Kriterien des guten Geschmacks
I. Die Natur
1. Der Geschmack der Natur
II. Das Design
4. Der Kern des Design
5. Das gemeinsame Wirken von Produkt und Design
6. Design und Nachhaltigkeit
III. Der Geschmack
7. Geschmack und Geschmacksbildung
IV. Die Methode
9. Kriterien des guten Geschmacks
V. Qualität, Verantwortung, Motivation
12. Motivation und der gute Geschmack des Design
I. Die Natur
1. Der Geschmack der Natur
Welt ist Natur. Ursprünglich. Das Sein von Mineralien, Pflanzen und Tieren. Dinge, Gegenstände, Objekte kennt die Natur nicht. Erst mit dem Menschen betritt aus dem Natur- und Tierreich heraus ein Lebewesen die Welt, das Kultur schafft – einen Entwurf gegen die Natur, eine Gegenwelt der Dinge und des Geistes.
Die Natur kommt zum Menschen durch die Sinnesorgane. Durch Nase und Auge, durch Tastorgan und Schmerzsinn, durch Tiefensensibilität, Ohr und Zunge. Die Elemente der Natur, die potenziell Nahrung sind, werden mit dem Geschmackssinn geprüft – dem Zusammenspiel von Zunge, Gaumen und Nase. Die Prüfung gilt der Verträglichkeit und der Bekömmlichkeit. Nahrung ist verträglich, wenn sie nicht giftig ist, bekömmlich, wenn sie nicht giftig ist und darüber hinaus Energie liefert und Nährstoffe enthält. Einen guten Geschmack hat Nahrung, wenn sie das Geschmacksorgan erfüllt, was von unterschiedlichen Kriterien abhängt, bei denen Tradition, Gewohnheit und die Differenziertheit (Feinheit) des Sinns eine Rolle spielen.
Alles von Menschen Hergestellte ist ein Ding. Keine Natur, sondern umgeformter Naturstoff. Gestaltung. Design. Ding und Design sind untrennbar, von Anbeginn an, denn der Mensch ist ein Wesen der Gestaltung, das seinen Erzeugnissen eine Gestalt gibt und nur geben kann. Kein Ding ohne Design.
Wie die Naturstoffe kommen auch die Dinge zum Menschen durch die Sinnesorgane. Sie sind die Einfallstore für Materialität, Qualität und Design der Dinge.
Ding und Natur werden durch den Geist bearbeitet, der die wahrgenommene Natur und die wahrgenommenen Elemente Materialität, Qualität und Design der Dinge bearbeitet. Er begleitet die Sinneswahrnehmungen nicht nur, sondern gibt ihnen eine den Menschen angemessene Struktur. So wird der Geschmack aus den Komponenten Naturstoff, Ding, Geschmackssinn und Geist erzeugt und als Norm an nachfolgende Generationen weitergeben, so dass jede Kultur und jede Kulturphase eine eigene Welt des Geschmacks erhält, die im Speiseplan und in typischen Dingen ihren Ausdruck findet.
Das macht einerseits deutlich, dass der Geschmackssinn über Leben und Tod entscheiden kann und für das Überleben eine große Bedeutung hat, andererseits wird verständlich, wie der Geschmack zu einem Begriff für alle anderen Sinne und zu einer Metapher für Kultiviertheit und Bildung werden konnte. Seitdem spricht man einem Menschen, der wohltuende Wahrnehmungen wie wohlklingend, wohlanfühlend, wohlriechend, wohlhandelnd und wohlurteilend als ein Wohl erkennen und wahrnehmen kann, guten Geschmack zu.
Die moderne Warenwelt ist eine unermessliche Ansammlung von Objekten. Von Dingen und Design. Unüberschaubar. Chaotisch. Verunsichernd. Geräte und Maschinen, Medien und Werkzeuge, Apparate und Aggregate. Sie finden sich in Schaufenstern, auf Bühnen und in Auslagen und warten darauf, gekauft und verbraucht zu werden. Wie locken und verführen sie die Menschen? Unter welchen sachlichen, geistigen und moralischen Bedingungen gelangen die Massen an Gütern zu den Massen von Menschen? Gibt es Kriterien, Merkmale und Unterscheidungszeichen, nach denen Güter geprüft und ausgewählt werden.
Es ist Aufgabe der Gemeinschaft – der Schule, Eltern und beruflichen Einrichtungen –, jungen Menschen die Fähigkeit zu geben, aus dem immensen Güterangebot das Geeignete auswählen zu können, denn für die Entwicklung des Menschen ist es von grundlegender Bedeutung, mit welchen Dingen er aufwächst – mit Gütern wie Teekannen und Radios, Pinseln und Automobilen, Lampen, Tischen und Ohrringen, Tassen, Kleidern und Zitronenpressen, Füllfederhaltern und Computern, Hemden und Maschinen, Brillen, Schuhen und Handtaschen, Mobiltelefonen und Stühlen, Büchern, Rasierklingen und Hüten. Doch gegenwärtig tragen diese Institutionen wenig zur Ausbildung des guten Geschmacks bei, denn sie schaffen keine Alternativen dazu, dass die Medien die Sinne überfrachten, begrenzen und abstumpfen. Abgestumpfte Sinne führen zur Geschmacklosigkeit und wer nicht schmecken kann, keinen Geschmack hat, gilt als stumpfsinnig.
Von größerer Bedeutung für den Menschen ist, mit welcher Qualität der Objekte des Nutzens und der Lust er aufwächst und mit welchem Design. Die Güter der modernen Welt sind größtenteils Massenprodukte von schlechter Qualität und schlechtem Design – Mittelmäßigkeit, die desorientiert. Die Desorientierung wird dadurch verstärkt, dass viele Güter nicht nur in zahllosen Marken und von derselben Marke in mannigfachen Güteklassen vorkommen, sondern dass sie in einem Tempo weiterentwickelt werden und innerhalb eines Jahres ein halbes Dutzend Varianten nach sich ziehen, dass ein permanenter Innovationsdruck besteht, der die Produkte einem hohen moralischen Verschleiß unterwirft: Sie sind nicht verbraucht und funktionieren noch, werden aber nicht mehr geliebt, weil Marketing und Medien permanent Bedürfnisse nach aktuelleren, moderneren und leistungsfähigeren Erzeugnissen wecken. In der Situation erhebt sich die Frage nach den Kriterien, nach denen Menschen ihre Wahl treffen. Treffen könnten oder sollten, denn gutes Design hat eine grundlegende individuelle, gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung.
