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aus: Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München Wien 1993


Die Lebenssäule

 Kreuzbein, Becken, Wirbelsäule

 



Begreiflich wird die Funktion des Sitzens, wenn die Evolution des Lebens aus dem Wasser und die Entwicklung des Menschen im Zeitraffer betrachtet werden: Schwimmen, Kriechen, allmähliches Aufrichten, Überwinden der Schwere des Kopfes, der Masse des Leibs, Aufrichten des Rumpfes und Strecken von Hüfte und Knie. Das Becken dreht sich in dem Prozess nach hinten mit der Folge, dass der Rumpf sich allmählich aufrichtet und beim stehenden Menschen endet. Der Aufrichtung des Rumpfes um 90 Grad entspricht eine Rotation des Beckens um nur 45 Grad. Das ist sehr interessant, denn wenn sich der Stehende dann setzt, dreht sich das Becken weiter nach hinten und erlangt im Sitzen eine nahezu vertikale Position. Wenn wir also die Aufrichtung der Lebewesen an der Rotation des Kreuzbeins bemessen würden, nicht am Rumpf, erwiese sich das Stuhlsitzen als Fortsetzung der Rumpfaufrichtung. Als Weiterentwicklung der Evolution der Wirbeltiere nicht mit den Mitteln von Natur und Evolution, sondern mit den Mitteln von Freiheit, Bewusstheit und Intelligenz – also Kultur.


Fische liegen, Reptilien kriechen, spätere Arten heben sich allmählich vom Boden ab. Maus, Affe und Nilpferd hinter sich lassend, steht endlich mit durchgedrücktem Knie und gestreckter Hüfte der aufrechte Mensch. Das Sitzen ist bereits ein Nach-hinten-Kippen: der Weg vom Bauch über das Stehen auf den Rücken. Das Tier berührt in der Regel mit der Front den Boden. Der Sitzende hat Bodenkontakt vor allem mit seiner Rückseite: Gesäß, Beinhinterseite, Rücken. Im Sitzen gleicht der Mensch einem Käfer, der auf den Rücken zu fallen droht.

 

Das höchste Maß an Sedierung erfährt das Fleisch im Gebein oder Knochen. Der Stuhl ist eine Ablagerung des Fleisches, die sowohl auf die Formung der Knochen zurückwirkt als auch die Sklerotisierung des Fleisches und dessen Umwandlung in Gebein forciert. Deshalb erweist sich das Sitzen als eine Bonsequenz der mit der Aufrichtung derLebewesen verbundenen allmählichen Drehung des Beckens nach hinten und stellt das Bild des fallenden und sklerotisierenden Menschen dar. Dem Druck der Entwicklung muß der Mensch folgen und setzt sich.

 

Das Sitzen ist die jüngste und gewagteste Formung eines organischen Leibes, die das Tierreich hervorgebracht hat. Es baut auf der menschlichen Art des Stehens auf und muß als Endprodukt angesehen werden, das keiner Entwicklung mehr fähig ist.

 

Es ist die äußere Gestalt einer inneren Haltung, die ihre Formung auch im Rahmen anatomischer Prozesse erhält. Im Blick der Anatomie besteht das Charakteristikum des Sitzens in der zweifachen Abknickung des Leibs und der direkten Übertragung der Rumpflast über das Becken auf die Unterlage. Eine solche Position hat nirgends in der Natur ein Vorbild. Im Sitzen werden die charakteristischen Merkmale des Stehens wie die Lendenlordose und die gestreckten Hüft- und Kniegelenke wieder aufgegeben.

 

Das Stehen ist keine Position, die, einmal eingenommen, über längere Zeit beibehalten werden kann, sondern ein immer neu zu erwerbender und aktiv zu haltender gefährdeter Gleichgewichtszustand zwischen Gravitation und Standhalten sowie zwischen Leib und Welt. Es bedarf eines inneren Wollens - als die Behauptung, Kopf, Rumpf und Seele oben zu halten.

