Kontakt
555-555-5555
mymail@mailservice.com

aus: Die Kulturgeschichte des Sitzens, Publikation in Vorbereitung




Chorgestühl und Profanstuhl



Das Thronen der Mönche hat seine Vorbilder im Thronen Gottes, in der Kreuzigung Christi und im Thronen der Bischöfe. Veranlasst wird es durch die Ordensregel des Benedikt von Nursia.

  Das Chorgestühl ist eine geweihte Einrichtung. Ein Element des gesegneten Chorraumes. Es erlaubt den Mönchen, die königliche und christliche Haltung des Sitzens einzunehmen. Das zentrale Element des Chorstuhls ist ein Klappsitz, das Gebilde, das den Wechsel unterschiedlicher Leibeshaltungen an einem begrenzten Ort erlaubt.

Der Chor ist bei Homer der Ort, an dem der Reigen getanzt und das Opfer dargebracht wird. Im Mittelalter findet sich dort der Mönchskonvent zum ordensmäßigen Gottesdienst ein. Der Ursprung des Chorraums liegt im östlichen Abschnitt der Kirche. Im Schnittpunkt von Quer- und Längsschiff, der auch Vierung und Chorquadrat heißt. Er ist der Ort, an dem Altar und Chorgestühl zu einer Einheit zusammenwachsen und sich zum Sanktuarium, dem heiligen Bezirk der Kirche entwickeln. Das Gestühl steht erhöht auf einem Podest und bildet in seiner entwickelten Form ein zur Apsis hin offenes Rechteck. Der Chorraum wird östlich von der Apsis, westlich vom Lettner und seitlich durch hohe Chorrückwände, das Dorsale, verschlossen, so dass der Chorraum hermetisch gegen den übrigen Kirchenraum abgeschlossen ist.

Das Chorgestühl hat sich innerhalb von drei Jahrhunderten entwickelt. Seine Entstehung ist unbekannt. Im 9. Jahrhundert stehen noch Bänke in der Vierung, doch zum Ende des 12. Jahrhunderts ist das Chorgestühl fertig ausgebildet und die Vierung zum Chorquadrat geworden. Eines der frühesten Zeugnisse erinnert an Bänke mit nachträglicher Unterteilung in Einzelsitze. Die ältesten vollständig erhaltenen Gestühle stammen aus Portier und Xanten aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. In derselben Zeit zeichnet Villard de Honnecourt detailreich Chorstühle in sein Skizzenbuch, die alle Charakteristika späterer Gestühle aufweisen.

Das Chorgestühl ist eine architektonische Konstruktion nebeneinander gestellter Einzelsitze, die konstruktiv zu einer Gestalt zusammengeschlossen sind. Bei kleineren Chorgestühlen sind die Einzelsitze in einer Reihe um das offene Chorrechteck angeordnet, also hufeisenförmig, während die größeren Gestühle über mehrere Reihen verfügen. Die Einzelsitze sind durch hochgezogene Holzzwischenwangen voneinander getrennt, damit die Mönche nicht miteinander sprechen und sich auf ihre Aufgabe im Chor konzentrieren.

Der Klappsitz bildet den Kern des Chorstuhls. Ist er herunterklappt, kann der Mönch sitzen, ist er hochgeklappt, kann der Mönch stehen und knien. Aber auch ein Stehsitzen kann praktiziert werden, eine Haltung zwischen Sitzen und Stehen, wenn er sich auf der verbreiterten Vorderkante des Klappsitzes – der Miserikordie, dem Sitz des Erbarmen – niederlässt. Eine fünfte Haltung ermöglichen neben Stehen, Knien, Sitzen und Stehsitzen die Schulterringe oder Accoudoirs, Auflageflächen für die Arme, durch die sich Mönche im Stehen hängen lassen können. 

Die Accoudoirs sind zugleich ein Element des Gesamtgestühls und verlaufen von Sitz zu Sitz und schließen statisch und ästhetisch die Einzelsitze zusammen. In mehrreihigen Gestühlen dienen die Einzelsitze den Sitzen der jeweils nachfolgenden Reihe als Buchauflage. Insofern haben die Mönche dem repräsentativen Thronen des Königs und des Bischofs den Tisch hinzugefügt, der in der Kombination mit dem Klappsitz zum Vorbild für die Einrichtungen aller Bildungsstätten des Abendlandes wird: die Schule und ihre Bänke, die Universitäten und ihr Hörsaalgestühl, die Theater, Opernhäuser und Kinos und ihr Besuchergestühl.

Das Chorgestühl ist ein Werkzeug zur Stützung des Leibes und ein Instrument zur Ritualisierung des Klosterleben. Zugleich rhythmisiert es den Mönchsleib, da an diesem isolierten und abgesonderten Aufenthaltsort Leib und Seele dem Rhythmus wechselnder Körperhal­tungen und konzentrier­ten Singens, Lesens und Zuhörens unterworfen werden, der Atem und Muskel formt und die Mönche sediert und zur Spi­ri­tu­a­li­sie­rung führt.

