aus: Veronike Hinsberg, Felder und Gefilde, Berlin 2010
Wenn ich zeichne, geschieht das stets
zwischen mir und meinem Körper. Zeichnen
ist ein Vermittlungsprozess zwischen mir,
dem zweidimensionalen Raum des
Blattformats und dem, was mich umgibt.
Veronike Hinsberg
1. Physis der Zeichen
Gründe ausloten, Flächen Raum geben, Welträume öffnen und vermessen, Befindlichkeiten in die Welt einräumen und sichtbar machen. Veronike Hinsberg arbeitet sich mit Punkt, Linie und Fläche an die Welt heran. Mit Punkten und Strichen schafft sie auf Flächen Raum und gibt Flächen einen Körper – Papier und Graphit, Pappe und Farbe, Tinte und Holz die Materialien. Anwesend abwesend ist ihr Körper mitgedacht und immer mit im Spiel.
Punkt, Linie, Fläche und Raum sind Formen der Begrenzung. Diesen Grenzen und Rahmen spürt sie nach. Sie ordnet einfache Zeichen wie Strich und Punkt zu Flächen und Räumen. Sie zeichnet, arrangiert und baut. Sie geht den Zeichen nach, indem sie deren Gestalt in Abhängigkeit von der Physik sowie vom eigenen Denken, Körper und Gefühl untersucht und darstellt. Als Urheberin ihrer Kunst ist sie unerlässliches Element ihrer Werke.
2. Fläche und Raum
Welt durchdringt den Menschen. In ihm treffen sich Umwelt und Innenwelt. Ein Bezirk permanenter äußerer Reize und innerer Impulse, der Sauerstoff, Zellen und Blut, Skelett, Muskeln und Organe, Geist und Seele, Verhalten und Handeln zu einer Einheit formt.
Außenwelt ist Raum. Raumwelt. Umwelt. Von außen treffen Reize Augen, Ohren, Nase, Haut und Zunge, reflektieren elektromagnetische Wellen an der Haut oder passieren den Körper und Geräusche durchschallen den Organismus. Umwelt besteht aus Gegenständen, menschlichen Ansiedlungen und Natur, Aggregaten, Menschen und Kultur. Eine Welt scheinbar fest umrissener Gestalten, die den Gesetzen der Natur folgt.
Innenwelt ist Zeit. Zeitwelt. Inwelt. Aus dem Innen nimmt der Mensch Atem, Herzschlag und Schmerzen, die eigene Stimme und Stimmungen wahr. Inwelt sind leibliche und seelische Befindlichkeiten wie Emotionen, Gefühle und Neigungen. Eine scheinbar formlose Welt, die den Gesetzen der Psychologie, der Physis und der Sozialität gehorcht.
Innen- und Außenwelt verbindend steht der Mensch auf einer Fläche – dem Erdboden. Ebene, Feld und Fläche. Der Erdboden ist Grund und Bedingung des Menschen. Die Fläche, auf der er liegt, krabbelt und sitzt, bis er im allmählichen Aufrichten und aufrechten Stehen und Gehen die Schwere bewältigt und in die Welt hinein- und hinaufwächst. Ausgehend von der Fläche baut sich nach und nach der Raum im Menschen auf.
Wenn sich Fußsohle und Erdboden berühren, treffen zwei Flächen aufeinander – Sohle und Boden. Etymologisch gehören zum Begriff Fläche die Begriffe Feld, Flur, Ebene, Plan, Erde, Acker, Sohle, Land, Brache, Grundlage und Boden. Die horizontale Fläche des Erdbodens ist für den Menschen die Grundlage seines Daseins – seines Stehens und Verstehens, seines Handelns und seiner Geborgenheit. Auf der Horizontalen geht er mit sich, mit anderen und mit Objekten um. Die Natur allerdings kennt keine Objekte. Und keinen Raum. Es sind die vom Menschen geschaffenen Gegenstände, Dinge wie Werkzeuge, Häuser, Geschirr und Kleidung, die Raum schaffen. Der Mensch öffnet die geschlossene Oberfläche der Erde, taucht seine Hände in sie ein und zieht sie als Raum aus der Fläche der Erdschicht heraus. Führt sie heraus als Produkte. Darin hat die Fläche ihre raum- und körperschaffende Potenz.
Veronike Hinsberg spürt in ihrer Flächen-Arbeit dieser raum- und körperschaffenden Qualität nach und damit den Grundbedingungen des Menschseins.
