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aus Kristin Westphal/ Ulrike Stadler-Altmann/ Susanne Schittler/ Wiebke Lohfeld (Hrsg.), Räume Kultureller Bildung. Nationale und transnationale Perspektiven, Weinheim 2014.

 

 

HALTUNG UND BEWEGUNG

Die untergründige Gestaltung des Körpers in der Bildung

 

 

 

Schule und Familie

 

Familie und Schule entwickeln sich parallel zum Fortgang der Gesellschaft. Auf das, was eine Gesellschaft an Können, Wissen und Verhalten für Rituale und Gebräuche, für Spiel und Arbeit benötigt, müssen Familie und Schule vorbereiten. Während die Familie die Bindungsfähigkeit des Menschen ausbildet und in die Bräuche und Sitten einführt, übernimmt die Schule mit System und Methode den Erwerb von Wissen und Können, pflegt aber auch die in der Familie begonnene Vermittlung der kulturellen Eigenart der Gesellschaft.

 

Wenn Erwachsene eigenständig sind, Regeln, Werte und Kulturtechniken angenommen haben und sich am Erhalt und an der Weiterentwicklung der Gesellschaft beteiligen, gilt Bildung als gelungenen.

 

Veränderungen in der Gesellschaft wirken verzögert auf Familie und Schule zurück. In sich rasch entwickelnden Gesellschaften muss die Schule deshalb Lernziele, Lehrpläne und didaktische Modelle beständig überdenken und reformieren.

 

 

Grundinnovation

 

In Zeiten, in denen Gemeinschaften grundlegende Neuerungen einführen, werden Gewohnheiten und Formen des Denkens, Fühlens und Verhaltens radikal umgeformt. In der abendländischen Kulturentwicklung sind fünf Grundinnovationen auszumachen, die der Kultur eine grundlegend neue Richtung gegeben und neue Kulturformen erzwungen haben: Haus, Stadt, Schule, Stuhl und Netz sowie deren Kulturformen Domestikation (domus, Haus), Zivilisation (civitas, Stadt), Disziplinierung (discipulus, Schüler), Sedierung (sedile, Stuhl) und Nodierung (nodus, Knoten). Die moderne Welt ist eine domestizierte, zivilisierte, disziplinierte, sedierte und nodierte Welt, die den modernen Menschen geprägt hat und bis heute die Basis jeder Bildung ist.

 

 

Haus, Stadt, Schule, Stuhl und Netz

 

Einst ist der Mensch Wanderer. Jäger und Sammler, der weite Gebiete durchstreift, bis das Bemerkenswerte geschieht: Er hält an, bleibt an einem Ort, erfindet das Haus und beschreitet einen neuen Weg seiner Existenz, mit der alles am Menschen anders wird: Muskulatur, Atmung, Gefühl, Denken und Verhalten. Er schneidet einen Raum aus dem Kosmos heraus und schafft ein eigenes Werk, das ihn zum Schöpfer macht. Im Haus – dem Laboratorium neuer Lebensformen – üben sich die Bewohner in Intimität, Selbstkontrolle und im Aufschieben von Bedürfnissen. Sie müssen die Stärke ihrer Beine und die Weite ihrer Lungen reduzieren und für kleine, differenzierte Bewegungen des Getreideanbaus, der Werkzeugherstellung und der Tierzucht umarbeiten. Ohne zu jagen und zu sammeln gibt der Acker Getreide und Früchte und das Tier wird in die Falle hineingeboren.

 

Die Stadt als ummauertes Territorium ist ein Werk der Hand von Handwerkern und Händlern, die neben Jägern und Sammlern sowie Ackerbauern eine neue Interessensgruppe bilden, die Gebrauchsgüter und Werkzeuge erzeugt und tauscht.

 

Mit der Differenzierung städtischen Lebens entsteht im antiken Griechenland eine Bildungsinstitution mit einem Erziehungsvorhaben: der Disziplinierung. Eine Schule, die theoretischen Unterricht mit Sport verbindet, um Körper und Geist in Balance zu bringen: das Gymnasion. Schüler, in lateinischer Sprache discipulus, sind diejenigen, die fassen (capere) und durch das Trennen (dis) methodisch fassen, also geistig begreifen.

