aufzurichten: die radikale Geistesexistenz.
Die Domestizierung nutzt der Geistesmensch in der radikalen Abschließung. Er erneuert und potenziert seine Kultiviertheit, indem er sich in ungewöhnliche Räume und Gebäudekomplexe, den Denkbezirk, zurückzieht. Denkbezirke sind symbolische Räume. Krisenräume wie ein Krankenhaus, wie eine Strafanstalt oder ein geschützter, der Gesellschaft schwer zugänglicher Wohnraum. Es sind Räume der Einsamkeit und der Konzentration. Der Denkbezirk ist der Kosmos des Geistesmenschen, der in ihm das Leben ordnet und orientiert. Der Geistesmensch sucht Ruhe und hofft, im Denkbezirk die Angst zu bewältigen und eine wissenschaftliche Arbeit anfangen, weiterführen oder vollenden zu können. Wie der Industrielle im Roman Verstörung, der nur noch durch die Post mit der Außenwelt verbunden ist. Die Fenster seines Hauses sind verdunkelt. Im Arbeitszimmer duldet er nur Tisch, Stuhl und leeres Papier. Er will, vollkommen angewiesen auf sich selbst, niemals von seiner Arbeit abgelenkt sein. „Da alle Zimmer in diesem Haus vollkommen leer sind, kann ich in der Finsternis, die in ihm herrscht, an keinen Gegenstand anstoßen“, sagt er. Wächter halten Fremde vom Haus fern und haben auf seine Anweisung alles Wild in der Nähe erschossen. „Jetzt höre ich nichts mehr, wenn ich die Fenster aufmache, sagte er, nichts. Ein phantastischer Zustand.“[1] Der Isolationshaft vergleichbar und doch selbst gewählt. Die Konzentration auf die wissenschaftliche Arbeit, an der er fanatisch festhalten muss, wird durch die radikale Reduktion aller Sinnesreize gewonnen. Auf die Frage des Landarztes, ob er ihm den Sohn vorstellen dürfe, reagiert er entschieden: Nein, sagt er, „ich will ihren Sohn nicht sehen. Ein neuer Mensch, ein neues Gesicht, ruiniert mir alles.“[2] Die sitzende Tätigkeit, die kurzen Wege im Haus, die Reduktion der Sinneseindrücke auf das Notwendigste, die Zimmerluft, die Dunkelheit und die Abschließung von der Natur sind charakteristisch für das häusliche Leben. Die Häuslichkeit, die einst eine hohe soziale Dichte besaß und eine lebhafte Sinnestätigkeit hervorrief, weicht im Denkbezirk einer Einsiedelei. Den körperlichen Verfall, der sich aus einer solchen domestizierten Lebensweise ergibt, versucht der Industrielle notdürftig mit langen Spaziergängen zu kompensieren.
Die erfahrene Zivilisierung thematisiert Bernhard in seinen Romanen anhand des Verhältnisses von Land und Stadt. Städte bilden den Gegensatz zum Land und zur Natur. Die Hinwendung zur Stadt ist die Hinwendung zu Ordnung und Künstlichkeit und zu den sublimen Tätigkeiten des Menschen wie Musizieren, Malen und Schreiben. Das Stadtleben ist ein Leben gegen die Natur und ein Leben für den Geist. Im Roman der Der Untergeher wird Bernhards literarische Gestalt Glenn Gould als Ordnungsfanatiker dargestellt. Er liebt die Ordnung der Stadt, der Musik, der Logik und der Künstlichkeit und Kunst. Er ist ein Naturhasser. Ein weltgewandter Stadtmensch, der nur auf das Ziel hin lebt, Klaviervirtuose zu werden. Dem Ziel ordnet er alles andere unter. Er besitzt ein unbändiges Präzisionsstreben und kann sich mit großer Anstrengung und Ausdauer auf eine Sache konzentrieren. Er liebt die klare Definition und verabscheut das Ungefähre. Wiederholt sind Bernhards Protagonisten, wie Bernhard selbst, dem Widerspruch ausgesetzt, in der Stadt, der höchsten Künstlichkeit, leben zu wollen, auf Grund ärztlicher Empfehlung aber auf dem Land leben zu müssen. Aufgefangen im Denkbezirk und im Leben im Geist, aber fern aller Kunst.
