aus: Hajo Eickhoff (Hrsg.) Sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, Gießen 1997, Katalog zur Ausstellung Sitzen im Deutschen Hygiene Museum Dresden
Hauptsache Sitzen. An allen Orten, zu allen Zeiten, in allen Augenblicken. Der moderne Mensch lebt auf Stühlen. Nicht auf Bäumen. Darin liegt der große Fortschritt der Menschheit. Wie durch eine geheime Absprache begegnen sich die Menschen unserer Kultur immer in derselben, eigenartigen Haltung, in der Körperhaltung rechtwinklig abgeknickten Sitzens. Sitzen ist die Leidenschaft des modernen Menschen, und seine Aufgabe. Er arbeitet und isst sitzend, er amüsiert und streitet sich, er organisiert und ordnet sein Leben im Sitzen. Er sitzt zu zweit oder in kleinen Gruppen, er sitzt mit anderen in einer unermesslichen Masse zusammen oder allein. Der Mensch ist ein Stuhlwesen geworden, das sein ganzes Leben dem Sitzen widmet. Seine Devise: Hauptsache Sitzen. Alles andere ist Nebensache.
Es gibt nur wenige Momente des Tages, in denen der Sitzmensch nicht sitzt und nur wenige Orte, an denen er nicht den Impuls verspürt, sofort Platz zu nehmen. Selbst wenn er sich fortbewegt, will er sitzen. Aber wohin man sich auch bewegen mag, angekommen ist man in einer sitzenden Gesellschaft erst, wenn man einen Sitzplatz gefunden hat. Die Sitzgesellschaft hat das Stuhlsitzen auf Stühlen zu einem Grundbedürfnis bestimmt und es zu unserer alltäglichen Haltung gemacht, zu unserer Norm und unserer Religion. Wenn Sitzen Banalität und Gewohnheit geworden ist, beginnt der Homo sedens, sich im Stuhl einzurichten und im Stuhl zu wohnen. Das Wohnen im Stuhl ist das Verblüffendste, auf das der Mensch bis dahin verfallen ist. Er gibt nicht nur seine natürliche Fortbewegungsart auf, er hört überhaupt auf, sich zu bewegen. Er gibt nicht nur seine aufrechte Haltung auf, um die er Jahrtausende gerungen hat, er nimmt eine völlig gekünstelte Haltung ein. Er hört nicht auf zu leben, hat sich aber für ein kleines Leben entschieden. Der Mensch ist nach wie vor ein sinnliches Wesen, aber seine Leidenschaft sind Denken und Grübeln geworden, die vor allem dem Zweck dienen, den Leib und seine Sinnlichkeit zu überwinden. Das Wort Natur hört der Sitzende nicht gern, Technik ist ihm vertrauter. Das Wohnen im Stuhl wird die Existenzweise des Menschen. Das tägliche Sitzen hat sein Leben umgekrempelt, radikalisiert und auf den Kopf gestellt. Im sitzenden Menschen hat die Natur endlich Platz genommen.
Haben wir die Hände vom Boden genommen, den Kopf gehoben, die Knie durchgedrückt und die Hüfte gestreckt und sind nach Millionen von Jahren endlich aufrecht durch die Welt geschritten, um uns danach auf Stühle zu setzen und uns in nur hundertfünfzig Jahren vom Homo erectus zum Homo sedens umzuformen? Tatsächlich ist das Stuhlsitzen eine besondere und eine sehr junge Form der Jahrtausende alten Bemühung des Menschen, sich von innen her zu beruhigen und zu disziplinieren. Jede noch so geringfügige kulturelle Errungenschaft des Menschen ist eine Form der Disziplinierung. Die Natur des Menschen liegt darin, dass er Kulturwesen ist und damit Architekt seiner eigenen Physis und Psyche. Zunächst bildet er Fertigkeiten aus, die ihm ein Leben als Sammler und Jäger ermöglichen. Er kann eng eingebunden bleiben in den Kreislauf der Natur oder sich entscheiden, ungebundener von der Natur Kulturprodukte und Erzeugnisse der Technik zu schaffen. Mit jedem Stück Technik, wie einem Steinmesser oder einem Stuhl, ist es dem Menschen gelungen, einen Anteil seiner Wildheit in sich zu kultivieren und sichtbar im Außen zu verdinglichen. Will der Mensch ein Stück Kontrolle über die Natur und über das eigene Handeln gewinnen, muss er seine inneren Regungen selbst bezähmen und beruhigen können. Dazu hat er unterschiedliche Strategien der inneren Beruhigung entwickelt: Zivilisierung ist die Anpassung an die Stadt, die Civis, Domestizierung die Anpassung an das Haus, den Domus, Disziplinierung, die Anpassung an die Schule, das Innehalten (des Atems). Das Sitzen auf Stühlen ist die Anpassung an den Stuhl und wird hier Sedierung genannt. Bis einige Stämme damit begannen, Häuser zu bauen und sesshaft zu werden, wohnte der Mensch unter freiem Himmel. Durch die Sesshaftwerdung hat die Beruhigung des Menschen eine starke Beschleunigung erfahren, die durch das Sitzen auf Stühlen noch einmal erheblich gesteigert wurde. Denn das Sitzen auf Stühlen verzögert, verschiebt und hemmt vitale Regungen und kann sie sogar an den Rand des Erliegens bringen. In vielen Sprachen sind die Worte für Beruhigung und Stillsitzen, später auch für Sitzmöbel, an die Silbe sed gebunden. Die Sedierung des Menschen durch den Stuhl ist eine besonders raffinierte Form der Beruhigung. Die Raffinesse besteht darin, dass die Sitzkultur ihre Disziplinierung an eine alltäglich gewordene Haltung gebunden und in den Körper hinein genommen hat. Das Sitzen hilft dem Menschen, seine Handlungen und seine Impulse zu kontrollieren, indem es ihm die allzu große Vitalität nimmt und ihm dadurch Zeit für ordnende Kräfte des Geistes schafft. Allein die abendländische Kultur hat diesen subtilen Weg der disziplinierenden Sedierung beschritten und den Menschen im Sitzen kultiviert. Diese besondere Weise der Disziplinierung hat den Menschen Kontrolle, die Fähigkeit zur Systematik und ein Selbstbewusstsein gegeben, ihnen aber den geistig-spirituellen Zugang zur Welt erschwert.