Dinge sind grundsätzlich Produkte. Erzeugnisse des Menschen. Sie sind das mit der Hand aus der Erde Hervor-geführte, das Pro-ducere – hervor (pro) und führen (ducere). Mit der Umwandlung der Natur durch die menschliche Hand beginnt die Evolution der Dinge und mit ihr die Evolution des Design. Das der Natur Entnommene, Entführte gehörte einst den kosmischen Mächten und musste sorgsam behandelt werden. Es war dieses sorgfältige Produzieren, das die Dinge in den Rang des Kostbaren erhob. Vom schonenden Umgang mit der Natur leitete sich das Schöne ab, denn die Schönung der Dinge war die Schonung der Natur. Schönheit und Schonung sind noch heute Ausdruck des guten Geschmacks, der die ursprüngliche und Schutz gebende Weise des Menschen war, in der Natur zu sein und mit ihr umzugehen.
Da jedes von Menschenhand erzeugte Produkt immer Gestalt hat und Form, ist es immer auch Design, das so alt wie Ding und Produkt und damit so alt wie die Menschheit ist. Design lässt sich eingliedern in den Willen, den Zwang und die Lust des Menschen zur Gestaltung.
II. Das Design
4. Der Kern des Design
Design ist Produkt und Produkt Design. Nur eine jeweils andere Seite derselben Sache. Es ist das Bemühen, Naturstoff durch Menschenhand Funktion, Qualität und Gestalt zu geben.
Dass Produkte Design sind bedeutet, dass sie durch die Sinne wahrnehmbar und damit in Raum und Zeit gegeben sind, denn alles Raum-Zeitliche hat Gestalt und Ästhetik, worauf das griechische Wort aisthesis hinweist. Ästhetik war zuerst die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung, später die Lehre vom Schönen, in der die Gesetzmäßigkeiten, die Proportionen und die Harmonie der Naturformen sowie die Formen der Dinge und der Kunst erörtert wurden.
Design ist Kultur. Ist das, was der Mensch aus der Natur schöpferisch hervorbringt – Dinge, Formen und Geist – und das, was er der Natur entgegenstellt als Gegenstand, Ding, Gebilde.
Design ist Zeichnung, Plan und Idee. Ein geistiger Entwurf von etwas, das realisiert werden soll.
Design ist gute Form, gute Funktion, gutes Material und guter Umgang mit den im Produkt verwendeten Materialien. Das Gut bezieht sich auf das, was den Menschen durch die Sinne hindurch innen berührt: was das Gefühl positiv stimmt und den Geist anregt. So sind im Design Ethik und Ästhetik, das Gute und das Schöne, Philosophie und Politik, Ökonomie und Ökologie miteinander verknüpft.
Design entsteht als inneres Design. Denn Objekten, Zeichnungen und Entwürfen liegt eine Idee zugrunde. Bevor aber Ideen auf Papier und Bildschirm als Design realisiert werden können, muss Design im Gestalter angelegt sein, so dass Design ein Hin- und Herausstellen ist von etwas aus der Mitte des Menschen – die Idee oder das innere Design des Gestalters.
Design als Prozess ist ein inneres Geschehen. Ein Vorgang des Suchens, Findens, Entwerfens, Verwerfens, neu Findens, Erfindens, Gestaltens und Realisierens. Gestalter müssen deshalb Forscher der Sinne sein, deren Talent in einer feinen Differenzierung der eigenen Sinne beruht. Ihre Begabung und ihr guter Geschmack liegen in der Fähigkeit der offenen und zugleich differenzierten Sinne. Ihr Können liegt darin, dass sie Sinnlichkeit, Verstand und Gefühl in die Schemata der Produktion einführen und die emotionalen mit den rationalen Strukturen verbinden. Das macht den guten Geschmack des Menschen zu einer Lebenshaltung, zu einem Lebensdesign. In dem Sinne ist der gute Geschmack ein Meta-Sinnesorgan, das alle Sinnesarbeit des Menschen und sein Wissen in einem Geschmack, dem guten Geschmack verdichtet.
Mit dem gestalteten Produkt entlässt der Mensch eine sinnliche und geistige Differenziertheit in die Welt, die es bis dahin nicht gab. Als Gestalter passt er die Welt mit Kultur schaffender Phantasie seinen Wahrnehmungsmöglichkeiten an. Design ist die Realisierung dessen, was in der Welt als Möglichkeit steckt und bis dahin verborgen war.
Deshalb ist Design Veränderung. Es verändert die Welt ebenso wie Nutzer und Gestalter, denn indem der Mensch neue Funktionen ausübt und seine Sinnesorgane neue Formen wahrnehmen, wird er vom Design beeindruckt und bleibend verändert – Design ist ein wesentliches Medium der Kulturentwicklung.
5. Das gemeinsame Wirken von Produkt und Design
War das Prinzip, Natur in Dinge und Produkte umzuformen, einmal verstanden, ergaben sich immer feinere Verfahren. Einerseits waren die Produktionsverfahren eine Aneignung der Natur, andererseits ein Prozess der Kultivierung, in dem der Mensch sein Wissen sammelte und seine Produktionsfertigkeit über Jahrtausende differenzierte. Dieses unablässige Umformen und Gestalten von Naturstoff ist Kultivierung, sein Produkt Design.
Im engeren Sinn beginnt die Karriere des Begriffs Design mit der Industriefertigung und dem Versuch, die Formgebung nicht dem Algorithmus einer Maschine zu überlassen, sondern den Produkten durch die Kreativität des Menschen ein eindrucksvolles Erscheinungsbild zu geben, das über die Funktion des Gegenstandes hinausweist.
Im unablässigen Umformen von Naturstoff und Ausdehnen der Dingwelt wird die Natur nach und nach mit Dingen vollgestellt, bis das Ausweiten und Auftürmen von Dinglichem und das ununterbrochene Erzeugen von Design Gesellschaften in hoch differenzierte, technische Welten verwandelt haben, in Dingwelten, die als eine Art Natur angesehen wurden – als zweite Natur. Dieser Jahrtausende währende Kultivierungsprozess hat die modernen Menschen mit verfeinerten Sinnesorganen, einem tiefen Unterscheidungsvermögen und einem enormen Können und Wissen ausgestattet. Eine Aufgabe des Design besteht darin, diese Feinheiten zu erhalten, zu überliefern und Angriffe auf die Differenziertheit der Sinne abzuwenden.