3. Dynamische Flächen
Raumvorstellungen entwickeln sich in Lebenszusammenhängen – beim Atmen, im Gewahrwerden der Differenz von Impuls und Handlung, im Hineinwachsen ins Schwerefeld der Erde, im Ausschreiten und im Hausbau.
Der Haupteinatmungsmuskel des Menschen ist eine Muskelfläche – das Zwerchfell. Wenn die Fläche sich senkt, weitet sich der Brustraum und der Atem strömt ein, hebt sich die Muskelfläche, engt sich der Brustkorb und der Atem strömt aus. Als Fläche steuert das Zwerchfell Atemvolumen, Raum.
Der Mensch kann zwischen einem Handlungsimpuls und der Handlungsausführung innehalten und Zeit verstreichen lassen. Er kann Affekte und Impulse zum Zweck der Konzentration auf das Denken blockieren und gewinnt die Möglichkeit, Bedürfnisse aufzuschieben. Damit ist im Menschen eine Instanz geschaffen für Reflexion und Selbstreflexion. Der Spalt zwischen Impuls und Handeln ist gleichermaßen ein Element der Zeit wie des Raumes. Der Spalt entsteht, weil die Nervenbahnen der Großhirnrinde länger als die der älteren Hirnareale sind und Impuls und Handlung räumlich weiter auseinander liegen. Es ist die räumliche Distanz, die Zeit schafft. Im Lateinischen gibt es für spezielle Formen von Zeit und Raum ein Wort – spatium – Zeitraum.
Der Mensch lokalisiert sich unbewusst in einem dreidimensionalen Schwerefeld, wodurch er Raum als Folge der Schwerkraft sowie als Orientierung von Oben und Unten, von Vorne und Hinten und von Links und Rechts erlebt. Die Orientierung entwickelt sich auf einer Fläche, auf der der Mensch handelt und ausschreitet – der Erdoberfläche.
Raum wird dem Menschen erst mit der Sesshaftwerdung bewusst – mit der Erfindung des Hauses. Im Herstellen einer Fläche zum Zweck des Hausbaus. Raum ist im Lebensvollzug kein Behältnis, sondern selbst Tätigkeit, deshalb ist Raum Roden und Einräumen in die Welt. Zuerst muss Fläche eingeräumt sein.
Raum beginnt als Linie auf der gerodeten Fläche. Das Wort für Linie wird dann auf die Begrenzung, den Zaun übertragen, den Zaun um die Fläche. Danach bedeutet der Begriff die eingefasste Fläche, bis die Bedeutung auf den Raum übergeht, dem eingezäunten Lebensbereich. Wie das altiranische Wort Paira daeza für Paradies, das erst Zaunlinie, dann Zaun, später die Fläche innerhalb des Zaunes meint und am Ende den eingezäunten Lebensraum – das Paradies.
Im Haus schneidet der Mensch aus dem Weltganzen ein Stück heraus, in das er sich einräumt. Indem er sesshaft wird, besetzt er ein Flächenstück – ein Stück Erdboden, einen Bezirk, ein Territorium. Begrenzungen des Territoriums sind Zaun und Wand. Gerade in der Begrenzung wird Raum erfahrbar, der sich über einer Fläche erhebt.
Mit dem Hausbau wird Erdboden besetzt und Macht entsteht als Aneignung von Fläche. Die Folgen sind Besitz und Geometrie, da der Mensch die Flächen vermessen will, um den Besitz gegen andere abzugrenzen. Immobilie bedeutet Herrschaft über die unverrückbare Fläche.
4. Raumformen
Raum ist gleichermaßen Illusion, Vorstellung und Realität. Leerer, lebendiger und gefühlter Raum. Denn Wahrnehmung ist ein aktiver Vorgang, in dem die Menschen ihre Welt konstruieren und sich je nach Kultur ihre eigene Vorstellung vom Raum schaffen.
4.1 Der leere Raum – Punkt, Linie und Fläche
Der geometrische Raum ist der leere, neutrale und unendlich ausgedehnte Raum. Er hat sein Wesen in der Eigenart des menschlichen Auges und ist nach Gesetzen der Optik konstruiert. Der von René Descartes (1596-1650) entworfene Raum der Mathematik ist ein Sonderfall von Raum, dem die Vermessung von Punkten, Linien, Flächen, Räumen und einfachen Bewegungen zugrundeliegt. Sein Ursprung ist die Fläche, die bewegt wird.