Der Mensch steht mit den Füßen in der Welt. Die Füße stehen für den Menschen. Manche haben für Fuß und Mensch dasselbe Wort. Die Füße geben dem Menschen Grund. Aufrecht steht und geht er mit den Füßen auf diesem Grund. Wenn der Mensch fest mit den Füßen auf dem Boden steht, ist er zwischen Himmel und Erde gut verankert und kann auch ohne festen Wohnort in der Passage leben, kann jagen, umherschweifen und sammeln, in unterschiedlichen Positionen lagern und auf langen Wegen wandern. Er wohnt in sich. Die wechselnde Belastung der Füße regt alle Körperregionen an. Sie bildet eine Sicherheit im Umgang mit der Schwerkraft aus und formt mit dem Gleichgewichtsorgan des Ohres und der Eigenwahrnehmung die Sinne zu einem einheitlichen Deutungssystem. Wie der Mensch auf seinen Füßen steht und wie er mit ihnen umgeht und umhergeht, sagt etwas darüber aus, wie er die Welt wahrnimmt und wie er sich in ein soziales Umfeld eingliedern kann. Das Leben auf den Füßen, wie es Nomaden, Sammler und Jäger führen, macht die Muskeln weich und ermöglicht ein gelöstes Atmen, es öffnet den Menschen. Mit dem Kosmos ist der auf den Füßen gegründete Mensch spirituell verbunden. Beim Sitzenden hingegen wird der Fuß als Basis des Menschen durch ein neues Fundament, das Gesäß ersetzt. Das Sitzen auf Stühlen enthebt die Füße ihrer fördernden Wirkungen und teilt den verschiedenen Körperregionen neue Aufgaben zu.
Die Sitzhaltung ist eine Haltung des Verschließens. Anders als beim Gehen faltet sich der Mensch beim Sitzen auf Stühlen zusammen und verschließt sich. Das Leben auf dem Fuß und das Leben auf dem Gesäß sind zwei völlig verschiedene Weisen, in der Welt zu sein. Der Stehende ist in sich und auf dem Erdboden gegründet, das frühe Sitzen dagegen behindert die Ausbildung eines solchen Fundaments. In der körperlichen und sinnlichen Verschlossenheit entfalten sich die Kräfte des Stuhlsitzenden und die besonderen Fertigkeiten, die ihn von denen unterscheiden, die nicht auf Stühlen sitzen. Die Basis seines Verschließens im Sitzen ist das kontrollierte Zurückhalten all dessen, was der Mensch nach außen entlassen kann. Die Elemente dieser Basis sind einseitig beanspruchte Skelettmuskeln, das angespannte Gesäß und die Sitzatmung.
Der Hintern ist das Fundament des sitzenden Menschen. Der Füße bedient sich der Sitzende nur noch, um sich von Stuhl zu Stuhl zu bewegen. Seine Füße im Sitzen sind die Sitzbeinhöcker genannten unteren Abschnitte des Beckens. Dass wir den Hintern oder Po Gesäß nennen, besagt wenig. Es verführt uns, zu glauben, er hätte im Sitzen auf Stühlen seine natürliche Funktion, und wenn wir sagen, wir sitzen auf dem Gesäß, verdecken wir, dass wir auf der hinteren und heiklen Region unseres Körpers sitzen, dem Ort der Ausscheidungen. Die Region vereint in sich lebenswichtige Funktionen, die uns - je nach ihrer Behandlung - zu einem lebendigen oder steifen, zu einem zurückhaltenden oder offenen Wesen machen. Der Hintern ist zugleich der Ort, an dem entschieden wird, ob wir unsere Emotionen zurückhalten oder ihnen freien Lauf lassen wollen. Über das Sitzen auf unserem hinteren Körperteil gewinnen wir Einfluss auf den Beckenboden, dessen Zustand bestimmt, wie wir sein und wie wir leben werden. Der Anreiz für eine Sitzgesellschaft, auf Stühlen zu sitzen, besteht darin, dass dem Menschen allein durch das früh erlernte Sitzen die Fertigkeit mitgegeben wird, in der Verfolgung einer Sache oder eines Gedankens sehr konzentriert und hartnäckig sein zu können und einer Absicht gegen Widerstände wie Assoziationen, Gefühle, abschweifende Gedanken oder Tagträume nachzusetzen. Die Reinigung eines Vorhabens zu einer geradlinigen Verfolgung eines Ziels liegt im Zurückdrängen von Impulsen aus dem Unbewussten oder Vegetativen. Die Existenz auf dem Hintern führt zu einer verhaltenen, beherrschten und rationalen Weise zu leben.