Es war ein Fortschritt, dass mit dem Beruf des Industriedesigners die Gestaltung von der Produkterzeugung getrennt wurde, denn die Produkte erhielten ein besseres Aussehen und eine bessere Qualität. In der Folge wurde deutlich, dass alles Menschengemachte Design ist, so dass sich das Design differenzierte und sich neue Tätigkeitsbereiche ergaben. Neben Industrie- und Produktdesign, Grafik-, Möbel und Modedesign entstand Design für Fotografie und Kommunikation, für Schmuck und Wissen (Darstellbarkeit und Kommunikation von Wissen), etablierten sich Warteschlangendesign und Lebensdesign, Audio-, Körper- und Psychodesign (Wie ein Produkt auf den Nutzer wirkt) sowie Prozess-, Öko- und Webdesign. Mit der Aufwertung hat sich Design im Rahmen der Ästhetik zu einem Begriff geweitet, der das Dingliche und Formale ebenso umfasst wie das Geistige und Virtuelle. Das älteste Design einer Gesellschaft sind Rituale.
Die Kehrseite des unablässigen Kultivierens und Verfeinerns der Sinne bei gleichzeitiger Mechanisierung des Lebens und zunehmender leiblicher Unbeweglichkeit hat den modernen Menschen den natürlichen, guten Geschmack genommen, ihn unsensibel und in seiner Kommunikation unsicher, spröde und zerbrechlich gemacht. Der Prozess hat aber nicht nur den Menschen gebrochen, sondern der Mensch hat auch begonnen, die Natur in großem Ausmaß zu zerstören.
Weitsichtig hat der französische Ingenieur Jean Prouvé gesagt, dass die Gestaltung der Welt das größte Problem unserer Epoche ist und von seiner Lösung unmittelbar das Schicksal der Menschheit abhängt. Das bedeutet, dass die Menschen die Vorteile der Differenzierung des Design nutzen müssen und die Arbeit der Designer gleichzeitig eingebunden werden muss in die Prozesse von Ökologie und Politik, von Moral und Ökonomie. Darin liegt ein Sinn der Ausbildung des guten Geschmacks und des guten Design.
6. Design und Nachhaltigkeit
Immer häufiger entwickeln Menschen Projekte nachhaltigen Produzierens, versuchen, gutes Design hervorzubringen und guten Geschmack zu bilden. Gleichrangig wird neben dem Interesse an guter Gestaltung gefragt, welche Stoffe zur Produktion eines Gutes verarbeitet, welche Verfahren durchgeführt, welche Menge Natur für einen bestimmten Nutzen verbraucht und wie viel Energie für ihn aufgewendet werden. Gefragt wird auch danach, was getan werden muss, um die Gesellschaft so zu gestalten, dass nachfolgende Generationen eine lebenswerte Welt vorfinden. Daraus haben kritische Gesellschaften, Unternehmen und Personen Konsequenzen gezogen und Ideen zur Deproduktion, zur Entschleunigung und zur Nachhaltigkeit entwickelt, und die Wirtschaft motiviert, sich auf nichtstoffliche Produkte wie Dienstleistungen und virtuelle Erzeugnisse, wie Kultursponsoring und Bildung einzulassen – auf ein modifiziertes und differenziertes Gesellschaftsdesign.
Das Feld von Design und Produkt ist gegenwärtig so komplex, dass Serviceleistungen und Informationen über die natürlichen, kulturellen und kommunikativen Merkmale eines Produkts immer häufiger bereits als Eigenschaften des Produkts angesehen werden. Wenn Gestalter des guten Geschmacks mit ihrem Design bei ihren Rezipienten und Nutzern guten Geschmack ausbilden wollen, müssen sie das bedenken und zugleich beachten, dass Design eine Sprache ist, die die Sinne auf das Heute richtet, und Design zu einer Politik und Moral der Dinge werden muss, um auf die gegenwärtige Zeit reagieren zu können. Sprache, auch die Designsprache, muss immer wieder erweitert und neu erlernt werden. Design ist ein kulturelles Phänomen, und wer als Gestalter oder Produzent will, dass Kunden und Nutzer die Sprache der Dinge verstehen, muss Informationen aufbereiten und wirksam kommunizieren.
III. Der Geschmack
7. Geschmack und Geschmacksbildung
Essen und Trinken sind lebensnotwendige Handlungen. Sie sind Nahrung für Physis, Geist und Psyche und notwendig wie das Atmen. Der Geschmackssinn entwickelt sich in Abgrenzungen: Die einst vorsichtig mit Zungenspitze und Nase geprüften Eigenschaften unbekannter Stoffe sind nach dem Grad ihrer Bekömmlichkeit und ihrer Verträglichkeit von wohlschmeckend über geschmacklos bis ungenießbar und giftig geordnet und im kollektiven Gedächtnis einer jeden Kultur bewahrt. Die Vielfalt der Nahrung ergibt sich aus ihren materialen Eigenschaften wie kalt, fest und ölig in der Kombination mit ihrem Geruch.
Auf dieser Sachbasis entwickelt jede Kultur ihren eigenen Speiseplan, den Brauchtum und Sitte zu Ernährungsnormen festigen, so dass das, was einem Eskimo schmeckt, weder Japanern noch Papua, noch Europäern schmecken muss.
Der Mensch lebt im Ungleichgewicht seiner körpereignen Substanzen. Gleichgewicht stellt sich nur vorübergehend, während des Essens ein. Im Ungleichgewicht schüttet der Körper Dynorphine aus, die dem Menschen Hunger und Unwohlsein mitteilen und ihn veranlassen, sich zur Nahrungsbeschaffung in Bewegung zu setzen, im Gleichgewicht schüttet er Endorphine aus – opioide Substanzen –, die Wohlbehagen auslösen. In solchen Körperreaktionen zeigt die Evolution dem Menschen, wie er sich verhalten soll. Wenn er darüber nachdenkt und den Regungen des Körpers folgt, wird er sicher durch die Welt der Nahrung geleitet.