 

Die Lordosierung von Hals und Lende sowie die Abknickung zwischen Kreuzbein und Wirbelsäule (Promontorium) bilden Voraussetzungen für das Stehen über längere Zeit. Die Halslordose ermöglicht das Kopfheben und Balancieren des Kopfes, die Lendenlordose die Stellungsänderung von Rumpf und Hüfte. Das vollkommene Aufrichten setzt das Promontorium voraus, so daß es zum Kennzeichen der menschlichen Wirbelsäule und zum Attribut des aufrechten Ganges wird. Während beim Menschenaffen die Aufrichtung nur bei gebeugten Knie- und Hüftgelenken erfolgt, zeigt allein der Mensch das Merkmal der Streckung in den Knien bei aufgerichtetem Rumpf: »Die Lordose ist der früheste Aufrichtungsversuch in der phylogenetischen Entwicklung zum Stand.« Der Promontoriumswinkel bildet den Übergang von der im Tierreich üblichen Kyphose der Lende zur Lordose.Ausnahmen im Tierreich bilden Giraffe und Känguruh. Beide verfügen wie der Mensch über die zweifache S-Form der Wirbelsäule. Im Stehen nimmt das Känguruh anatomisch dieselbe Haltung ein wie der sitzende Mensch, mit dem Unterschied, daß ihm neben den Füßen nicht die Sitzbeinhöcker, sondern die kräftige Schwanzwirbelsäule als dritter Unterstützungspunkt dient.

 

Da der Rumpfschwerpunkt oberhalb der beweglichen Hüftgelenke liegt, ist Stehen eine labile Haltung und bedarf ständiger Muskelarbeit. Die Arbeit läßt sich vermindern, indem man die Stützfläche des Körpers vergrößert: Stemmen der Arme in die Hüften, Verschränkung der Arme vor der Brust, Abstützen mit Hilfe eines Stockes, Anlehnen gegen eine Wand, Hocken, Kauern, oder – das Sitzen auf Stühlen. In all diesen Fällen sucht der Ermüdete zusätzlich Halt im unterstützenden Gebrauch seiner Körperglieder oder in einem Gelenk außerhalb des Leibs. Die Labilität des Stehens bildet eine der Voraussetzungen für das Sitzen.

 

Daß man sich keinen sitzenden Fisch vorstellen kann, liegt daran, daß ihm die Beckenregion fehlt, die erst bei landbewohnenden Wirbeltieren ausgebildet ist.

 

Seitliche Fortsätze der Wirbelsäule zeigen sich bei den höheren Fischen als schwach ausgebildete Querverbindung zwischen den Bauchflossen. Bei den Amphibien sind Beckengürtel und Wirbelsäule bereits mit einer knöchernen Brücke beweglich verbunden, aber erst bei den Reptilien wird die Brücke fest mit den Wirbelkörpern verankert. In dem Maß, in dem sich die Lebewesen vom Wasser fortentwickeln, wachsen die zur Fortbewegung wichtigen hinteren Extremitäten und weiten die Verbindung zwischen Quer- und Längsachse flächenmäßig aus, um die größeren Kräfte übertragen zu können. Den Schlussstein bildet das Kreuzbein. Bei allen Wirbeltieren, einschließlich der Menschenaffen, ist das Kreuzbein flach und geht ohne Promontorium in die Lendenwirbelsäule über. Das gelegentliche Aufrichten der Tiere erfolgt lediglich als Stellungsänderung des Rumpfes ohne wesentliche Beugung der Wirbelsäule in der Lende.

 

Der Abschnitt, in dem das Becken mit der Wirbelsäule zusammengeschlossen wird, ist die regio sacralis, die Region des Heiligen am und im Menschen. Die Geschichte des modernen Stuhls ist die Geschichte der Bemühung, Stühle zu entwickeln, die über Eingriffe in diesen heiligen Bezirk – Kreuzbein (os sacrum) und Lendenregion (regio sacralis) das vollkommene Sitzen ermöglichen: aufrecht und unbeweglich.

 

Die Bedeutung des Kreuzbeins für das menschliche Stehen und Sitzen kommt sowohl im Wort Kreuz als auch in der aus dem Griechischen ins Lateinische und von dort ins Deutsche übernommenen Obersetzung als das Heilige zum Ausdruck. Daß die Römer das griechische Beiwort iros (heilig und geräumig) für Kreuzbein irrtümlich mit Heiliges übersetzt. Ist selbst ein Irrtum. Der Knochen wird im Zusammenhang mit Tieropfern heilig, er gilt den Ägyptern als Sitz der Virilität des Osiris, und seine in unterschiedlicher Hinsicht differenzierenden Qualitäten zeichnen ihn als ein Organ mit ungewöhnlichen Eigenschaften aus.