Damit der Mensch beherrscht sein kann, bedarf er eines besonderen Atemmusters und einer besondere Ordnung seiner Muskulatur. Jede Bewegung, jedes Gefühl und jede Haltung hat ihr eigenes Atem- und Muskelschema. Der Sitzatem und die Struktur seiner Skelettmuskeln sind es, die den Sitzenden zu einem Sitzkörper formen. Im Sitzen auf Stühlen werden die Funktionen der gesamten Skelettmuskulatur nach und nach eingeschläfert, bis die mangelnde Stimulation die Beweglichkeit auf ein Minimum reduziert und die Muskeln austrocknet und chronisch verhärtet. Parallel dazu wird im Sitzen die Atmung mehr und mehr herabgesetzt und ihrer freien Rhythmen beraubt, bis sie den Körper bei großen Aktivitäten nicht mehr versorgen kann. Starke, aufwühlende Emotionen müssen deshalb zurückgehalten werden. Gleichzeitig wirken Muskulatur und Atmung aufeinander. Ein geringer Umsatz an Energie durch flaches Atmen spannt die Muskeln und macht sie hart, während die verhärtete Muskulatur den Atem flach macht. Diesem Kreislauf gegenseitigen Reduzierens und Einschläferns, Verflachens und Verhärtens unterliegt der Organismus, bis der Sitzende physiologisch erstarrt und eine Unlust auf Bewegung entwickelt. In solchen Vorgängen wird der Mensch an die Sitzhaltung, den geringen Energieumsatz, das Kontrollierenwollen der Emotionen oder an die filigrane handwerkliche Arbeit angepasst. Jeder Sitzende bildet eine individuelle Sitzhaltung, ein individuelles Sitzmuster aus, das ein spezifisches Sitzleiden birgt. Wenn der Sitzende aufsteht, sich bewegt oder Sport treibt, behalten der Atem sein Sitzmuster und die Muskulatur ihre spezifische Sitzverspannung bei. Deshalb müssen wir immer sitzen und deshalb verfallen wir mit der Sitzhaltung immer in dieselbe Physiologie. Ihr liegt unsere Gewohnheit und unser erworbenes Haltungsmuster zugrunde. Im Sitzen auf Stühlen panzert sich der Mensch. Fernando Pessoa sagt: „Ich gehe über die Straße wie ein Sitzender.“ Der Panzer macht den Sitzenden zur Skulptur. Am Ende sitzt der Mensch unbeweglich und steif, aber auch ein wenig majestätisch wie eine Statue ägyptischer Pharaonen.
Die Alltäglichkeit des Stuhls hat das Sitzen unsichtbar gemacht. Wie die eigene Haut gehört zum Sitzenden der Stuhl und weil die sitzende Gesellschaft uns mit Stühlen umstellt und wir uns wie selbstverständlich und automatisch setzen können, ist Sitzen uns zur Natur geworden und zu Stühlen haben wir keine Distanz mehr. Infolge ihrer Alltäglichkeit verschwinden Stuhl und Sitzen allmählich aus unserem Bewusstsein. So bleibt uns verborgen, dass das mit dem Stuhl gegebene Sitzen Kunst und Konvention ist und Stühle über ihren vordergründigen Gebrauch und ihre orthopädischen und ästhetischen Besonderheiten hinaus ganz andere Bedeutungen haben. Wir gehen davon aus, dass wir uns der Stühle bedienen könnten, ohne dass sie uns beeinflussen, doch sie fügen uns fest in die Konvention des Sitzens ein, die eine Geschichte und vielfältige Bedeutungen in sich trägt: Stühle sind Gehege und Werkzeuge kultureller Formungen, sind Machtsymbole und stehen für Übersicht und Ordnung. Indem wir den Umgang mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs wie dem Stuhl als naturhaftes Handeln auffassen, begreifen wir weder unser Denken noch unser Tun. Sitzende haben eine Neigung zum Bleiben, man sagt, wir kleben am Stuhl. Tatsächlich leitet sich Bleiben von Kleben ab. Wir Sitzenden verkleben mit dem Stuhl und haben das Empfinden für das Extravagante und das Skurrile unserer Haltung verloren, weil wir physisch und geistig selbst Stuhl geworden sind. Die gesellschaftliche Sanktionierung des Sitzens hat uns den Blick und die Wahrnehmung dafür verstellt, in welch absurder, krankmachender und geradezu blöder Haltung wir uns im Sitzen auf Stühlen befinden.