Der Zwang zur Aufnahme von Nahrung führt zu sachlichen Gründen dafür, dass bestimmte Speisen sowie Ess- und Trinkgewohnheiten zeitlos und unabhängig von der Kultur sind. So kennen alle Kulturen den spezifischen Appetit, der sich einstellt, wenn dem Organismus spezifische Stoffe fehlen, etwa salzige Speisen nach Alkoholkonsum. Ebenso lieben die Menschen aller Kulturen das Süße, denn die im Süßen enthaltenen Kohlehydrate liefern rasch Energie und setzen Botenstoffe frei, die ein positives Empfinden hervorrufen. Solche dem Körper zusprechende Substanzen werden als gutschmeckend definiert und empfunden. Appetit auf süße Stoffe stellt sich insbesondere nach körperlicher Anstrengung und in Stresssituationen ein. Umgekehrt sind in allen Kulturen bittere Stoffe ungeliebt, da viele bittere Substanzen giftig sind. Allerdings zeigt sich beim bitteren Geschmack, dass eine differenzierte sinnliche Wahrnehmung durchaus in der Lage ist, eine Nuance Bitterkeit als angenehm zu empfinden. Der treffende Geschmack ist ein sicheres Urteil, das dem Wohlbehagen und der Leistungsfähigkeit, der Gesundheit und dem Überleben dient.
Geschmack ist eine gute Unterscheidungsfähigkeit der Sinne. Er wird durch die Disposition des Einzelnen mit seiner leiblichen Eigenheit, seiner familiären Entwicklung, seiner Bildung und seiner Gruppen- und Kulturzugehörigkeit modifiziert.
Die Bildung des Geschmacks verläuft über die Ausbildung der Sinnesorgane – über Wissen und angemessenes Spüren, über Nachahmung, Wiederholung und die Bekräftigung durch gesellschaftliche Instanzen wie Eltern, Lehrer und öffentliche Medien. In der Nachahmung und Gewohnheit wird der Geschmack gefestigt, geprüft, in Frage gestellt, erneut nachgeahmt, gefestigt und geprüft, bis sich allmählich ein kulturell respektierter Geschmack mit persönlicher Note herausbildet, dem der Mensch mit wachsender Sicherheit folgt. Wer zielstrebig seine Nahrung besorgt, hat Geschmack, der ihn sicher durch das Leben führt.
Schlechter Geschmack ist eine geringe Unterscheidungsfähigkeit der Sinne. Eine Art Vorurteil, ein Urteilen ohne Möglichkeit zur Differenzierung, entweder aus Mangel an Wissen, aus Unlust zur Prüfung oder aus Ideologie, die ein Urteilen behindern. Schlechter Geschmack ist Mangel an Sinnesbildung und Sinnbildung.
In den Begriffen Schlechter Geschmack und Guter Geschmack wird das Metaphorische durch die Physis gestützt. Ein schlechter Geschmack auf der Zunge verursacht Ekel, der einen Würgereflex verursacht, um das Unschmackhafte – das Unverträgliche, Giftige, Übelkeit und Krankheit Verursachende – auszuspucken. Ein in der Evolution dem Überleben dienendes Vermögen. Dem steht ein guter Geschmack entgegen, der die Speichelsekretion anregt und den gesamten Organismus vorbereitet, sich das Schmackhafte einzuverleiben und zu verarbeiten. Guter Geschmack ist eine hohe Unterscheidungsfähigkeit der Sinne.
Die anderen Sinnesorgane sind toleranter. Wären sie es nicht, könnte den Menschen beim Anhören schlechter Musik ein Hör-Abscheu, beim Anblick schlecht gestalteter Dinge eine Seh- Übelkeit oder beim Tasten harter, unerwarteter oder Gefahr suggerierender Dinge ein Tastwiderwille überfallen. Und so wie bei der Bitterkeit gibt es Menschen, die feinste Geschmacksempfindungen unterscheiden können, so dass sie beim Anblick von hässlichen Dingen oder beim Hören von Dissonanzen tatsächlich Ekel empfinden.
Umgekehrt kann manche Hässlichkeit guter Geschmack sein, wenn sie die Sinne ganz erfüllt und den Geist anregt. Das ist eine sachliche Grundlage für guten Geschmack, der deswegen nicht unbedingt etwas mit großbürgerlicher Attitüde und Konvention zu tun hat.
Die Struktur des Geschmacks der Nahrung überträgt der Mensch auf seine eigenen Produkte, die Dinge und andere Kulturerzeugnisse, so dass der Begriff des guten Geschmacks zu einer Norm wurde, an der sich die Menschen einer Kultur orientieren. Von da an waren es auch die von Menschen gemachten Dinge, denen ein guter Geschmack zugeschrieben werden konnte.
Guter Geschmack hat zwei Seiten – Subjekt und Objekt. Das Subjekt, der Mensch kann über guten Geschmack verfügen, weil er Menschen, Situationen oder Dinge treffend bewerten kann. Das Objekt, das Ding kann von gutem Geschmack zeugen, wenn es in ästhetischen, funktionalen und ökologischen Belangen Qualität hat. Dann wiederum ist es gestaltet und hergestellt von Menschen mit gutem Geschmack, die nach dem russischen Dichter Joseph Brodsky nicht leicht zu betrügen sind.
Guter Geschmack ist ein Meta-Organ mit einem Bezug auf gute Qualität und gute Gestaltung sowie auf eine Beziehung zum Ganzen des Seins. Gute Designer verfügen über diesen Sinn. Bedingungen für den Meta-Sinn sind differenzierte und offene Sinnesorgane, die helfen, Güter zielsicher zu erkennen und auszuwählen. Der Meta-Sinn gibt dem Menschen einen hohen Grad an Genussfähigkeit. Das gilt für Sinnesgenüsse ebenso wie für geistige Genüsse.
Guter Geschmack ist ein Vermögen des Menschen, sich so in die Welt einzurichten, dass er in seinem Wesen berührt wird. Der gute Geschmack trägt ihn in eine gehobene Stimmung, hebt ihn über den Alltag hinaus und gibt seinem Leben Würde und Sinn. Guter Geschmack ist Sinnesbildung und Sinnbildung.
Der gute Geschmack ist eng mit dem Paradigma einer Epoche verbunden. Im Kultivierungsprozess wandelt sich auch der Geschmack: was schlechter Geschmack war, kann für kurze Zeit oder für eine nachfolgende Epoche zum guten Geschmack werden, und der einst gute Geschmack kommt aus der Mode. Nur die sachliche Basis überdauert den Wandel der Zeit, so dass es Dinge, Verhaltensformen und Gedanken von bleibendem Geschmack und Wert gibt.