Das Chorgestühl nimmt den sitzenden Mönch in eine Zwangsapparatur auf, die ihm von außen Bedingungen auferlegt und ihn kultiviert. Um Prozesse der Disziplinierung in Gang zu setzen, sind partielle Stillstellungen des Leibes erforderlich. Da solche Begrenzungen nicht wieder auf ein entsprechendes Wollen, das erst erzeugt werden soll, rekurrieren kann, scheint es sinnvoll, die Zurückhaltung durch Apparaturen zu erzeugen, die den Leib unmerklich manipulieren. Denn die vitalen Bedürfnisse des Leibes versuchen, jede Begrenzung abzuwehren. Je weniger die Begrenzungen durch Moral und Verbot erzwungen werden, desto besser können Leib und Seele der Mönche die Formung annehmen. Ein solches Mittel ist das Sitzen im Chorstuhl. Der passiv erscheinende Sitz nimmt die Formung vor und arbeitet spielend die lebendigen Impulse um in eine Kontrollstruktur und sediert unmerklich Leib und Seele, bis sich Demut, Gehorsam und ein befriedetes Wollen einstellen und den Mönch auf ein hohes Kulturniveau heben. Die Übungen und Exerzitien der Mönche im Chorstuhl dienen der Vergeistigung und der Bildung, aber auch der Kontrolle. Diese Formung wird Überwindung des Leibes genannt und stellt die besondere Kulturformung der Sedierung dar.

Da die Mönche nur während der Lesungen sitzen, bleibt die Zeit, in der sie stehen, sehr lang, so dass deutlich wird, dass das Sitzen nicht dem körperlichen Komfort dient, denn eine Ent­las­tung der Beine während des ausgedehnten Psalmsingens würde lediglich das Stehsitzen auf der Miserikordie ermöglichen.

Das Chorgestühl gestaltet die individuelle Hinwendung des Mönchs zu Gott in eine kollektive um. Benedikt weiß um die Individualität des Menschen und sucht nach einer allgemeinen Leibeszucht für das Klosterleben, um einer großen Zahl von Mönchen die Askese des Klosterlebens annehmbar zu machen. Dazu muss jede extrem erscheinende Zucht vermieden werden. Den Mönch durch Arbeit und Seelsorge an eine weltliche Gemeinde zu binden, bereichert seine Sozialität und seine Gefühle. Dadurch entsteht in ihm eine differenzierte innere Landschaft, die er kontrollieren können muss. Denn nicht das bloße Abtöten von Impulsen in der strengen Zucht führt zur rechten Gesinnung, sondern das Erleben vielfältiger Bedürfnisse, die dann zu beherrschen sind, bilden den Prüfstein benediktinischer Religiosität. Die wahre Gesinnung zeigt sich erst in der Versuchung. Der innere Kampf zwischen Versuchung und Widerstehen gilt als ungleich wertvoller als die kampflose Ruhe des nie in Versuchung Geratenen. Die Tugenden, mit denen die innere Landschaft eingehegt wird, heißen Gehorsam, Armut und Keuschheit. Nicht die Wüste, sondern die gehegte Oase ist das treffende Bild für die innere Landschaft benediktinischer Mönche. Als äußere Objekte sind Chorstühle Werkzeuge zur Herstellung der inneren Struktur des Benediktinermönchs, der die Umwandlung des Menschen in den Homo sapiens sedens vorbereitet.

Von der urchristlichen Gemeinde ausgehend verfolgt das Christentum zwei unterschiedliche Wege: das religiöse Leben der Kleriker und ihrer Gemeinde, die sich an der Kirchenordnung ausrichten, und die berufsmäßige Form religiöser Existenz der Mönche, die sich an der Ordensregel orientiert. Beide Formen übergreift das Papsttum. Doch im Spätmittelalter zerbricht die Einheit in die beiden Glaubensbekenntnisse des Katholizismus und des Protestantismus.

Bereits die ersten Asketen und Einsiedler bilden eine Opposition gegen die offizielle Kirche. Sie begeben sich in die Einsiedelei, um in sich zur Ruhe zu kommen, sich innerlich zu setzen. In den Oppositionen der verschiedenen Jahrhunderte gegen die Kirche zeigt sich, dass Formen des Protestantismus so alt sind wie das Christentum selbst und dass sie bereits in sich Merkmale des Bürgerlichen tragen, denn die Motive für die benediktinische Askese liegen in der Bindung des Mönchs an eine weltliche Gemeinde, um den Klöstern Öffnungen zur Welt zu verschaffen. Die Benediktinerregel ist Ausdruck der Sehnsucht nach einer solchen Bindung, in der das Verbindende zwischen Welt und Kloster der Stuhl, der Chorstuhl ist. Doch auch die Welt geht auf das Kloster zu. Protestanten sind keine unfrommen Christen, sondern ersehnen – wie die Mönche – ein christliches Dasein, das strenger und reiner sein sollte als das, das ihnen die institutionalisierte Kirche bot. Sie wollten tiefer in den Glauben hineingehen. Daraus hat sich eine strenge, rationale Form des Lebens entwickelt, zu denen das Bilderverbot in der Kirche gehört, ebenso die Mäßigung des Genusses und der Umstand, dass die Sünden in der Beichte nicht abgegolten werden können.