Die Fläche hat ihre Basis in der Linie, indem Linie neben Linie gesetzt ist. Als Strich ist sie Träger von Ausdruck und Bedeutung. Die Linie trennt, schneidet, entscheidet, spaltet – wie der gezeichnete Strich. Der Strich ist aber – wie die Linie – auch das Sammelnde. Das, was Kraft hat und Sinn gibt. Der Strich versammelt Elemente wie Kurven, Konturen, Flächen, Silhouetten und Streifen zu einem Ganzen. Das mögen Zeichnungen, Gemälde, Installationen, Skulpturen sein.
Die Linie setzt sich aus Punkten zusammen. Den ausdehnungslosen Elementen. Der Punkt ist das Element, das berührt, im Leben wie in der Mathematik. Kurve und Tangente, die Fingerkuppe auf der Haut, der Nadelstich. Der Punkt ist eine Konzentration, die alles in sich fassen kann. Wie die Leibnizsche Monade, ein metaphysischer Punkt – Wesen und Prinzip der Welt. Punkt, Linie und Fläche sind gedachte Elemente. Theoretische Konstrukte, die nur gedacht sein können. Bereits jeder reale Punkt ist ausgedehnt. Der leere Raum hat problematische Grenzen, die den Sinnen unzugänglich sind: das Unendliche, das infinitesimal Kleine und das unendlich Große, die Relationen von Geschwindigkeit und Einheit und von Ruhe und Bewegung.
Der geometrisch-mathematische Raum und physikalische Gesetze sind Bezugssysteme in der Kunst von Veronike Hinsberg. In „100 Punkte“ sind hundert blaulinierte weiße Karteikarten im Format A 6 mit Nadeln an einer roten Wand befestigt. Vom Nadelpunkt der Karten sind rote Linien, die Schwere-Linien, durch den Kartenmittelpunkt bis an den unteren Kartenrand gezeichnet, wo sie sich mit dem Rot der Wand verbinden. Sie verlaufen senkrecht und teilen jede Karte in zwei gleiche und gleichschwere Flächen. Die Schönheit der Arbeit liegt darin, dass die Künstlerin die sachliche, geometrisch-physikalische und statische Hintergrundstruktur durch Farbe, die Position und Lage der Einzelkarten und ihre Gesamtordnung in Bewegung bringt. Die flächigen Elemente kombinieren sich zu Kreisen, Rechtecken und vitalen Linien. Und die durch das von der Künstlerin kalkulierte Wellen und Abheben der Karten von der Wand entstandenen Schatten geben der Arbeit Räumlichkeit und lassen eine reliefartige Raumskulptur entstehen, die der Fläche einen Körper verleiht.
4.2 Dynamische Räume
Räume sind Orte unterschiedlicher Dichte. Lebensräume im Wechsel der Lebenssituationen: In der Angst wird der Raum eng, im Glück entfaltet er sich, in der Depression wird er gedrückt und im Schmerz schrumpft er auf das Maß der schmerzenden Region. Lebensraum ist dynamischer Raum.
Leben besteht in räumlichen Beziehungen und zeitlichen Relationen. Der Mensch ist aber kein Raumding im Raum und kein Zeitding in der Zeit, sondern ein räumlich und zeitlich strukturiertes Wesen, an dem alles zeitlich und räumlich ist.
Die Grundlage dynamischer Räume sind Gegenwärtigkeit und die Schwerkraftsicherheit im Gehen und Stehen, im Sitzen und Lagern. Die Schwerkraft ist konstant und immer nach unten gerichtet. Darauf ist Verlass. Schwerkraftsicherheit ist keine Selbstverständlichkeit, aber sehr wichtig, weil sie für alle anderen Sinneswahrnehmungen das Bezugssystem bildet und alle Beziehungen des menschlichen Lebens bestimmt. Nur so kann die Erde dem Menschen ein sicherer Ort sein.
Der dynamische Raum integriert den geometrischen Raum – den Sehraum. Wie der österreichische Bergsteiger Andy Holzer offenbart, der, von Geburt an blind, sich in der senkrechten Felswand am sichersten fühlt. Er nutzt sein Gehör und sein Gespür beim Klettern und Bergführen. Zur aufrechten Haltung am steilen Fels muss er sich auf seine Fußzehen verlassen.