Indem sie ihn auf viele Bereiche des Lebens übertragen, machen die Menschen den guten Geschmack zu einem Begriff für Sensibilität und Bildung, wie er in Stilgefühl, Lebensart, Kennerblick, Benehmen, Schönheitssinn und Fingerspitzengefühl zum Ausdruck kommt. Als Metapher sagt der gute Geschmack etwas über die Kultiviertheit des Menschen aus und zeugt von einer differenzierten, ausgeprägten Sinnlichkeit und Sensibilität im Rahmen einer Kultur. Guter Geschmack ist Appetit auf das Gute. Appetit auf positive Wahrnehmungen und auf zutreffende Urteile, deshalb können Töne und Anblicke, Berührungen und Gerüche gut schmecken.
IV. Die Methode
9. Kriterien des guten Geschmacks
Methoden sind Wege. Nachwege – nach (meta) und Weg (hodos). Erst wenn der Mensch einen Weg ein zweites Mal begeht oder ein Ereignis ein zweites Mal wahrnimmt, kann von einer Methode gesprochen werden. Nachgehen ist das Gehen auf ein Ziel zu, ein kennendes Suchen, angetrieben von Sehnsucht. Wenn der Mensch eine Erinnerung an ein Ereignis hat, kann er es methodisch aufsuchen, um es erneut zu erleben. Methode kann wiederholendes, gewohntes, wiederkehrendes und nachbildendes Gehen sein, aber auch ein variierendes Gehen mit wechselndem Tempo, auf unterschiedlichem Schuhwerk und in verschiedener Gangart. Daher können Methoden auch zu neuen Zielen führen.
Kriterien sind Unterscheidungszeichen, Grenzsteine und Markierungen. Merksteine auf einem methodischen Weg. Merkmale und Eigenschaften, die relevant sind für Entscheidungen. Sie befinden sich an Weggabelungen und führen den Menschen auf einem bereits begangenen Weg zum Ziel.
Kriterien des guten Geschmacks sind angenehme Wahrnehmungen, die im Gedächtnis einer Person oder einer Kultur bewahrt sind. Sie können biologisch, kulturell, gesellschaftlich und persönlich bedingt sein. Da Menschen mit gutem Geschmack diejenigen sind, die immer wieder guten Geschmack entdecken, entwickeln und später auffinden, folgt, dass sie, wenn auch intuitiv, planmäßig, mit Methode vorgehen.
Der gute Geschmack beginnt mit Wahrnehmungen. Mit den Wahrnehmungen, die in der Erinnerung als angenehm gespeichert sind. Im Design mit Erinnerungen an die Ästhetik und die Moral, die Funktion und die Oberfläche eines Objekts.
Der Wahrnehmung folgen Fragen. Fragen nach den äußeren und inneren Merkmalen und dem Kontext. Etwa die Fragen, wie ein Objekt aussieht, wofür es gemacht ist, ob es einen Nutzen hat und ob seine Funktionen gut handhabbar sind. Auch Fragen, ob es innovativ und zeitgemäß ist, oder nur modern.
Ebenso erheben sich Fragen zur Relation von Ding und Design zum Nutzer. Berühren sie die Haut angenehm und passt das Objekt zum Ambiente, in das es integriert werden soll? Findet der Nutzer das Objekt schön oder gefallen ihm nur Form, Proportion und Farbe? Sind die Selbsterklärungsqualität eines Gerätes und die Lesbarkeit seiner typografischen Angaben gut und ist das Gerät beim Gebrauch sicher? Ist es zurückhaltend und leise oder laut und dominant? Dinge, die sofort in Wettbewerb treten mit anderen Gegenständen im Ambiente lassen sich in der Regel schwer einordnen und nicht lange ertragen.
In einem weiteren methodischen Schritt werden Werte ermittelt. Das setzt Information, Wissen und Engagement voraus, denn es handelt sich um Fragen nach der Moral der Dinge. Ist ein Objekt bedeutungsvoll und umweltverträglich hergestellt, lässt es sich nach dem Gebrauch entsorgen und ist in der Herstellung die Würde des Menschen gewahrt? Denn auch Antworten auf solche Fragen sind Teil des Geschmacks, da ein durch Kinderarbeit hergestellter Teppich als guter Geschmack prinzipiell ausscheidet. In gleicher Weise erhebt sich die Frage, woher ein Produkt stammt und wer es produziert hat. Kommt es aus einem Unternehmen mit einer aufrichtigen Unternehmenskultur und sind die Werte des Designers und des Produzenten mit den eigenen Werten vereinbar? Wird das Produkt lange halten und wert sein, eines Tages repariert zu werden, und hat es eine solche Qualität, dass der Nutzer es lange nutzen und achten wird? Wohin geht das Produkt? Wird es, wenn es ausgedient hat, auf der Müllhalde landen oder lässt es sich in den Naturkreislauf zurückführen?
Die einzelnen Wahrnehmungen und Fragen werden dem kundigen Kunden zu einem einzigen Ereignis, das ihn zu einer sicheren Entscheidung führt. Eine Sicherheit des Urteils lässt sich jedoch nicht ohne Anstrengung erwerben. Ohne Disziplin und ohne Methode kann der Mensch keinen guten Geschmack entwickeln, der die Fähigkeit ist, beim Essen und Trinken, beim Sehen, Tasten, Hören und Riechen schmeckend und beim Handhaben der Funktionen erkennend die Qualitäten wahrzunehmen und das Gute vom Schlechten zu scheiden. Einerseits differenzieren und entwickeln sich die Sinne durch ein angenehmes Berührtwerden, andererseits erfolgt das Unterscheidenkönnen vor allem durch Lernen und Üben, durch Erwerb von Wissen und Können sowie durch die Verbesserung der Kommunikation. Also durch Disziplin, denn nicht jedes Wissen und nicht jede Fertigkeit kann spielend erworben werden. Guter Geschmack wird erworben durch Üben wie in der gymnastischen Anstrengung des Balletts, wie in der Weitung der Lungentätigkeit im Ausdauerlauf, wie bei Fingerübungen beim Erlernen eines Musikinstruments und wie beim Lesen und Diskutieren beim Wissenserwerb. In solchen Übungen werden die Sinne herausgefordert, beansprucht und differenziert, was für den Übenden Konzentration, Anstrengung und eine vorübergehende Entsagung bedeutet. Methode
Das ist die andere Seite des guten Geschmacks: Er muss erworben werden. Disziplin ist Anstrengung, Konzentration und Mühe, gerichtet gegen das Bedürfnis, sich spontan auszuleben. So müssen für den guten Geschmack die Sinne gut berührt, aber auch durch Anforderungen angeregt werden.