 

Neben dein Sakrum ist das Hüftgelenk das zweite Kernstück des Beckens. Es ist das statische und lokomotorische Übertragungsmittel der Kräfte vom Rumpf auf die Beine. Unterhalb des Gelenks ähnelt sich bei den Säugetieren die Beckenform. Dagegen gestaltet sich der obere Abschnitt, das Darmbein (os ilium), im Verlauf der phylogenetischen Entwicklung um. Es liegt beim Vierfüßler eng der seitlichen Bauchwand an, um schildförmig die Eingeweide zu umschließen, während es diese beim Zweifüßler, dem Menschen, mitträgt. Im weiteren Prozeß dreht sich das Darmbein auf das Sitzbein zu und dreht dabei das Sakrum nach rückwärts. Das Kreuzbein ist nicht mehr knöchern, sondern elastisch ins Becken eingebunden. Diese Art der Integration macht aus dem Becken des Menschen einen geschlossenen Kreis, der große Kräfte zu übertragen erlaubt und eine Voraussetzung zum aufrechten Stehen erfüllt. In dem Kräftekreis wirken Kreuzbein, Becken und Wirbelsäule direkt auf einander, so daß Bewegungen des Beckens unmittelbar die Lage des Kreuzbeins bestimmen, die wiederum auf Form und Lage der Wirbelsäule einwirkt.

 

Die Doppel-S-Form der Wirbelsäule und das gekrümmte Sakrum sind nicht von Geburt an vorhanden. In den ersten Lebenswochen zeigt die Wirbelsäule eine im ganzen kyphotisch gekrümmte Form und bleibt in den ersten Monaten ein gerader Stab, der sich in mehreren Entwicklungsphasen zur späteren Form ausprägt. Im dritten Monat knickt das Kreuzbein allmählich zum Promonto­rium ab. Der erste Sakralwirbel weist bei Neugeborenen dieselbe gewebliche Struktur wie die Wirbelsäule auf, so daß er eher der Lendenwirbelsäule als dem Kreuzbein, in das er im. Laufe der Entwicklung einbezogen wird, anzugehören scheint. Insgesamt erweist sich die kindliche Wirbelsäule als ein sensibles, im Wachstum begriffenes und deshalb von außen stark formbares Organ. Während die Verknöcherung der fünf Kreuzbeinwirbel vom 16. bis zum dreißigsten Lebensjahr dauert, unterliegt das Kreuzbein einer Krümmung, die im zehnten Jahr beginnt – bis dahin ist es flach wie das des Anthropoiden – und etwa mit dem vierzigsten endet. Die noch nicht gefestigten Strukturen von Kreuzbein, Becken und Wirbelsäule machen das frühe Setzen des Kindes problematisch. So legt sich der Stuhl auf das Wachstum und wirkt formend auf organische und verknöchernde Prozesse und Knochen ein.

 

Die Sitzbeinhöcker genannten Vorsprünge des Sitzbeins bilden die knöcher­nde Basis für das Sitzen. Sie können diese Funktion ausüben, da das Becken beim Setzen das Sitzbein aus seiner Schrägstellung, die es im Stehen einnimmt, in eine vertikale Position zur Unterlage dreht Dabei werden die Hüfstrecker (ischiocrurale Muskeln) so gespannt, daß sie das Becken nach hinten drehen.

 

Der wesentliche Mechanismus des Sitzens ist verborgen, da der Beugung der Oberschenkel um neunzig Grad beim Setzen keine gleich große Bewegung des Beckens in den Hüftgelenken entspricht. Er besteht darin, daß beim Wechsel vom Stehen zum Sitzen die ischiocrurale Muskulatur Becken und Kreuzbein um etwa vierzig Grad nach hinten dreht und die Bewegung auf die Wirbelsäule überträgt.

 

Der stehende Mensch ist das Lebewesen mit dem am weitesten nach hinten gedrehten Becken und dem am steilsten gestellten Kreuzbein. Aber erst wenn man sich setzt, dreht sich das Kreuzbein weiter nach hinten, bis es eine nahezu vertikale Position einnimmt. Bemisst man den Aufrichtungsprozeß der Lebewesen an der Stellung des Sakrums, nicht am Rumpf, erweist sich die Drehung des Sakrums als das die Wirbeltiere aufrichtende Prinzip. Damit gelangt die Entwicklung zum aufrechten Stand zwar phylogenetisch, nicht aber kulturell an ein Ende. So läßt sich das Sitzen voll seinem inneren Mechanismus her als Fortsetzung der Aufrichtung deuten.