Die Arbeit „Einbau IV“ in der Ausstellung „Gefilde ebendort“ in der Galerie „Weißer Elefant“ erinnert an Bühne und Laufsteg, an Empore und Tisch, Einrichtungen, um die herum sich Leben abspielt. Die Haltekonstruktion aus Stahl für eine rot gestrichene horizontale Holzfläche verbindet zwei Ausstellungsräume durch einen Türrahmen hindurch. An beiden Enden führt eine dreistufige Treppe seitlich auf den Steg hinauf. Die Stegfläche ist breiter als der Türdurchgang und schließt auf der einen Längsseite mit dem Türrahmen ab, auf der anderen Seite scheint er durch die Wand hindurch zu laufen. Tatsächlich ist die Stegfläche ausgespart, eingesägt, wirkt verengt. Eine horizontale angehobene Fläche kann immer als Tisch gedeutet werden, kulturhistorisch ist sie ein Stück angehobener Erdboden – ein moderner Acker. Deshalb konnte „Einbau IV“ zum Ausstellungsende als Tisch verwendet werden – als Auflage für Speisen und Getränke und als Ort der Geselligkeit. Wie die Fläche zwei Räume verbindet, so trennt sie die an und auf ihm Platzt nehmende Gemeinschaft diesseits und jenseits der Tür. „Einbau IV“ ist eine kommunizierende Fläche, die vielfältige Relationen von Fläche und Raum herstellt. Die Angehobene Fläche sperrt und verbindet, irritiert und stiftet Gemeinschaftssinn. Die Enge und das Trennende der Tür weiten den Lebensraum zum Raum der Befindlichkeit. Zwar findet Kommunikation auf der Fläche statt, aber die Befindlichkeit gibt der Fläche den Körper.
4.3 Der befindliche Raum
Jeder Raum beeinflusst den Menschen und sagt etwas darüber aus, wo sich der Mensch im Raum befindet und wie er sich physisch, geistig und emotional befindet. Befindlichkeit ist das Verbindende von Raum und Zeit, von Raum und Gefühl. Befindlichkeitsräume einen Umwelt und Inwelt, binden das „Wo“ und das „Wie“ in eine Form.
Befindlichkeit ist eine Form der Erkenntnis und Selbsterkenntnis und zeigt an, in welcher Verfassung der Mensch leiblich und mental ist. Befindlichkeitsräume sind unsichtbar und integrieren den geometrischen und den dynamischen Raum. Aber Raum ist weder leer noch dynamisch, noch befindlich. Er ist alles zugleich. Ebenso ist er persönlich, sozial und politisch, wie er Wärmeraum, Geschmacksraum und Geruchsraum ist. Die Grundlage des Raumes ist der Befindlichkeitsraum, der alle Merkmale der menschlichen Existenz berührt. Die unterschiedlichen Raumformen kommunizieren miteinander und lassen sich allein durch das Gespür erschließen.
Alles was der Mensch vermag, ist in seinem Innen als Struktur vorhanden. Das ist sein inneres Design. Bei allem, was er herstellt und zum Ausdruck bringt, ist sein inneres Design aktiv. Das Hergestellte ist eine Übersetzung dieser inneren Instanz. Eine Struktur, kein Abbild. Umgekehrt ließe sich strukturell vom äußeren Produkt auf das innere Design eines Produzenten schließen. Der Mensch hat in sich, was er kann, und er kann nur, was er aktuell in sich trägt.
Im Projekt „Felderforschung“ und in ihren Umraum-Zeichnungen wagt sich Veronike Hinsberg an dieses Vermögen heran. Sie analysiert Flächen, Räume und Felder gemäß ihres Satzes: „Wenn ich zeichne, geschieht das stets zwischen mir und meinem Körper“. Sie unterscheidet zwischen sich – ihrem Ich und Denken – und ihrem Leib. In den Reflexionen und Meditationen ihrer künstlerischen Arbeit zeigt sich ihre künstlerische Eigenart. In „Felderforschung“ sind beidhändig gezeichnete Arbeiten wie Hand II entstanden und filigrane Meisterstücke wie Struktur I und II sowie Holunder II.
In den „Umraum-Zeichnungen“ schneidet sie aus dem Mittelbereich eines Zeichenblattes eine Fläche aus, stellt sich in die entstandene Freifläche, hebt das Blatt in Hüfthöhe und legt es auf arrangierten Tischen ab. Von der fixen Position aus bearbeitet sie das Blatt mit beiden Händen im Umkreis von 360 Grad. Sie ertastet und erspürt das Schema ihrer eigenen Vermögen. Sie setzt Striche auf das Blatt vor, neben und hinter sich, so gut sie ihre Hände zu koordinieren, die Körperdrehung zu vollziehen und ihr Gespür zu aktivieren vermag. Arbeiten, die sich so nah an die Befindlichkeit herantasten, berühren. Der Körper der Künstlerin bleibt auf der Zeichenfläche erhalten – als imaginärer, einmal innerhalb der Fläche anwesend gewesener Körper.