Guten Tag. Ich habe in ihrer Fensterauslage eine Teekanne gesehen, die mir gefällt. Das gebrochene Grün, der Bogen des Henkels, die Oberfläche, die Gesamtgestalt. Wie ein Klassiker und doch modern. Guten Tag. Aha, ja, die Teekanne. Sagten Sie schön? Nein. Ich möchte mich erst einmal erkundigen, ob ich sie schön finde. Finden Sie eine Sache nicht auf Anhieb schön? Sicher, zuerst muss ich angesprochen werden von einem Objekt. Bevor ich die Dinge schmecke, rieche und betaste müssen die Augen geschmeckt haben. Sonst hätte ich ihr Geschäft ja nicht betreten. Aber danach kenne ich eben nur die visuelle Attraktion eines Objekts und benötige weitere Informationen. Ich urteile nicht nur nach der Ästhetik, sondern frage auch, ob die Funktionen stimmen, die Produzenten bei der Herstellung schonend mit der Natur umgehen und ob die Produkte vom Naturkreislauf wieder aufgenommen werden. Und natürlich, wie es um die Lebensdauer bestellt ist. Um das zu erkennen, brauche ich gelegentlich einen Fachmann, dem ich vertraue. Dazu stehen wir ihnen zur Verfügung. Die Kanne – über die Ästhetik scheinen Sie sich ja im Klaren zu sein – stammt aus der traditionsreichen japanischen Iwachu-Schmiede. Wir kennen die Produzenten persönlich und prüfen ihre Produkte. Um nicht zu sagen: wir kontrollieren sie. Woraus besteht die Kanne? Aus Gusseisen. Von Hand gegossen und nachgeschliffen, innen emailliert. In Japan fehlt die Emaille, da die Japaner den Vorteil der Eisenmineralien für die Ernährung nutzen, die der Rost der Kanne dem Tee beimengt. Die Europäer mögen das nicht – deshalb die Emaille. Gusseisen verteilt die Wärme gleichmäßig und speichert sie lange. Zur Ausstattung der Kanne gehört ein nicht rostender Metallsiebeinsatz. Wie wird das Material gewonnen? Bei der Herstellung der Kanne ist die Natur so schonend wie möglich behandelt. Eisen, Farbe und Emaille sind für die Nahrungsmittelzubereitung bestens geeignet. Darüber erhalten Sie ein Zertifikat, neben einer Anweisung für Gebrauch und Reinigung der Kanne. Und wer prüft die Hersteller der Rohstoffe? Wie wir die Hersteller überprüfen, so überprüfen sie ihre Zulieferer. An der Kanne werden Sie für Jahrzehnte Freude haben. Nicht zu vergessen, dass die Qualität Sie in ihrem Alltag beflügeln wird. Und wenn das Teetrinken noch kein tägliches Ritual für sie ist, machen sie es vielleicht dazu und geben ihrem Tag eine rituelle Mitte. Sind Sie Designfachmann oder Teeexperte? Wenn ich nicht beides wäre, würde ich ihnen keine Teekanne verkaufen. Wie Sie bemerken, haben wir für unsere Kunden einen Gedankenkatalog an Kriterien zur Hand: Kriterien für das Gute und für den guten Geschmack. Sowohl für Tee als auch für das Design. Ein paar Punkte haben wir schon geklärt. Brauchen Sie denn tatsächlich eine Teekanne? Ich habe schon eine. Sie wollen eine zweite, gut. Für wie viele Personen wollen Sie in dieser Kanne Tee zubereiten? Für zwei bis drei. Dafür ist sie eher zu groß. Es scheint, Sie wollen sie gar nicht verkaufen. Doch. Wir haben nur unsere Unternehmensprinzipien. Und wie lauten die? Wir orientieren uns dabei an dem schönen Begriff des Kunden. Vielleicht wissen Sie, was der Begriff ursprünglich bedeutet. Kunde war früher der Bekannte eines Bauern, Handwerkers oder Händlers, bei denen er Informationen einholte zu einem Problem, mit dem er nicht fertig wurde. Und wenn Problemlage und Information zusammenpassten, konnte auch ein Kauf zustande kommen. Der Kauf war also keine vorhergehende Absicht. Der Grundgedanke des Kunden lag in dem von ihm gesuchten Bedürfnis nach Information und Kommunikation – im Austausch von Know-how. Ich hoffe, ich muss Ihre Prinzipien nicht unterschreiben, bevor ich bei Ihnen etwas erwerbe. So streng sind wir nicht, aber wir lassen uns von diesem Prinzip leiten. Es wirkt dem blinden Konsum ein wenig entgegen. Und wir drücken darin unsere Loyalität den Kunden gegenüber aus. Selbstverständlich möchten wir auch den guten Geschmack pflegen. Das sind unsere leitenden Ideen. Möchten Sie sich erst einmal setzen und eine Tasse grünen Tee nehmen? Danke, ja. Zu verstehen, dass ein Gegenstand mit großem Wissen und Können, mit Sorgfalt und Hingabe hergestellt wurde, beflügelt die Menschen, das wissen wir. Dabei erweist sich seine Ästhetik nur als ein Element. Hinzu kommen Geruch und Material, Verarbeitung und Herkunft, auch die Marke – als Garant für Qualität. Ja. Wenn eine Marke keine Maskierung ist, die den Nutzer täuschen soll, wird man nicht enttäuscht. Setzen wir uns an den Teetisch? Gerne. – Sie servieren den Tee in „meiner“ Kanne? Damit Sie sie vor dem Erwerb einmal anfühlen, mit den Händen umschließen können, wenn sie etwas abgekühlt ist. Gießen Sie den Tee doch bitte ein. So prüfen Sie, wie sich die Kanne halten und kippen lässt. Das ist ja neben dem Fassen des Tees eine wichtige Funktion. Und prüfen Sie unbedingt, ob die Kanne beim Ausgießen tropft. Wie Sie sehen, lässt der Deckel beim Einschenken der ersten Tasse keinen Unterdruck im Kannenbauch entstehen, durch den der Tee erst verzögert und dann unter erhöhtem Druck schwallartig aus der Kanne ausfließt. Dafür sorgt das winzige Loch im Deckel der Kanne. Alles in bester Ordnung. Und der Tee schmeckt mir. Ich frage mich, ob er in einer hässlichen, schlecht gearbeiteten Kanne für meinen Geschmack auch ein solches Aroma entwickeln würde. Das ist unfraglich ein ausgezeichneter Tee. Ein Gyokuro, ein Schatten-Tee aus Uji. Einst stand er nur dem Tenno zu. Später den Samurai, dann der bürgerlichen Oberschicht. Noch heute wird er in Japan nur ehrwürdigen Gästen angeboten. Der Tee bildet die Basis, aber man