 

Die Künstlichkeit in der weitergetriebenen Aufrichtung zeigt sich darin, daß Sitzen immer nur einen schlechten Kompromiß zwischen anatomischer Wirbelsäulenform und entspannter Skelettmuskulatur darstellt. Beide sind miteinander nicht kombinierbar. Die „Wirbelsäule ist mit ihren ... Krümmungen so gestaltet, daß ihre einzelnen Bauelemente beim stehenden Menschen gleichmäßig belastet werden. Im Sitzen ändert sich die gleichmäßige Belastung gravierend. Druckerhöhungen der Bandscheiben auf der Bauchseite (ventral), die mit zunehmender Kyphosierung der Lendenwirbelsäule ansteigen, führen zu unterschiedlich schweren Beeinträchtigungen. Da im Sitzen die Rückenstrecker „ohne weiteres in der totalkyphotischen Haltung entspannt werden“ können, die „günstige Wirbelsäulenhaltung mit aufgerichtetem Becken“ dagegen enormer Muskelarbeit bedarf, ist „das Maß der Muskelentspannung kein Indiz für eine günstige Sitzhaltung“. So kommt es darauf an, eine von der Druckverteilung her günstige Wirbelsäulenform mit der Entspannung der Rückenstreckmuskulatur zu kombinieren, je nach Belastung lassen sich zwei Sitzhaltungen unterscheiden. Die Ruhehaltung und das Aufrechtsitzen.

 

Ruhehaltung nennt man eine Sitzposition, in der die Rückenmuskeln relativ entspannt sind. In ihr setzt die Rückenmuskulatur dem Drehen des Beckens keinen widerstand entgegen. In dieser Position dreht sich das Becken extrem nach hinten, und der Rumpfschwerpunkt kann weit nach vorne über die Hüftgelenke hinaus verlagert werden. Bis zu den Schultern gibt die Beckenneigung der Wirbelsäule eine durchgängig kvphotische Form. Der Belastung der Muskulatur wegen müßte man die Ruhehaltung dem aufrechten Sitzen vorziehen. Allerdings werden Wirbelsäule und Bandscheiben extrem beansprucht.

 

Das Sitzen in aufrechter Position bildet äußerlich ein von der Ruhehaltung völlig verschiedenes Erscheinungsbild, unterscheidet sich aber nach der Form der Lendenwirbelsäule nicht wesentlich, weil man im aufrechten Sitzen keine Lordose ausbilden und die aufrechte Position nur für eine sehr kurze Zeit beibehalten kann, da die Muskelarbeit so anwächst, daß man in die übliche Sitzkyphose zurückfällt. Die Konstellation von Hüfte und Rumpfführt in der aufrechten Sitzposition zu einer günstigen Form der Wirbelsäule. Deshalb wäre die aufrechte Haltung vorzuziehen. Allerdings fordert sie zu große Muskelarbeit.

 

Immer erscheint das Sitzen in seiner äußeren Gestalt als Ruheposition, erweist sich aber nach seiner inneren Verfassung als Schwerarbeit und Unruhe.

 

Während das Niedersetzen stereotyp verläuft, nimmt das Aufstehen im maß des Bewegungsverlaufs, im Umfang, mit dem man den Rumpf vorbeugt, oder in der Art, wie und ob man die Hände zu Hilfe nimmt, individuelle Züge an. Man hat Vermutet, daß dafür der größere Kraftaufwand beim Aufstehen verantwortlich sei. Und tatsächlich zeigt eine Fußwaage beim Aufstehen für einen Moment ein weit über dem Körpergewicht liegendes Maß an. Es handelt sich sowohl um eine mit dem Sitzen verbundene Charakteristik als auch um falsche Gewohnheiten beim Aufstehen. Moshe Feldenkrais hat auf das Fehlverhalten beim Aufstehen aus einem Sitz aufmerksam gemacht: Man ziehe die Nackenmuskulatur zusammen, um mittels einer kräftigen Bewegung des Kopfes aufzustehen, der das ganze Gewicht des Rumpfes“ mit sich zieht. Er studiert das Sitzen, um den Menschen mit dem Stuhl auszusöhnen. Würden wir uns nach Feldenkrais korrekt vom Sitz erheben, zeigte eine Waage beim Aufstehen eine kontinuierliche, biszum Gesamtgewicht ansteigende Zunahme an. Das gewichtigere Aufstehen verstärkt die im Sitzen liegende Neigung zum Bleiben.

 

Im Dilemma von Ruhehaltung und Aufrechtsitzen, von Aufstehen und Sitzenbleiben verharrt der Sitzende und macht das Sitzen zu einer widersprüchlichen inneren und äußeren Haltung. Aber daß der Mensch für das Sitzen anatomisch schlecht ausgerüstet ist und doch sitzen will, mag ein Hinweis auf die Angst davor sein, das Stehen auf zwei Beinen könnte ihn zu sehr an die Entwicklungskette von Schwimmen, Kriechen, Auf-allen-vieren-Gehen und Aufrichten erinnern. Im Sitzen will der Mensch seine Position jenseits dieser Entwicklung zum Ausdruck bringen und sich aus der Kette der Lebewesen ausgliedern.

 

 

© Hajo Eickhoff 1993

 





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