Die so hergestellte Distanz und zugleich vollzogene Einheit von Leib und Werk ist ein unmittelbares Herstellen. Etwas herstellen ist ein von dort nach hier Holen – etwas herholen, herstellen – etwas her stellen, nah heran stellen. Deshalb ist das Dort immer auch ein Hier, als Reiz auf der Netzhaut, als Struktur im Gehirn, als Idee, Gedanke und Konzept des Menschen. In den „Umraum-Zeichnungen“ wird der Fläche auf direkte Weise ein Körper – der Körper der Künstlerin – gegeben, der Raum beansprucht, der mit dem Körper wieder zu entschwinden scheint.
5. Raum und Gespür
Die unterschiedlichen Raumordnungen lassen sich analysieren (geometrischer Raum), erleben (dynamischer Raum) und erspüren (Befindlichkeitsraum). Gespür als besondere Weise der Wahrnehmung vollzieht sich ohne Sprache. Es ist das Ahnen, Vernehmen und Gewahrwerden. Der Mensch kann nach Vernunft und nach Gespür entscheiden und handeln. Im Spüren verbirgt sich ein hoher Grad an rationaler Organisation, da im Gespür das in Jahrmillionen aus Erfahrung gewonnene Wissen und Können der Menschheit bewahrt ist. Umgekehrt spielt bei rationalen Entscheidungen das Gespür eine wesentliche Rolle. Ein gutes Gespür haben bedeutet geistig, leiblich und emotional gegenwärtig sein. Da es sich mehrerer Sinne bedient, ist die Qualität der Sinnesorgane verantwortlich für die Qualität des Gespürs und für die Sicherheit, mit der Menschen sich in der Welt aufhalten.
Da es vieles gibt, dass mit den Sinnen nicht erfasst werden kann – wie Radioaktivität oder das unendlich Kleine und Große – ist neben dem Gespür auch Wissen erforderlich. Ebenso ist es ein Gewinn, sich in der Kunst mit den philosophischen Fragen nach dem Raum und den Naturgesetzen, nach den Vermögen des Menschen und nach den Bedingungen der Schönheit zu fragen, denn das Schöne wirkt befördernd auf Geist und Gefühl, auf Sinne und Verhalten.
6. Ästhetik der Fläche
Der Raum kann dem Menschen bekannt und vertraut sein, da er in ihm selbstverständlich lebt und er in ihm mit Dingen und Werkzeugen, mit Natur und Menschen umgeht, aber erkennen muss er ihn deshalb nicht.
Mit ihrer Ästhetik von Flächen öffnet Veronike Hinsberg Räume zur Erkenntnis. Ihre Beschäftigung mit der Fläche und dem Raum ist eine Auseinandersetzung mit der Existenz des Menschen, der mit den Füßen auf der Oberfläche der Erde steht und sich mit seinem Leib im Raum befindet, mit dem er untrennbar eins ist.
Das raumschaffende Vermögen ihrer ästhetischen Flächen erzeugt Umkehrungen, Übergänge und Umwandlungen – von der Geometrie in die Physik, von der Physik in die Physis, von der Physis in Ideen und Befindlichkeiten. Ihre Arbeiten erzeugen Räume neben, unter und hinter Räumen. Mit ihren Flächen ist sie dem Selbstverständlichen, dem Menschen und seiner Raumhaft auf der Spur. Im Erkennen des Raumes liegt Selbsterkenntnis, die für Veronike Hinsberg über die Ästhetik der Fläche führt.
Fläche gibt es für sie nur als Begrenzung. Als Ausschnitt. Tatsächlich geht jedes Werk – mit oder ohne Rahmen – über seine Grenzen und Ränder hinaus. Das Infeld des Werkes wirkt hinaus ins Umfeld, das als neue Inwelt wiederum ins erweiterte Umfeld wirkt, und so fort. Eine Reihung, eine Iteration von Flächen. Eine breite Linie, die im rechten Winkel auf eine Begrenzung stößt, gibt einen anderen Eindruck, wirkt anders auf das Umfeld und ruft andere Emotionen hervor als eine gekrümmte, zarte Linie.
Nicht zufällig wirkt der Zufall mit an der Ästhetik ihrer Flächen. Etwa wenn sich ein an der Wand gehängtes Zeichenblatt durch Luftfeuchtigkeit wellt, oder wenn sich der untere Rand des Blattes von der Wand abhebt und das flächig angelegte Werk zu einem räumlichen Werk, zu einer Skulptur macht – zu einem Körper.
© Hajo Eickhoff 2010
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