darf das Andere, das Ambiente, die Atmosphäre und die Geräte zur Teebereitung nicht für den Geschmack des Tees unterschätzen. Das Behagen stellt sich erst ein, wenn die angemessenen Dinge beieinander sind und alle Sinne zusammenwirken. Aber guter Geschmack ist doch auch ein Produkt des Geistes. Ja, differenzierte Sinne, Einfühlsamkeit, Wissen und eine geistige Gegenwärtigkeit sind beteiligt an der Ausbildung des Teearomas und seiner Wirkung – wenn also die rechte Menge Tee, die rechte Wassertemperatur, die rechte Zeit, die der Tee zieht und die geistige Aufnahmebereitschaft der Teetrinker zusammenkommen. Darüber wissen Japaner und Chinesen gut Bescheid. Der Chinese Lu Yu zählt vierundzwanzig Dinge auf für das Zubereiten von Tee. Damit die Zeremonie gelingt, sollen sie in einer bestimmten Reihenfolge und in angemessener Weise gehandhabt werden. Man sieht, was man beim Kauf eines Alltagsgegenstandes wie einer Teekanne alles beachten kann. Deshalb brauche ich eben gelegentlich einen Experten. Für die Japaner reflektieren das Teegeschirr und die Art seiner Handhabung eine geistige Haltung. Diese geistige Haltung ist wohl der gute Geschmack. Ja. Und nun sehen Sie, dass auch beim Einschenken der letzten Tasse der Deckel in der Fassung bleibt und nicht in die Tasse fällt. Die Kanne hat ihren Preis – und sicher zu Recht. Sie erzeugt eine wunderbare Aura, entfaltet den Geschmack des Tees und öffnet unsere Sinne – wie die Poesie. Es scheint, dass der Tee in dieser Teekanne die Dinge auf den Punkt bringt.
V. Qualität, Verantwortung und Motivation
Was in der Welt ist, hat ein Wesen. Hat Beschaffenheit, Wert und Eigenart. Das Wesen ist das Was einer Sache, ihre Qualität. Natur hat von sich aus Wert und Kostbarkeit und bildet die Grundlage für die Qualität der Kulturerzeugnisse. Die gute Qualität der Dinge wirkt wohltuend auf den Menschen. Sie steigert seine Lebensqualität und motiviert ihn, indem sie ihn unmittelbar anspricht und die Aufnahmefähigkeit seiner Sinnesorgane steigert und den Geist anregt. Qualität befähigt den Menschen, Nuancen und Schattierungen der Dinge und des Lebens wahrzunehmen.
Qualität hängt von Bedingungen ab. Sie ist weder objektiv noch absolut, denn nicht alle Produkte können und müssen eine gleich gute Qualität haben. Qualität muss sich am Zweck eines Produktes bemessen. Sie hängt aber auch von den Bedingungen und Möglichkeiten einer Region ab – bei Lebensmitteln von der Fruchtbarkeit des Bodens und vom Klima, bei Dingen etwa von der Güte regionaler Bodenschätze und vom Stand der Produktivität. Die Qualität eines Produkts muss im Kontext seiner Zwecke und Möglichkeiten betrachtet werden. Deshalb gehört zur Qualität immer auch eine Angemessenheit, denn sonst wäre sie Eitelkeit, falsch verstandener Luxus und ohne moralischen Sinn. Da gute Qualität aber anregend auf Physis und Psyche wirkt, ist sie immer anzustreben – so gut und so sinnvoll wie möglich.
Qualität lässt sich im Zurückgeworfensein des Menschen auf sich selbst begreifen, denn in existentiellen Momenten geht es um das Wesen des Daseins. Wie bei einer schweren Krankheit. In einer solchen Lebenslage muss der Schwerkranke alles Nebensächliche und Äußerliche abweisen, wenn er die Krankheit überwinden will. Äußerlichkeiten wie Zerstreuung, Ruhm und Konsum erweisen sich als hilflose Mittel. Hilfreicher sind Ruhe und Besinnung auf die aktuelle Verfassung: den Genesungsprozess und den Erhalt des Lebens. Indem sich der Kranke nach innen wendet, sich pflegt, schont und sich auf seine bloße Existenz reduziert, wird er zum Erkennenden, der lernt, das Wichtige der Existenz vom Nebensächlichen zu scheiden.
Bemerkenswert ist, dass sich der Mensch auch im Zustand einer Hochstimmung zurückziehen und seine Lebenskreise beschränken kann. Etwa im Zustand der Liebe. Liebende genügen sich und finden darin – im Wesentlichen – ihren Sinn. Das Leben im geistigen, emotionalen und moralischen Zustand der Liebe ist selbstgenügsam, so dass sich Liebe und Krankheit als elementare Zustände der menschlichen Existenz offenbaren: Pflegen und Bewahren des Lebens in der Krankheit sowie Freude, Fortpflanzung und Kommunikation in der Liebe.
Kranke und Liebende sind Erkennende, weil Liebe und Krankheit auf etwas Wesentliches aufmerksam machen, indem sie den Erkrankten und die Verliebten zwingen oder ihnen nahelegen, aus der eigenen Mitte heraus zu leben. In der Liebe und in der Krankheit erfährt der Mensch, dass zum Wesen des Lebens nicht unbedingt Regeln und Zwänge gehören und nicht Äußerlichkeiten und Gewohnheiten des Alltags, sondern Selbstgenügsamkeit, Besinnung und das Sprechen der Gefühle. Im Rückzug, in der Besinnung und in der Reduktion erschließt sich das Wesen der Existenz.
Das Wesen der Dinge und des Lebens ist Qualität. Sie stammt von den lateinischen Begriffen quale und qualitas ab, die Eigenschaft, Merkmal und Wesen bedeuten. So zeigt sich, dass die Menschen in der Krankheit und in der Liebe durch Besinnung und Reduktion eine Erweiterung ihres Alltagsdaseins erfahren und sensibel werden für das Was, die Qualität und das Wesentliche ihrer Lebenslage und des Lebens. Die Konsequenz daraus sind die Wertschätzung des eigenen Daseins, die Verantwortung für andere und das Engagement für die Natur, für das Ganze. Das Leben aus der Mitte, dem Wesen heraus ist die Hinwendung zu einem nachhaltigen Dasein, weshalb die Angemessenheit eines Objekts und seine sachliche, materiale und gestalterische Qualität auch Objekte des guten Geschmacks sind. Das Mehr an Qualität gibt dem Menschen ein Mehr an Lebensqualität, die Lebensfreude und Motivation bedeutet.
