aus Werkstatt Graz Almanach 2014, Joachim Baur (Hrsg.)
Brotlose Kunst ist ein Beruf im ursprünglichen Sinne. Einst werden Amtsträger vom Rücken her durch einen Gott in ihre Tätigkeit gerufen: diese Anrufung ist ihre Berufung, ihr Schicksal – denn Gott schickt sie in die Tätigkeit, die ihrem Charakter entspricht.
Brotlose Kunst heißt eine Tätigkeit, die nicht genug zum Lebensunterhalt beiträgt, den Ausübenden aber Lebenssinn gibt. Das englische Wortpaar unprofitable art sagt es deutlicher: Kunst, die keinen Profit abwirft. Andererseits bringt auch der deutschsprachige Begriff den Mangel an Einkommen zum Ausdruck, denn Brot bedeutet, solange es Hauptnahrungsmittel war, Einkommen – Erwerb von Brot. Im Begriff Brotlose Kunst wird ein Mangel an wirtschaftlichem Denken unterstellt.
Kunst und Art bedeuten zunächst Wissen und Wissenschaft. Wie der Magister noch heute Magister Artium, Meister der Künste heißt. Die Artes Liberales sind die sieben freien Künste, wie sie die Griechen lehrten, bestehend aus Grammatik, Rhetorik, Logik sowie Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Liberal heißen die Künste, weil sie für den wohlhabenden und freien Mann gedacht sind, im Gegensatz zu den Artes mechanicae.
Der Begriff der Brotlosen Kunst entsteht in dem historischen Augenblick, in dem Künstler nicht länger als Handwerker, sondern als individuelle Schöpfer ihrer Werke angesehen werden – in der Renaissance. Andererseits gibt es der Brotlosigkeit der Dichtkunst wegen bereits in der römischen Antike einen Förderer – Gaius Maecenas –, nach dem das Mäzenatentum benannt ist.
In der Kunst erfährt der Mensch eine Erfüllung, wenn die künstlerische Tätigkeit wenig fremdbestimmt ist. Dann ist der Künstler Schöpfer, der eher darauf achtet, dass sein Werk auf das Interesse anderer stößt, der eher nach Anerkennung als nach Reichtum strebt. Eher nach Autonomie der Kunst verlangt als nach finanzieller Unabhängigkeit.
Aus der Unwirtschaftlichkeit seiner Kunst macht der Bohemien eine Tugend. Im 19. Jahrhundert entsteht die Idee, Kunst um der Kunst willen zu betreiben: Kunst ohne Nutzen als L’art pour l’art, bei der es um den Vorrang der künstlerischen Form, der Ästhetik geht, nicht um Broterwerb, wodurch sich den Künstlern die Möglichkeit bietet, ihrer Neigung und Intuition zu folgen, wie es in Frankreich Charles Baudelaire, in England Oscar Wilde, in Deutschland Stefan George und in Österreich Gustav Klimt praktizierten.
Brotlose Künstler leben von Schenkungen, gelegentlichen Verkäufen, Stipendien, Mäzenen und Sponsoren, von Schülern und der Ausübung anderer Berufe oder Jobs.
Die Aktualität des Begriffs zeigt die Aktion Brotlose Kunst der Partei der Grünen in der BRD von 2013, die die finanzielle Situation von Künstlern aufgreift, denn diejenigen, die in der Künstlersozialkasse sind, verdienen im Jahr durchschnittlich 14.000 Euro und haben eine Rentenerwartung von 420 Euro. Ein Drittel wird gar nicht in die Kasse aufgenommen, da sie das jährliche Mindesteinkommen von 3.900 Euro nicht erreichen: daher die Rede vom Künstler-Prekariat.
Da eine Künstlerexistenz nicht grundsätzlich dem Unternehmertum widerspricht, sind Managementkurse immer häufiger Bestandteil des Kunststudiums, um die Künstlerexistenz auf eine Unternehmerexistenz anzuheben, denn Kunst hat einen Markt.
Der Begriff Brotlose Kunst kann auch provokativ als Name verwendet werden. In Tübingen nennt sich eine offene Bühne „Brot.Lose.Kunst“. Allen, die etwas darbieten möchten, ist ein Podium geboten, auf dem nahezu alles möglich ist: Lyrik und Kabarett, Schauspiel, Musik und Poesie. Qualität und Niveau werden nicht zuvor geprüft, doch der beste Auftritt des Abends erhält einen Preis – das Goldene Baguette. Auch die österreichische Hip-Hop Band Brotlose Kunst, ehemals Waiszbrohd, nutzt Namen und Begriff. Ihre erste CD aus dem Jahr 2000 heißt „Sklaven der Zeit“, wobei Zeit wohl auch durch Markt ersetzt werden könnte. Die Lieder singt die Band im oberösterreichischen Dialekt.
Brotlose Kunst ist dem Markt entzogen und muss sich nicht seinen Gesetzen beugen. Gerade in dieser Freiheit steckt ihr praktisches Potenzial. Auch theoretisch überzeugt der Begriff, denn er definiert Kunst. Er regt an, auch über den Sinn der menschlichen Existenz nachzudenken. Da Menschen nach Wohlbefinden streben, vermeiden sie, wenn möglich, fremdbestimmte Arbeit, wie sie die moderne Arbeitswelt in der Regel bietet. Ein Grund, den Beruf des Künstlers zu ergreifen – selbst unter der Perspektive, davon nicht leben zu können.
Wer den Beruf des brotlosen Künstlers wählt, sucht nach Sinn und einem selbstbestimmten Leben. In dem Verständnis bedeuten Selbstbestimmung, Sinn und Kreativität etwa dasselbe. Wer Kunst in dieser Freiheit betreibt, gewinnt einen Blick hinter die Kulissen der Welt und kann so weit in sich hineingehen, dass er auf seinem individuellen Grund etwas Existenzielles findet. Diese Findung ist ein Aspekt der Einheit aus Individuum und Gesellschaft sowie aus Natur und Kultur und definiert Brotlose Kunst als das freie kreative Schaffen grafischer, klanglicher, gedanklicher, ideeller und skulpturaler Werke, weil sie unabhängig ist von Raum, Zeit und Logik und frei ist von Interventionen der Ökonomie, Moral und Politik.
Erfolglos und verarmt stirbt Vincent van Gogh 1890. Genau hundert Jahre nach seinem Tod erzielt das Porträt den bis dahin höchsten Preis von 82,5 Millionen Dollar, der für ein Gemälde gezahlt wurde. In den letzten beiden Lebensjahren schuf er Werke, die heute einem Preis von über 600 Millionen Dollar entsprechen.
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