 

Das Sitzen auf Stühlen, abgeschaut vom Thronen des Königs, ist das Ruhen in einer zweifach-rechtwinkligen Abknickung des Körpers auf einer unterschenkelhohen Ebene. Eine Erfindung Europas um 1500. Da Sitzen früh erlernt werden muss, wird es in der um 1800 etablierten allgemeinbildenden Schule praktiziert. Es schwächt die Skelettmuskeln, reduziert das Atmen und führt in einen Kreislauf von Atemreduktion und Muskelverfestigung, die einen geringen Energieumsatz und eine begrenzte Beweglichkeit erzeugt und hilft, Gefühle zu kontrollieren und Reizbezirke, die Lernprozesse stören, abzuschirmen. Bis sich die Fähigkeit einstellt, abstrakte, logische Operationen durchzuführen. Der Preis ist ein brüchiger Leib.

 

Netze sind Ordnungen des Lebens, der Kommunikation und des Verkehrs. Häuser und Städte haben Wegenetze entstehen lassen, bis die Römer ihr weites Reich mit einem rechtwinkligen Straßennetz überzogen haben, das heute die ganze Erde bedeckt. Flugzeuge lassen Luftfahrtnetze und Mobiltelefon, Computer und Internet Datennetze entstehen, Werkzeuge, die die materiellen Netze um technologische Netze erweitern: GPS macht alle Orte, das Internet ein enormes Wissen zugänglich, die elektronische Post vernetzt potenziell jeden mit jedem.

 

 

Gegenwart und Bildungsreform

 

Diese fünf Grundinnovationen durchdringen einander und sind der verdeckte Hintergrund abendländischer Bildung. Immer noch ist der Mensch genetisch Jäger und Sammler, doch er sollte sich am gegenwärtigen Paradigma der westlichen Welterklärung Netzwerk orientieren, denn die Schule muss verstehen, dass das Bedürfnis, verbunden zu sein und im Netz zu kommunizieren, heute Vorrang vor Disziplin, Autorität und Konkurrenz hat. Zugehörigkeit schafft Wohlbefinden und fördert das Lernen, Disziplin kann es behindern. Gegenwärtige Erziehung braucht ein Lernumfeld, das Vertrauen schafft und Schüler motiviert, ihr Potenzial zu erkennen und auszuschöpfen. Reformen sind nie endgültig und finden auf verschiedenen Ebenen statt: Am Körper, in der Interaktion und in der Auswahl des Wissens, das vermittelt werden soll. Vorschläge dazu sind zahlreich: Haltungswechsel im Unterricht, Einübung in Gewaltfreie Kommunikation, Einrichtung von Aufmerksamkeitstagen, Thematisierung persönlicher Lebensthemen, Sport, Tanz und Meditation.

 

Das zappelige Kind – einst der Zappelphilipp, heute das ADHS-Kind – teilt uns mit, dass es keine Disziplin wie im klassischen Unterricht mag. Das hyperaktive Kind ist Kind seiner Zeit und wenn es das machen darf, wofür es sich interessiert, kann es auch im Lernen erfolgreich sein und die erforderliche Konzentration aufbringen, um in Facebook zu posten oder eigene Bilder und Videos ins Internet zu stellen. Wer mit dem Stuhl kippelt, folgt den Impulsen des Körpers, da es die Lende entlastet, wer dagegen ruhig auf dem Stuhl verharrt, wird bald den Rumpf nicht mehr organisch auf den Füßen, Knien und Hüftgelenken aufbauen können und Beweglichkeit und eine gute aufrechte Haltung einbüßen. Deshalb wird immer häufiger im Unterricht ein Wechsel der Körperhaltungen zwischen Gehen und Stehen, Hocken, Knien und Lagern erprobt.