Die Opposition zur Qualität ist Mittelmaß. Es meint nicht mittleres Maß und Ausgewogenheit, sondern fehlendes Engagements, Lieblosigkeit und Indifferenz, in denen das Wesentliche verfehlt wird. Im mittelmäßigen Produkt wird das Wesentliche nicht nur deshalb verfehlt, weil Produzent und Gestalter die Menschen mit schlechten Produkten bedienen, sondern weil sie es unterlassen, durch gute Produkte den guten Geschmack zu bilden, denn Mittelmäßigkeit inspiriert nicht, gibt kein Selbstvertrauen und keine Orientierung – und sie verschafft keine Motivation.
Das gute Design ruft durch eine angemessene Ästhetik, durch überraschende Funktionen und die Güte der Materialien neue Sinneseindrücke hervor, spornt den Menschen an und berührt ihn in seinem Wesen. Eine solche Berührung führt zu einem angenehmen Körpergefühl, zu einem verbindlichen Handeln und stimuliert Denken und Fühlen, so dass das berührende Objekt Selbstvertrauen erzeugt und ein neues Selbstverständnis gibt. Da sich zeigt, dass das gute Design das Vermögen hat, in der unermesslichen Ansammlung von Objekten in der modernen Warenwelt Orientierung zu geben und an der Ausbildung des guten Geschmacks mitzuwirken, wird die Verantwortung deutlich, die im guten Design liegt.
Der Mensch kann es sich nicht leisten, den guten Geschmack auf die Ästhetik eines Objekts zu reduzieren oder ihn als ein individuelles Meinen aufzufassen, denn besonders unter den Bedingungen der Globalisierung gehört zum guten Geschmack eine Sensibilität für das Ganze – für die Natur oder den ganzen Haushalt, aus dem der Mensch hervorging. Das ist die Erde mit ihren vielen Zimmern – den Lebensräumen für Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Erde muss das Gebäude sein, dem sich die Menschen sorgend, hegend und bewahrend widmen. Unter den Bedingungen des globalen Zusammenwirkens von Wirtschaft, Kunst, Sport und Kultur muss das Handeln des Einzelnen in seinem Haus, seinem lokalen Haushalt, mit der Gesamtheit aller Haushalte verbunden sein – mit Region, Kontinent, Erde, Weltall, Oikos, das Haus und Haushalt bedeutet. Deshalb bedeutet seine Verantwortung, in oiologischen Zusammenhängen zu denken und sein Sensorium in dieser Dimension auszurichten. Dazu muss er lernen, sich von der gegenwärtigen Welt als globaler Welt berühren zu lassen.
12. Motivation und der gute Geschmack des Design
Jedem Handeln liegen Absichten, Motive zugrunde. Beweggründe, Gründe für Bewegungen. Motive folgen unmittelbar auf eine innere Berührung und motivieren den Menschen.
Motivation ist eine Bewegung von innen her. Sie bestimmt das Denken, Fühlen, Verhalten und Handeln. Wird der Mensch innen berührt, öffnen sich seine Sinne und er wird positiv gestimmt wie in der Liebe. Berührt wird er, wenn er in seinem Innern angesprochen wird, was sich immer dann ereignet, wenn zwei Wesen aufeinandertreffen. Wenn der Mensch in seinem Innern, seinem Wesen, das seine Qualität ist, von einem Wesen, das die Qualität eines Objekts ist, angesprochen wird, wird er berührt und gerät in Resonanz mit dem Objekt.
Weil in dieser Art des Berührtseins die Möglichkeiten für ein verantwortungsvolles Gestalten und Produzieren liegen, ist es eine Aufgabe von Designern, die Dinge so zu gestalten, dass sich die Gestaltung aus dem Wesen der Aufgabe herleitet, weil dann eine Welt entstehen kann, die die Menschen berührt – und motiviert durch Qualität. Dadurch werden die Menschen angeregt, ihrerseits eine berührende und motivierende Welt einzurichten. In der Weise verbinden sich im guten Design und im guten Geschmack Qualität und Motivation zu einer neuen Form: zur Oikologie der Gestaltung.
Doch Ethik und Wert können sich nur behaupten, wenn sie attraktiv und in der Lage sind, den Menschen zu rühren. Wie der über zweitausend Jahre alte Spruch des chinesischen Weisen Meng Tzu: „Es ist möglich, als großer Mensch zu handeln.“ Ein Sinnspruch, in dem die Werte des guten Handelns und der Würde des Menschen in schönen, klaren und überzeugenden Worten ausgedrückt sind. Die darin enthaltene Ethik gewinnt Attraktion und Schönheit, indem der Spruch Ethik, Politik, Qualität, guten Geschmack und Design in einer Formel verbindet.
Da das Haus der Erde zwar groß, aber nicht unermesslich ist und ihre Energie und ihre Biomasse begrenzt sind, müssen die Menschen mit ihrer Lebensgrundlage, der Erde, angemessen umgehen und sich für eine Lebensweise entscheiden, nach der sie sorgfältig und verantwortungsbewusst – also nachhaltig – mit den Stoffen und den Energieträgern der Erde umgehen.
Damit die Menschen motiviert werden, gut mit den Ressourcen der Natur umzugehen, müssen sie lernen, gut mit den Ressourcen der eigenen Natur umzugehen. Dazu sind Berührungen geeignet, die den Wesenskern des Menschen erreichen. Weniger effektiv sind moralische Appelle, da sie über den Verstand oder negativ durch das Gefühl aufgenommen werden. Wirkungsvoller sind Berührungen, die das Gefühl positiv ansprechen, sie mögen sinnlich, geistig und moralisch sein. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist das keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche, politische und oikologische Aufgabe, in der dem Design eine große Bedeutung zukommt, denn gut funktionierende, gut gestaltete und gut verarbeitete Dinge geben den Menschen Festigkeit und Vertrauen, die wiederum eine Basis für Motivation bilden und den Menschen zu einem verantwortungsvollen Leben inspirieren.
Der gute Geschmack ist die orientierende Kostbarkeit der menschlichen Existenz.
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