Die sitzende Gesellschaft
Die sitzende Gesellschaft ist eine Institution des Stuhls. Sie ist das politische Organ, das den Sitzzwang in Schulen und Ämtern einrichtet und überwacht. Der Stuhl ist ein zentrales Element ihrer politischen Ordnung. Um in einer Gesellschaft, die zentral das Sitzen auf Stühlen regelt, ein gesellschaftsfähiges Wesen zu werden, ist die Beherrschung des Stuhlsitzens eine Voraussetzung. Aber Sitzen ist nicht nur Pflicht, es ist auch ein Recht. Die sitzende Gesellschaft hat die Aufgabe, den Menschen zu einem Stuhlwesen zu formen und ihm den Rahmen bereitzustellen, der ihm die Befriedigung des Bedürfnisses garantiert, immer dann, wenn er anhält, einen Stuhl zur Verfügung zu haben und jederzeit und überall sitzen zu können. Wir finden sie deshalb nicht nur in Schulen und Ämtern, sondern ebenso in Fußballstadien, Sprechzimmern und Büros, in Bussen, Kinos oder Wartesälen. Wir werden angehalten, Dauersitzende zu werden, Sitzende, die sich nirgends sicherer fühlen als im Stuhl, nirgends sicherer fühlen, als an Orten, an denen Stühle stehen, auf die sie sich setzen könnten. Jedem von uns stehen etwa zwei Dutzend Sitze zur Verfügung, während das gesellschaftliche Leben so auf das Sitzen abgestimmt wird, dass wir alles tun können, ohne den Stuhl verlassen zu müssen. Die Sitzgesellschaft tritt sichtbar in Erscheinung in ihrer unermesslichen Menge von Stühlen und Sitzkörpern.
Die Sitzgesellschaft hebt das Kind früh vom Fußboden auf den Gesäßboden. Sie verordnet dem bewegungsbedürftigen und für Bewegung begabten Kind das unbewegte Verharren auf dem Stuhl. Dabei greift der Stuhl zerstörerisch in den Reifeprozess des Kindes ein, das in wenigen Jahren die Evolution der Wirbeltiere wiederholt, und schiebt sich irgendwo ein zwischen Liegen, Krabbeln und seine ersten Versuche des Aufrichtens. Die sitzende Gesellschaft vermeidet, dass Kinder ihrer Reife gemäß das Gehen und Stehen erlernen, man nimmt sie früh vom Boden auf und lässt sie in die Körperhaltung hineinwachsen, die der Stuhl und sein rechtwinkliges Sitzen vorgeben. Je früher das Kind vom Boden genommen und gesetzt wird, desto rascher entwickeln Kinder ein Bedürfnis nach Stühlen. Doch früh gesetzten Kindern wird der Fußboden zu einem unsicheren Grund. Und dieses wankende Fundament dient ihnen dann als sinnliche Basis dafür, wie sie die Welt wahrnehmen, deuten und sich in ihr fühlen werden. Unsicherheiten im Umgang mit dem eigenen Körper müssen das Kind jedoch nicht irritieren. Im Gegenteil, die Unsicherheiten sind Bestandteil eines Verhaltens, das die Sitzgesellschaft als Norm empfiehlt. Denn wer sich auf seine Sinne nicht verlassen kann, wird eher bereit sein, an den Idealen einer Gesellschaft mitzuarbeiten, deren Utopie die Überwindung des Leibes ist. Ein vielseitig bewegter Mensch wie der Zappelphilipp, dem Bild für die Schwierigkeiten mit dem Sitzen, dient ihr als negatives Vorbild. Statt beunruhigt zu sein und das Kind zur Bewegung zu ermutigen, wenn es über eine lange Zeit ruhig auf einem Stuhl verharren kann, ist es in einer Sitzgesellschaft gerade umgekehrt. Denn wer nicht ruhig sitzen kann und auf dem Stuhl unruhig hin und her rutscht, hat das erforderliche Maß innerer Beruhigung noch nicht erreicht. Ist noch zu wild, zu ungebrochen, zu eigensinnig und mit dem disziplinierenden Programm der Gesellschaft noch nicht ausgesöhnt.
Wir betreten Räume mit immer gleichen Ritualen. Wenn dem Gruß die Aufforderung folgt, Platz zu nehmen, wissen wir: dieser Platz kann nur ein Stuhl sein. Der Aufforderung, sich in einer problematischen Lebenssituation erst einmal zu setzen, schafft eine beruhigende Atmosphäre. Sie entsteht, indem die Gewohnheit des Sitzens durchbrochen und das Setzen zu einer bewussten Handlung wird, zu einem Ritual. Auch in den Kämpfen um Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln kommt eine verdeckte Aufforderung zum Vorschein. Die Eroberung der Sitzplätze beginnt auf dem Bahnsteig, auf dem man sich eine gute Ausgangsposition verschafft, um den Endkampf mit wenig Körpereinsatz zu überstehen. Ließ man Älteren und Behinderten einst den Vorrang, ist es in einer Sitzgesellschaft nicht selbstverständlich, ihnen kampflos einen Sitzplatz zu über-lassen. Die sitzende Gemeinschaft zwingt die Menschen früh dazu, die in einer Sitzkultur übliche Haltung einzunehmen: Wer keinen Sitzplatz hat, muss stehen und gehört nicht dazu. Oder er scheidet aus, wie in dem Spiel „Die Reise nach Jerusalem“. In ihm lernt der Mensch spielend, worum es hier geht, um die Eingliederung in die Sitzgesellschaft.