In der Reformation erobern die Protestanten Kirche und Chor. Sie reißen die Chorwände ein, plündern oder verbrennen das Chorgestühl und fordern Gemeindebänke. Ihre Forderung nach Bestuhlung der Kirchen heißt, dass sie sich am Heiligen ausrichten wollen und dass sie sitzen wollen, wie die Mönche, und das Sitzrecht fordern. Die katholische Kirche stellt diese Forderung erst hundertfünfzig Jahre später und in südlichen Ländern Europas sind viele Kirchen bis heute unbestuhlt, da irrtümlich angenommen wird, Sitzen sei eine Verweichlichung.

Karl der Große hat alle Klöster seines Reiches zu Benediktinerklöstern gemacht. Das zeigt, wie wichtig das Bedürfnis nach einer Ordnung war, der sich viele unterordnen können. Dabei gibt das Sitzens dem Ablauf des Gottesdienstes eine ästhetische Note und der Rhythmus des Gottesdienstes nimmt die Form eines Ritus an. Die Askese scheint gemildert, ist tatsächlich aber eine starke Formung des Mönchsleibes. Die Benediktinerregel arbeitet auf eine Gesinnung hin, die für das Abendland charakteristisch wird.

Die Benediktinerklöster bilden sich rasch zu Zentren der landwirtschaftlichen Versorgung und der Gastlichkeit, dienen als Forschungsstätten und Schulen, werden als Etappenstationen der militärischen Verteidigung in Anspruch genommen und wachsen zu mächtigen politischen Institutionen heran. Sie nehmen in ihrer wissenschaftlichen und rationalen Form des Arbeitens die kapitalistische Produktionsform vorweg. Standortbestimmung, Klima, Geographie und Bodenqualität sind Kriterien für die Wahl eines Klosterplatzes. Hinzu kommt der Verzicht auf Konsum und Luxus zugunsten von Investitionen.[i] Klöster sind oft wohlhabende Institutionen und Äbte genießen in der Zeit oft mehr Ansehen als Bischöfe und Fürsten. Mit den gewachsenen Aufgaben und dem gesteigerten Ansehen wird die Klosterkirche zum Modell für alle anderen Gotteshäuser und das Klosterleben zum Vorbild unzähliger Lebensbereiche. 

So tauchte die frühchristliche Basilika, die eine Gemeindekirche war, in gewandelter Form und mit neuem Auftrag im Norden Europas als Klosterkirche auf, um den Mönchen im Chorstuhl eine geistige und leibliche Formung zu erteilen, damit sie der Gesellschaft Impulse geben konnten, die ihre Verbürgerlichung forciert.

Aus dem Chorgestühl entwickelt sich der bürgerliche Stuhl. Zunächst wird ein nicht geweihter Sitz innerhalb des Kirchenraumes für Könige, Fürsten und Funktionsträger der bürgerlichen Oberschicht entwickelt – ein Profanthron.

Die ersten Profanthrone entstehen um etwa 1350 innerhalb der Kirche. Sie stehen entlang der Seitenwände des Längsschiffes und ähneln in Gestalt und Aufbau dem Chorstuhl. Sie haben keinen Klappsitz und sind in der Ausführung bescheidener. Zuerst sind es Mitglieder der landesherrlichen Familien, die sich setzen. Ihnen folgen Patronatsherren, die regierenden Herren der Rathäuser. Später sind es die Seefahrergilden der reichen Hansestädte und zuletzt die Handwerkerzünfte, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts ihren Vorstehern Profanthrone in der Kirche aufstellen lassen. Ihre Besitzer unterscheiden sich zweifach: von den Mönchen dadurch, dass ihre Sitze außerhalb des geweihten Chorraumes stehen, und von der übrigen Gemeinde dadurch, dass sie überhaupt einen Sitz haben.

Mit dem Ansammeln unterschiedlichen Gestühls im Kirchenin­nenraum hat sich das Sitzen im Verlauf der Jahrhunderte so ausgeweitet, dass nur noch der geeignete Anlass fehlt, den geweihten Ort von innen her aufzubrechen, den Stuhl heraus zu stoßen und für den Bereich außerhalb der Kirche annehmbar zu machen.

Im Rahmen des Christentums ist die Geschichte des Gestühls die Geschichte des Niedergangs eines geweihten Objekts: die Sella curulis Christi, die Kathedra des Bischofs, die niederen Bänke der Kleriker, die Chorsitze der Mönche und die Profanthrone der Patronatsherren sowie der Stellvertreter der Gilden und Handwerkerzünfte. Den nicht vorstehenden Bürgern der Oberschicht dienen die Profanthrone ihrer Vorsteher als Vorbild und Ansporn, einmal das Stuhlrecht zu erwerben. Der Profanthron ist das Vorbild für den bürgerlichen Stuhl.

 


© Hajo Eickhoff 2014





Share by:
google-site-verification: googleb24ea1bbee374379.html