Schule dient der Erziehung und Disziplinierung des Menschen. In ihr werden die Vorgänge innerer und äußerer Bildung erworben und etwas am jungen Menschen wird gebildet, geformt, festgehalten. Die Bildung formt ein äußeres Bild und hält es im Körper fest, und formt ein inneres Bild, und hält es im Geist und in der Seele fest. In discipulus und dem griechischen Wort scholé sind Bedeutungen für die Schule aufbewahrt. Von discipulus stammt Disziplin ab, das sich von discipere herleitet, das auf capere - fangen, fassen, aufnehmen - zurückgeht. Mit dem dis, das auf ein Trennen verweist, bedeutet discipulus ein geistiges Begreifen. Neben Schüler heißt discipulus geistig zerlegen. In scholé steckt échein, das Zurückhalten meint, insbesondere das Zurückhalten des Atems. Disziplin, gleich welcher Art, wird durch Atmung erzeugt, durch seine systematische Kontrolle. Die Atmung diszipliniert Körper und Geist der Schüler und passt sie an die Normen der Kultur an. Vitale Vorgänge wie Affekte und Gefühle zurückhalten zu können, ist die Aufgabe der Atmung zur Formung einer Kultur. Sie ist es, die körperliche Vorgänge kontrollierbar macht und den Menschen eine geistige Haltung, die ein Innehalten ist, gibt. Der Schüler lernt, von besonderen Vorgängen und Bewegungen des Leibes abzusehen, wodurch inwendiger Raum für die Konzentration auf geistige Vorgänge entsteht. Er lernt, sich auf die Verfolgung eines Gedankens zu konzentrieren, ohne sich von anderen Sinnesreizen ablenken zu lassen. Bis er die Ordnung eines abstrakten Stoffes erfassen und in ihm logische Operationen durchführen kann. Ein vom Körper distanziertes Denken ist ein vom eigenen Körper abstrahiertes, abgezogenes, also abstraktes Denken. Es bedarf nicht mehr der Anwesenheit eines Gegenstandes und scheinbar nicht mehr des eigenen Körpers. Der Geistesmensch, der, wie gegen alles, auch gegen die Institution Schule ankämpft, übernimmt aber, was der Schuldisziplin eine unbewusste Grundlage ist: Die Theorie kontrollierten Atmens.
Die Sedierung durch das Sitzen auf Stühlen treibt die Disziplinierung des Menschen weiter. Das Beruhigen in der Disziplinierung kommt im Stuhlsitzen wörtlich zum Ausdruck. Wie in anderen Sprachen basiert sitzen auf dem lateinischen Verb sedere, das sitzen und beruhigen heißt. Bernhard spielt auf diese Art der Beruhigung in der schreibenden Tätigkeit des Geistesmenschen oder in den an den Rollstuhl gefesselten Figuren, meist in den Theaterstücken, an. In den Romanen kommt es am eindrucksvollsten in Holzfällen vor, in der eine Abendgesellschaft vom Erzähler von einem Ohrensessel aus analysiert wird. Bernhard bezieht sich in zweierlei Hinsicht auf die Sedierung: als Negation des Sitzens in Spaziergängen, im gewohnheitsmäßigen Gehen wie im Roman Gehen oder auf Wanderungen. Oder aber als Abwehr im nervösen und rastlosen Auf- und Ablaufen sowie Hin- und Hergehen des Geistesmenschen. Das Stuhlsitzen baut die Vitalität des Sitzenden ab, fördert seine Neigung zum Kranksein und wirkt unmittelbar auf die Atmung. Die Atembeherrschung als Maß und Ausdruck von Diszipliniertheit wird in der Erzählung Am Ortler behandelt.
Auf einer Wanderung unterhält sich der Erzähler, ein Wissenschaftler, über die Bedeutung der Atmung für die Disziplinierung und über ihren Zusammenhang mit der Körperbeherrschung und der Beherrschung des Geistes, mit seinem Bruder, einem Akrobaten. „Wenn man die Atmung beherrscht, beherrscht man alles“[3], sagt der Akrobat. Die Atmungsschule ist die einzige Schule, die sie akzeptieren. Ihr Lernziel lautet: „Kopf, Denken, Körper durch die Atmung beherrschen“ und „allein die Beherrschung der Atmung zu der höchsten aller Künste entwickeln.“[4] Jeder Tätigkeit, jedem Gefühl und jedem Denken entspricht eine besondere Weise des Atmens. Wir beherrschen eine Handlung oder ein Denken erst dann, wenn wir die dazugehörige Atmung ausgebildet haben, was einen langen Prozess des Übens erfordert. Um ihr Tun zu vervollkommnen, haben sie ihre Anstrengungen immer wieder verdoppelt, das Kunststück und das Nachdenken immer wieder verbessert und auf die Spitze getrieben. Mit dem Atmen haben sie sich sogar gegenseitig beeinflusst. Je weiter der eine die Wissenschaft entwickelt, desto weiter kommt der andere mit seinen Kunststücken voran. Dabei hat der eine sein Atmen im Hinblick auf die Wissenschaft weiterentwickelt, der andere im Hinblick auf seine Akrobatik. In ihrer Arbeit haben sie das Höchstmögliche erreicht, weil sie das bestimmende Organ zur Körperarbeit und zur geistigen Arbeit, die Atmung, kennen gelernt und ausgebildet haben.