Stühle sind die Bausteine unserer sozialen Architektur. Den Verkehr mit ihrer Umwelt wickeln Sitzende von ihren Stuhlräumen aus ab. Stühle fassen sie in imaginäre Rahmen, die zwischen Mensch und Mensch geschoben werden, halten sie gegenseitig auf Distanz und bestimmen die Intimität des Lebens in der Sitzgesellschaft. Sich versammelnde Menschen sind immer bestuhlt. Sitzende tragen Stühle wie Kleider, versammeln sich in der immer gleichen Haltung und haben zu anderen Sitzenden eine Minimaldistanz. Die Wahrnehmung des anderaus unmittelbarer Nähe gibt es nur in Ausnahmefällen. Da die Menschen, durch den Stuhlrahmen separiert, weit auseinander sitzen, ist der Blick das Mittel, um sich von anderen Menschen eine Vorstellung zu machen. Doch die Vorstellung bleibt durch das Ausgrenzen der anderen Sinne auf das Bild reduziert. Der Blick ist ein distanzierender und kontrollierender Blick von einem festen Ort aus. Der Sitzende lebt in der Ferne zu den Dingen und in Distanz zu anderen Menschen. Er lebt vereinzelt. Doch die Gewohnheit des Sitzens, die Uniformität der Sitzversammlungen und die Sitzanordnung im Alltag schließen ihn sozial mit den anderen Sitzenden zusammen. Aber obwohl in der Sitzgesellschaft fast alle auf Stühlen sitzen und daher fast alle gleich sind, gliedern Stühle und Sitzkörper die Sitzgesellschaft in ein geordnetes und wohl abgestuftes Gefüge sozialer Unterschiede. Die soziale Ordnung leitet sich aus der imaginären Zeitdauer ab, mit der jemand auf Stühlen zugebracht hat, und aus der Annahme, dass eine überdurchschnittlich lange Sitzzeit in der Jugend ein hohes Bildungsniveau und reiche Kenntnisse und Wissen bedeuten. Langzeitsitzer haben später im Beruf ein Anrecht auf einen Stuhl besonderer Qualität und Art. So muss die Sitzgesellschaft jedem Tun und jedem Status geeignete Stühle bereitstellen. Umgekehrt fordern Stühle ein entsprechendes und abgestuftes Distanzverhalten. Das Verhalten hängt ab von der Aura des Objekts oder des Ortes, an dem es platziert ist. So gibt es Unterschiede in der Art, wie man sitzt, des Ortes, wo man sitzt und der Qualität, auf der man sitzt. Von Werkstatthockern, Arbeitsbänken und Bürostühlen über Autositze und Logenplätze im Theater hinauf zu den Pilotensitzen, den Sesseln für Vorsitzende und den aufwendigen Bürostühlen mit Armlehne und überhöhter Rückenlehne für den Chef. Mit den im ideellen Sinn höchstdotierten Sitzen wartet die Sitzgesellschaft für diejenigen auf, die am längsten gesessen haben: Das sind die Stühle, die mit ihrem Namen zugleich ein Amt oder eine Institution bezeichnen. Auf die in dieser Weise Stuhl gewordenen Langzeitsitzer warten Bischofsstühle, Lehrstühle, Throne, der Heilige Stuhl oder Richterstühle.
Das Sitzen auf dem Hintern ist ein verhaltenes, ein übersichtliches und mächtiges Lebenskonzept. Es führt dazu, dass Sitzende beherrscht sind und sich gut auf Dinge konzentrieren können und damit über eine effektive Arbeitstechnik verfügen. Je länger sie sitzen, desto besser können sie diese Fertigkeiten in sich wachsen lassen. Der sozialen Gliederung der Sitzkultur liegt also eine Gliederung der verhaltenen Überlegenheit zugrunde. Die Verhaltenheit ist eine sparsame und durch den zielstrebigen Einsatz des Kalkulierens, Denkens und Erfindens eine effektive Lebensführung, die hochtechnische Maschinen und eine differenzierte Warenwelt hervorbringt. Die Sitzgesellschaft ist der Rahmen, der das Gewonnene zusammenhält, angehäuft und in Form einer fortschreitenden Technisierung und erdumspannenden Urbanisierung verdinglicht. Die Sitzkultur verdankt ihren Reichtum ihrer effektiven Lebenshaltung und sie verdankt dem Stuhl viel in ihrer Einseitigkeit und ihrer Härte.
Wie sehr der Sitzende im Stuhl lebt und wie wichtig ihm das Stuhlleben geworden ist, zeigt sich an der Angst, die ihn befällt, wenn er seine Lebenshaltung ändert und vom Gesäß auf die Füße wechselt. Wenn er sich von einem Sitz erhebt, folgt er einem stereotypen Muster: Er steht mit einer dem natürlichen Bewegungsverlauf widersprechenden Bewegung auf. Er spannt in dem Moment, in dem er das Gesäß vom Sitz abhebt, die Nackenmuskeln an, die den Kopf nach hinten ziehen und erhebt sich. Das Anspannen der Nackenmuskeln ist eine Geste der Angst. Der Sitzende erhebt sich mit der Angstgeste vom Stuhl, weil er aus einer gesicherten Existenzform in ein unsicheres Dasein tritt. Er reagiert mit Angst, weil er eine sozial weniger anerkannte und körperlich weniger beherrschte Haltung, das Stehen einnimmt. Er reagiert mit Angst, weil er die gesellschaftlich ausgezeichnete Existenzhaltung, das Sitzen, aufgibt. Er spannt die Nackenmuskeln an, um den Blick geradeaus und den Kopf oben zu behalten. Die Angst offenbart, in welch hohem Maß der Mensch der Sitzgesellschaft den Halt und die Sicherheit auf den Füßen verloren hat. Sicherheit bietet ihm nur der Aufenthalt auf vertrautem Terrain, dem Stuhl.