 

Um Konflikte zwischen Menschen zu mildern, hat Marshall B. Rosenberg die Methode der Gewaltfreien Kommunikation entwickelt, die auch in der Schule angewendet werden kann. Um in Konfliktsituationen gewaltfrei zu kommunizieren, muss man sich sowohl in den Konfliktpartner als auch in sich selbst einfühlen, um dann die jeweiligen Interessen transparent zu machen, in die eigene Verantwortung zu nehmen und gemeinsam Handlungsalterativen zu entwickeln (Rosenberg 2013, Vgl. S. 22-26).

 

Wenn auf dem Screen des Smartphones die SMS mit dem Daumen geschrieben und der Tablet-Screen mit den Fingern touchiert wird, geht es um schnelle Entscheidungen und das gleichzeitige Meistern mehrerer Aufgaben, was andere Neuronen als das Lesen von Büchern und das Schreiben in Heften aktiviert. Deshalb nehmen junge Menschen heute anders wahr und begreifen anders als die Generationen zuvor (Serres 2013, Vgl. S. 13ff). Entlang dieser Veränderungen ist Bildung zu reformieren.

 

Bewegung fördert das Denken und körperliche Betätigung die nachhaltige Speicherung neuer Informationen, da Lerninhalte zuverlässiger eingelagert werden, wenn sie verkörpert sind. Bewegung wie im Sport, beim Tanz oder wie beim Tai Chi ist erforderlich, da langes Sitzen den kindlichen Bewegungsdrang hemmt. Tanzen arbeitet konstruktiv an der Entwicklung der Fußsohlen sowie an der Beweglichkeit und Kräftigung von Muskel und Atem, indem die Fußsohle den gesamten Organismus aktiviert. Ebenso wie Meditation baut es Stress und Angst ab, stärkt das Immunsystem und erzeugt Wohlbefinden.

 

Die Privatschule Summerhill – 1921 von A.S. Neill gegründet – ist die erste Schule, in der Schüler und Lehrer den Schulbetrieb demokratisch regeln. Sie wird heute ohne Unterrichtszwang von neunzig Schülern besucht, die gemeinsam mit Lehrern die Gebote kontrollieren. Wer Regeln verletzt, kann mit Reinigungsarbeiten und Gartenpflege bestraft werden. Strafe kann auch paradox als Tag der Aufmerksamkeit verordnet werden, an dem ein Regelbrecher liebevoll behandelt wird und man aufmerksam nach seinen Bedürfnissen fragt (Stephens 1997, Vgl. S. 24f). Ein Prinzip, das auch in den Anden praktiziert wird – auch bei Tötungsdelikten. Stammesmitglieder hocken in einem Kreis und fragen selbstkritisch den Täter: „Was haben wir zu deiner Tat beigetragen?“ Diese Art Toleranz und Mitgefühl schafft Friedfertigkeit. Im Zusammenwachsen der Kulturen der Welt wird erkennbar, dass alle Menschen einer Menschheit angehören. Soll es Kooperation und freie Kommunikation zwischen ihnen geben, muss die Schule dies zuerst praktizieren.

 

Deshalb müssen Schulen, Akademien und Universitäten Laboratorien des Wissens, der Bewegung und der Selbstfindung werden, in denen Schüler entdecken, welche Talente sie haben und was ihnen Freude macht. Sie bedürfen auch der Möglichkeit, damit zu arbeiten, indem sie in der Schule Themen ihrer Wahl behandeln, da es zu Wohlbefinden, Motivation und Kooperationsbereitschaft führt und sie so zu Experten der eigenen sowie der gemeinschaftlichen Sache macht.

 

 

 

Literatur

 

Rosenberg, M. B. (2013): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Paderborn: Junfermann.

 

Serres, M. (2013): Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin: Suhrkamp.

 

Stephens, D. (1997): Summerhill. Eine libertäre Schule in England. Die Erfahrungen eines Lehrers. In: P. H. Ludwig (Hrsg.), Summerhill. Antiautoritäre Pädagogik heute. Ist die freie Erziehung tatsächlich gescheitert? (S. 22-33). Weinheim/ Basel: Beltz.

                                                                                                           

 

 

© Hajo Eickhoff 2014

 

 



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