Das Ungewöhnliche ist, dass Bernhards Protagonisten Krankheit als ein Mittel der Disziplinierung ansehen und wählen. Sie verfügen über eine erhöhte Geistigkeit. Das Kranke bildet in den Romanen Bernhards ein festes Gerüst, dessen Zentrum der schwache Atem und die Erkrankung der Lunge bilden. Viele Geistesmenschen leiden unter der Furcht, ersticken zu müssen. Überall müssen sie geschlossene Fenster aufreißen. Öffnungen des Hauses und der Seele. Auch Öffnungen des Geistes: „Seit Kant ist die Welt eine ungelüftete Welt.“[5] Die Nähe zum Tod, die Schwäche der Muskulatur und die Angst infolge von Krankheit wirken sich unmittelbar auf die Atmung aus. Krankheit sensibilisiert den Menschen und beflügelt in einem hohen Maß den Prozess seiner Vergeistigung. Alle Geistesmenschen sind krank. Das Kranksein wirkt wie eine Initiation auf den Initianden oder wie die Atembeherrschung des Schülers. Darin liegt der disziplinierende Einfluss. In Verstörung sagt der Fürst Saurau: „Die Krankheiten führen den Menschen am kürzesten zu sich selbst“[6], und in der autobiografischen Arbeit Der Atem lässt Bernhard seinen Großvater sagen, dass der Kranke der Hellsichtigere und keinem anderen das Weltbild klarer sei. In der Krankheit verbinden sich eine erhöhte Sensibilität mit dem Außenseiterdasein und der Isolation im Denkbezirk. Der Kranke ist bei Bernhard derjenige, der ausgeschlossen aus der Weltordnung „die Transzendenz der Krankheit ... besitzt und tiefer in das Wesen des Lebens einzudringen vermag“, und „über den Tod zu einem höheren Leben“[7] gelangt. Das gleiche gilt für die körperliche Behinderung. Im Roman Die Billigesser wird der Protagonist Koller von einem Hund gebissen und verliert dadurch ein Bein. Über lange Zeit hat er eine wissenschaftliche Studie ruhen lassen müssen, sie aber infolge des Hundebisses wieder aufnehmen können. Die Verstümmelung wird für ihn zum entscheidenden Wendepunkt des Lebens. Durch den Verlust des Beines ist Koller wieder sensibel geworden für seine liegengebliebene Studie. Er hat unmittelbar danach herausgefunden, in welche Richtung die Studie fortzusetzen ist. Er hat das Zusammenwirken von körperlicher Verletzung und höchster Denkkraft für seine Arbeit genutzt: „Der Hundebiss hatte ihm jenes und also sein Denken, das ihm bis dahin verschlossen gewesen war, aufgemacht.“[8] Der Erzähler legt nahe, dass Koller die körperliche Verstümmelung mitverschuldet hat, da er, der von dem Hund angegriffen wird, den Angriff provoziert hat, um durch eine Verletzung in seiner Vergeistigung und damit in seiner Wissenschaft voranzukommen. Koller bringt die Wandlung seines Lebens, die erneute Hinwendung zu seiner Studie, durch eine bewusste Körperbeschädigung gezielt hervor.
Bernhard habe seinen Arbeiten das schwerfällige Atmen als Erzählstruktur zugrunde gelegt, weil er selbst lungenkrank war. Wird oft gesagt. Eher liegt der Grund dafür in seinem Wissen darüber, dass die Atmung unser zentrales Organ ist, mit dem wir uns disziplinieren können und dass es der zivile Mensch selbst ist, der durch die Last einer großen Diszipliniertheit unter seiner schwachen Atmung leidet. Der schwache Atem und die verspannten Muskeln sind der allgemeinste Zustand des modernen, des hochdisziplinierten und spezialisierten Menschen. Zur Herstellung des Geistes und des Denkens wird der Geistesmensch über die Atmung in eine geeignete, das heißt kranke Körperverfassung gebracht und sein angegriffener und verwundeter Körper ist geradezu eine Bedingung für seine Existenz als Geistesmensch. Wie Haus, Stadt, Schule oder Stuhl in den Körper des Menschen eindringen und ihn kultivieren und umwandeln, so übernehmen eine Krankheit oder eine körperliche Versehrtheit die Funktion des fühlbaren Eingriffs für den Geistesmenschen. Die verletzte Körperstelle wird zum Element der Sensibilisierung und der Aufmerksamkeit, der Konzentrationsfähigkeit und der Vergeistigung.