Neue Arbeitstechnologien befördern ein Arbeiten, das immer mehr an den starren Sitzkörper und den beweglichen Arbeitsstuhl gebunden ist. In der sedierten Gesellschaft sind Stühle zentrale Arbeitsmittel. Die Art der Organisation und der Arbeitsmedien wie Computer, Telefone oder Faxgeräte machen es möglich, Verwaltungs- und Büroarbeiten zu bewältigen, ohne sich vom Sitz zu erheben. Mußte man bis dahin immer wieder für kurze Zeit vom Stuhl weg, braucht man ihn heute nicht mehr zu verlassen. Die sedierte Gesellschaft ist stolz darauf, wenn sie die Welt so eingerichtet sieht, daß sich der Mensch nicht mehr bewegen muß. Sie idealisiert den Menschen in einem unkörperlichen Handeln und bringt in dem Ideal der Unbewegtheit eine Weltanschauung zum Ausdruck, die in der Utopie einer nicht an die Sinne gebundenen Existenz ihre Wurzeln hat. Der Mensch soll sitzend, mit gewaltigen Kräften des Geistes, die Welt ordnen, einrichten und gestalten. Doch die starke Bewegungseinschränkung im Sitzen, die unphysiologische Sitzhaltung sowie die hohe Konzentration vor dem Monitor haben den Menschen hohe physische und psychische Belastungen aufgebürdet, haben ihnen Ermüdung und Kopfschmerzen, Erschöpfung, Sehschmerzen und zahlreiche Rückenleiden und infolge dessen Unlust bei der Arbeit sowie Unfälle und Vorfälle gebracht. Da das ständige Einsparen von Bewegung den Menschen immer fester an den Stuhl bindet und ihn zu völliger körperlicher Untätigkeit zwingt und krank macht, hat die Sitzgesellschaft Stühle entwickelt, die die Aufgabe übernehmen sollen, den Menschen einen Teil der verlorengegangenen Bewegung zurückzugeben. Diese Stühle sind raffinierte Maschinen, die mit einer Vielzahl Bewegung stimulierender Elemente ausgerüstet sind. Den Rest an Körperbewegung bei der sitzenden Arbeit - das gelegentliche Weg vom Stuhl -, sucht man zu erhalten, indem man den Stuhl beweglich gestaltet und so steuert, dass er dem Menschen Bewegungsangebote macht. Allerdings fesseln gerade diese Stühle den schon fußmüde gewordenen Menschen in der Regel noch weiter an den Stuhl. Die sedierte Gesellschaft arbeitet aber auch an alternativen Einrichtungen, die zu einer veränderten Körperhaltung bei der Arbeit anregen: Arbeitsplätze, die das Stehen und einen Wechsel von Stehen und Sitzen während der Arbeit möglich machen. Doch selbst solche Maßnahmen sind nur begrenzte Hilfeleistungen. Solange Körperhaltungen nicht als sichtbare Zeichen einer Lebenshaltung erkannt werden, sind Änderungen nur ein Hantieren mit den Symptomen. In den Industrienationen hat das Sitzen den Menschen durch den kranken Rücken in eine Krise der Befindlichkeit gebracht. Aber gerade in derartigen Augenblicken werden wir sensibel für unsere Situation und haben die Chance, unsere geistige und unsere sinnliche Einstellung zum Leben und zur Natur zu korrigieren. Chronische Muskelverspannungen, Kopfschmerzen und Bandscheibenvorfälle haben ebenso in physischen Fehlhaltungen des einzelnen ihre Ursache wie in Fehlhaltungen unserer Kultur. Der Mensch muss lernen, aktiv, aus eigener Kraft heraus, seinen Körper zu halten. Neue Formen des Arbeitens erfordern eine sinnliche Anwesenheit in der Gegenwart und ein gegenwärtiges Denken, die das veränderte Verhalten wie das Stehen, das schuhlose Gehen und den Wechsel von Stehen und Gehen bei der Arbeit begleiten. Am Fuß, der für den Menschen steht, würde der Mensch nicht vorbeikommen, wenn Denken und Sinnlichkeit zusammengehen sollen. Wenn wir den Fuß und die Sinne erst unter Naturschutz stellen müssen, wird es zu spät sein.
Sportsendungen haben gute Einschaltquoten, Sportarenen hohe Besucherzahlen. Die einen schauen aus der sitzenden Distanz den Sportereignissen zu, deren Strapazen sie nicht auf sich nehmen. Sie sehen Menschen zu, die im Spiel und im Wettkampf agieren, Bilder, die Erinnerungen an die eigene körperliche Betätigung wachrufen. In den Bewegungen und Verausgabungen der anderen sehen sie die potentiellen Kräfte des eigenen Körpers, der während des Zuschauens schlummert. In den Wiederholungen unbewegten Zuschauens und dem immer erneuten Scheitern, den einschläfernden Wirkungen des Sitzens standzuhalten, offenbart sich die Melancholie der Sitzgesellschaft. Die anderen schauen denselben Ereignisse von den Rängen der Sportarenen zu. Sie nutzen die Ereignisse als Bühne und machen den Sportplatz zum griechischen Amphie-Theater. In Bezug auf die Körperhaltung haben sich Massenveranstaltungen in den vergangenen Jahren gewandelt, in derselben Weise wie um 480 v. Chr. in den griechischen Theatern: Internationale Sportereignisse werden in Zukunft nur noch in reinen Sitzplatz-Stadien ausgetragen. Vorbild für diese Entscheidung sind die Sportstätten Nordamerikas, die nur über Sitzplätze verfügen und in denen Ausschreitungen wie in europäischen Stehplatz-Stadien unbekannt sind. Wo der Mensch in seiner Freizeit noch steht oder stehen möchte, erzwingt die Sitzgesellschaft, dass er sich setzt. Sie will aus der bewegten Masse stehender Zuschauer eine diskrete Menge sitzender Individuen machen und aus den Ereignissen ein ästhetisches Abbild der sitzenden Gesellschaft. Die Veranstaltungen sollen mit identifizierbaren Individuen kalkulierbar sein, die sich von der Masse absetzen: Wer sitzt, behält einen kühlen Kopf und lässt sich nicht provozieren oder mitreißen in einen Strom unkontrollierter Emotionen und eines sinnlichen Wir-Gefühls der Masse. Am Sport und seinen Zuschauern offenbart sich die Sitzgesellschaft als eine diskrete Gesellschaft von Melancholikern.
Das Automobil ist der Stuhl zwischen einem Stuhl, den ich verlasse, und einem zweiten Stuhl, für den ich den ersten verlassen habe. Es ist der Stuhl zwischen zwei Stühlen. Das Automobil verkürzt nicht nur den Weg zwischen diesen Stühlen, es dehnt den ersten so weit, dass er an den zweiten heranreicht. Das Auto ist ein Stuhl, der so lang ist, wie der Weg, den es zurücklegt. Es schließt nahezu die Lücke, die es noch erforderlich machte, sich überhaupt von einem Stuhl zu erheben und bietet die Möglichkeit, einen Sitzenden von einem Stuhl zum nächsten zu befördern, ohne dass er seine Sitzhaltung aufgeben muss. Der Wechsel vom Fuß auf das Gesäß ist durch das Automobil abgeschlossen. Endgültig schließen könnte ein Rollstuhl für Gesunde die letzte Lücke.
Das Auto übergreift Arbeitswelt und Privatleben. Es ist Transportmittel und individuelles Lustobjekt, wobei die nützlichen Funktionen zweitrangig sind. Das moderne Fahren und Reisen hat sich fest an den Stuhl gebunden, aber im Autofahren wendet sich der Mensch scheinbar bewußt und sehr weit von seiner Einfachheit und Natürlichkeit ab: Angehaltene Füße, ein im Gurt festgezurrter Körper, ein fixierter Blick und das Ausblenden aller anderen Sinne. Automobile sind Objekte eines männlichen Prestiges, deren symbolische Bedeutung es zu einem Kultobjekt der Industrienationen machen, deren symbolische Bedeutung Leidenschaft und Hingabe auszulösen vermögen, die man dem zivilen Sitzmenschen gar nicht mehr zugetraut hätte. Es sind nur wenige Elemente, die sein gesellschaftliches Prestige bestimmen, Elemente, die mit Imagination und Freiheit, mit Körperlosigkeit und Entsinnlichung zu tun haben. Autofahren ist ein öffentlich zur Schau gestelltes Thronen in der Geschwindigkeit. Zugleich ist es die individuelle Macht, mit Lenken und Knopfdrücken ein Stück Technik, ein mächtiges Gefährt zu beherrschen. Automobile sind unsere Throne und Autofahren ist unsere königliche Tätigkeit, die Selbstfahren und Regieren heißt. Im Auto werden die Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung am stärksten angesprochen und scheinbar erfüllt. Autofahren hat zu tun mit dem Freisein von der Trägheit des Körpers, mit der Unabhängigkeit der Geschwindigkeit von den menschlichen Füßen und hat zu tun mit dem Wunsch nach Aufhebung der Körperhaftigkeit des Menschen. Der Autofahrer bewegt sich fort, ohne seinen Körper anstrengen und ohne sich selbst vom Platz bewegen zu müssen. Autofahren ist eine Loslösung von den Füßen, ein fußloses Fortschreiten, ein Fortschreiten, ohne zu Schreiten. Als eine elementare Metapher unserer Kultur hat sich der Fortschritt von seiner Basis, dem gehenden und schreitenden Fuß, gelöst. Und darin liegt das Besondere des Fortschritts: Vorankommen in der Entsinnlichung, im Weg vom Körper, im Vorankommen in der Vergeistigung. Die Sitzgesellschaft ist eine fußlose Gesellschaft, die mit Riesenschritten fortschreitet, auf riesigen, imaginären Füßen. Die sedierte Gesellschaft hat ihr Wesen im fußlosen, körperunabhängigen Fortschritt.