Die Stufe der Diszipliniertheit, die der Geistesmensch erklimmt, ist eine konsequente Fortführung der historischen Entwicklung der modernen Gesellschaften. Der Geistesmensch ist in seiner geistigen, emotionalen und körperlichen Konstitution zeitgemäß. Er versucht ein Leben im Geist zu führen, indem er sich von Sinneseindrücken freimacht und versucht, aus Erinnerungen und Vorstellungen heraus zu leben. Ein Versuch, den Körper zu überwinden. Allerdings kann der Körper nicht überwunden, sondern nur in Prozeduren geformt werden. Die Grenze, bis an die heran wir uns verbessern und disziplinieren können, ohne dem Wahnsinn zu erliegen, ist ein immer wiederkehrendes Motiv bei Bernhard. So sagt Oehler in Gehen, dass die Kunst des Nachdenkens darin besteht, „das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen.“[9] Wer die Grenze überschreitet, verliert seine körperliche und mit ihr die geistige und seelische Integrität. Vorausblickend sagt der Akrobat in der Erzählung Am Ortler zu seinem Bruder: „Es ist das Vollkommenste, das mich umgebracht hat, es ist der konzentrierteste Gedanke, der dich umgebracht hat.“[10] Wie Karrer in Gehen verfällt er dem Wahnsinn.
Die Westliche Welt ist einen Schritt zu weit gegangen. Wird oft gesagt. In Hinblick auf diese Grenze. Zwar beherrschen die Menschen die Natur und sich selbst, nicht aber die Kräfte, die sich dadurch entfaltet haben, denn das moralische Empfinden ist weit hinter dem technischen Denken zurückgeblieben. Disziplinierung ist das Abstoßen des Menschen von der äußeren und der eigenen Natur. Der Natur, die grausam ist, stellt der Geistesmensch seine Vergeistigung entgegen. Andererseits zeigt Bernhard aber im Scheitern seiner Helden, dass ihrem Leben in der Kunst und in der Künstlichkeit, dass ihrem Leben im Geist eine Balance, ein naturhaftes Element, eine Gelassenheit etwa durch die „Gleichwertigkeit aller Dinge“ abhanden gekommen ist. Die Hinnahme der Disziplinierung ist das maßlose sich an die Technik Ausliefern und die Preisgabe eines Lebens im Geist. Mit der Frage nach der Grenze der Disziplinierung thematisiert der Geistesmensch die Differenz zwischen Natur und Zivilisation sowie zwischen dem technischen Denken, das ein begrenztes Denken, und dem spirituellen Denken, das ein umfassendes und philosophisches Denken ist. Naturgemäß ist auch der Autor Thomas Bernhard ein Geistesmensch, der an dieser Grenze arbeitet. „Es wäre schön“, sagt er in einem Interview, „die Welt nur noch aus der Zeitung zu erfahren.“[11] In dem Wunsch kommt die Diszipliniertheit von Thomas Bernhard zum Ausdruck, im Konjunktiv, in dem der Wunsch formuliert ist, seine Weisheit.
[1] Thomas Bernhard, Verstörung, Frankfurt/M. 1988, S. 49.
[2] Thomas Bernhard, Verstörung, a.a.O., S. 50.
[3] Thomas Bernhard, Am Ortler, S. 174f, in: Erzählungen, Frankfurt/M. 1988.
[4] Thomas Bernhard, Am Ortler, a.a.O., S. 175.
[5] Thomas Bernhard, Verstörung, a.a.O., S. 164.
[6] Thomas Bernhard, Verstörung, a.a.O., S. 188.
[7] Joachim Hoell, Der „literarische Realitätenvermittler“. Die „Liegenschaften“ in
Thomas Bernhards Roman Auslöschung, Berlin 1995, S. 78.
[8] Thomas Bernhard, Die Billigesser, Frankfurt/M. 1988, S. 48.
[9] Thomas Bernhard, Gehen, Frankfurt/M. 1971, S. 26.
[10] Thomas Bernhard, Am Ortler, a.a.O., S. 185.
[11] Sepp Dreissinger, Von einer Katastrophe in die andere. Dreizehn Gespräche
mit Thomas Bernhard, Weitra 1992, S. 76.
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