Die Not der Sitzgesellschaft
Der Homo sedens findet erst Ruhe, wenn alles gesetzt ist. Er arbeitet so lange an der Idee des Sitzens, bis er alles sediert und schrittweise lebendige und bewegte Natur in Technik, Kunst und Kultur verwandelt hat. Der Mensch kann nicht instinktiv der Natur folgen, er unterliegt dem Zwang seines Wesens, das Leben selbst gestalten zu müssen. Das Abendland ist dabei einer besonderen Spur gefolgt: der des Homo sedens. Der Homo sedens ist eine sehr spezialisierte Art des Menschen, die erst Ruhe findet, wenn alle sitzen. Wenn alle innerlich wie äußerlich Platz genommen haben und sich vom Homo sapiens sapiens zum Homo sapiens sedens entwickelt haben. Jede Kultur gibt ihren Angehörigen eine unverwechselbare Gestalt: Geist und Moral werden anhand körperlicher Strafen, Ritzungen und Formungen gefestigt und der einzelne erlangt darüber seine Identität im Rahmen des Kollektivs. Die stuhlsitzenden Sesshaften erfahren ihre Strafen und Ritzungen im Stuhl. Es ist diese Identität, die sie drängt, das Sitzen auf Stühlen über ihre kulturellen Grenzen hinauszutragen, und es ist ihre Reiselust, die in Massenreisen die Ausweitung des Sitzens angeregt und vorangetrieben hat. Der Stuhl ist ein magisches Zeichen, das überall dort, wo der moderne Tourismus es hinterlässt, die heimische Kultur aufzulösen beginnt, denn das Stuhlsitzen ist nicht nur eine äußere Haltung im Raum, sondern ebenso die innere Haltung des Sitzenden, die Basis seiner geistigen Ordnung. Stellvertretend für alle Sitzenden sehen die modernen Reisenden das Zeichen ihrer Überlegenheit, ihrer Lust und ihrer Anerkennung in der Bestuhlung der Erde.
Die Sitzkultur trägt geweihte und profane Kulturanteile in sich. Dem geweihten Zweig entlehnt sie für den Sinn ihrer Existenz Bilder und Mythen, dem profanen die Aufklärung der Mythen und die Rationalität. Utopien und Perspektiven liefern dem zivilen Menschen die letzte Schrift der Bibel, die Apokalypse, und die Sciencefiction. Die Apokalypse verspricht dem gläubigen Christen das Sitzen zur Rechten Gottes bis in alle Ewigkeit, die Sciencefiction - und mit ihr die Raumfahrttechnologen - verheißt den Technikgläubigen die Sesshaftwerdung in der Galaxis. Von diesen beiden Seiten her arbeitet das Abendland an der Realisierung der Besiedlung von Mond und Mars und an der Verankerung seiner besonderen Art von Sesshaftigkeit in der Galaxis, dem Sitzen auf Stühlen. Die Utopie fügt sich in den Prozess der Beruhigung und Ruhigstellung ein: Der Mensch wird sesshaft, konzentriert sein Leben auf einen begrenzten Ort, das Haus, erschließt das Umfeld, richtet es ein, zieht weiter und besiedelt Territorien, Kontinente, die Erde, dringt ins Sonnensystem vor, dringt ein in die Galaxis und eignet sich von dort aus die Räume des Universums an. Der konzentrierteste Ort seiner schöpferischen Arbeit, den der Mensch im Prozess der Sesshaftwerdung und bei der Strategie der Erschließung und Einrichtung neuer Gebiete einnehmen kann, ist der Ort auf dem Stuhl. Stellvertretend für alle Sitzenden sehen die Wissenschaftler der Raumfahrt und die christlichen Geistesarbeiter das Zeichen ihrer Überlegenheit, ihrer Lust und ihrer Anerkennung darin: Wohin der Mensch auch immer vordringen mag, immer soll ihm ein Stuhl zur Seite stehen. Die Menschheit insgesamt soll sich geistig setzen und Stuhl werden.
Der Prozess der Beruhigung und Sedierung trägt aber auch die Schattenseite dieser Utopie in sich. Die sedierte Gesellschaft kann die nachfolgenden Generationen nicht mehr motivieren, sie kann sie nicht initiieren und sie nicht ins Erwachsensein hinüberführen. Infolge ständigen Sitzens auf Stühlen führt der moderne Mensch ein beruhigtes und befriedetes Leben, kommt aber mit seiner Friedfertigkeit nicht zurecht. Der Sitzkultur sind die Gründe ihres Aufbruchs, der Sinn ihres emsigen, pausenlosen und lauten Tuns, ihres Bemühens um Verbesserung und um neue technische Errungenschaften abhanden gekommen, wie die Mythen, die dem Menschen einst Nahrung waren. Angesicht des gewaltigen Aufwands, den der Mensch treibt, sich und seine Werkzeuge zu verbessern, ist die Besserung seiner existentiellen Probleme unerheblich. Der materielle Reichtum und der immense Konsum in den westlichen Nationen haben sich nicht als befriedigender Ersatz für die nicht geglückte innere Befriedung erwiesen. Der moderne Mensch lebt an seinen vitalen Bedürfnissen vorbei, indem er sich an eine technische Ersatzwelt kettet, ohne dass es ihm gelingt, sich entweder mit ihr geistig auszusöhnen oder andere Wege einzuschlagen. Die Menschen leben nicht aus eigenen Motiven heraus, sondern fügen sich ein in den laufenden Prozess der Sedierung, der längst in einen Prozess der Ruhigstellung und Gleichgültigkeit umgeschlagen ist und der untergründig ein Heer destruktiver Kräfte mobilisiert hat. Dass alles gleich gültig ist, führt zur Aufhebung der Werte und hat Desinteresse und Gewalt zur Folge. Frei werden die destruktiven Gewaltpotentiale, wenn die Gesellschaft die Menschen nicht mehr glaubwürdig initiieren und an ihre Werte binden kann. Aufs Engste ist die Verklammerung sedierender und destruktiver Impulse an die sitzende Lebensweise gebunden.
© Hajo Eickhoff 1997
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